Einführung
Ist der „Unfug des Sterbens“ überwunden, der „Unfug des Lebens“, sein zweiter Teil, hebt da erst an.
Denn mag der Tod seinen Stachel verloren haben – der Alltag hat ihn noch. Die gedehnte Zeile der kleinsten Dinge, von Horizont zu Horizont des Daseins stehend, ihn verdeckend oft und oft verdüsternd, fasst dieses Buch. Es ist das Buch der Banalitäten. Nichts wird hier erwähnt, das mächtiger als ein Kragenknopf, ein Stiefelholz und, wenn es hoch kommt, eine Doppelleiter: Helden und Felde dieser Mär!
Prentice Mulford, ein paradiesischer Amerikaner (er meint wirklich nicht nur Geld, wenn er Glück sagt), erbaut sich im Jersey-Sumpf bei New York mit eigenen Händen sein Haus. Bauherr seines Lebens; Geschöpf, das Schöpfer wird, da es bewusst den zweiten Leib, den Wohnleib sich erschafft. Aus diesem Bau wird in seiner Art ein kleines psychisches Rockefeller-Institut, nur weit sympathischer – bleibt Prentice Mulford doch sein einziges Versuchswesen.
Beim Legen des Fußbodens oder im Garten, verstrickt in eine Balgerei mit einer lieben, aber jähzornigen Eiche, strebt er, den winzigen Verseuchern der Lebensfreude in ihrer Urform beizukommen. Die psychischen Bakterien des Unbehagens, den Erreger der Ungeduld zu isolieren… eine Versuchsstation für das einzellige Ärgernis.
Geschärftem Blick tut diese kleinste Welt sich auf, die unsere große durch und durch verpestet.
Um Pfade der Heilung zu finden, infiziert der Sucher sich selbst der Reihe nach mit allen Reinkulturen der Alltäglichkeit: Im Ordnen, Einpacken, Ankleiden, Straßenbahnfahren, Rasieren spürt er Quellen sinnloser Mühsal nach oder kleiner, noch unerwachter Lust.
Einer, der Schicksale gehabt hat und sich nicht mehr quälen lassen will. Einer, der nicht mehr leiden will an diesen Dingen, die das Dasein sind zu neunhundertneunundneunzig Teilen von tausend, und alles ringsum leiden sieht in falscher Scham, zuchtlos und ohne Hilfe. Ihm aber eignet die freieste der Weisheiten: scheuelose Banalität, … führt sie nur zum Heil.
In den Tropen geschieht es nicht selten, dass Betten, Sofas, ganze Häuser, will man sie benützen, auf einmal weg sind – dematerialisiert -, zerfallen bei der ersten Berührung. In Wirklichkeit marschierten diese Betten, Sofas, Häuser längst davon in kleinsten Raubwesen, den Termiten. Übrig blieb in dünner Oberschicht eine Scheinfassade der Dinge. Der weißen Menschheit Leben ist vielfach die große Linie solcher Scheinfassade – Phantom auf Fernsicht gestellt – in Wahrheit Fraß den wimmelnden Nichtsen. Zerkaut, verschlungen, vernichtet von dem, was Prentice Mulford den „Mob der Seele“ nennt.
H. G. Wells in seiner „Zeitmaschine“ lässt als Folge der Tunnelbauten des Untergrundwesens eine späte Menschheit sich in zwei Arten spalten: „Eloi“, die Oberirdischen, auch Oberflächlichen, degenerieren zu schönen, spielenden Halbwesen: Edelcretins; „Morlocks“: die Unterirdischen, auch Untermenschlichen, zu zahllosen fahlen Tierzwergen – die halten das Triebwerk der Tiefe in ihren Affenhänden. Die „Eloi“ dienen den „Morlocks“ als Futter; davon zu sprechen aber gilt für taktlos – direkt unfein ist es. Aufgefressen werden deklassiert nicht – wird es nur, der Etikette entsprechend, ignoriert. Prentice Mulford hat mindere „Eloi“ manieren. Der wehrt sich und schreit. Will kein Besessener sein, nicht von „Morlocks“, Dämonen, Heilanden oder Hemdknöpfen.
Ein „Knigge“ zum Umgang mit Dingen. Die quälen uns nur so, weil wir sie schlecht behandeln, „werden unerträglich wie verrittene Pferde oder verwahrloste Kinder“. Nichts ist „böse“, doch vieles „erbost“. Warum dies ängstliche Abschließen der Menschen voneinander in ihrem Alltagstun? – Weil sie ein schlechtes Gewissen haben, hässlich dabei zu sein! Es gibt aber eine gemeine und eine erleuchtete Art, mit seinem Waschlappen umzugehen; Adel und Rasse hat nur, wer auch noch höflich bleibt im Verkehr mit einem kleineren Gebrauchsgegenstand, und so viel mehr ist ja auch der Mensch dem Menschen meistens nicht. „Die Dinge nicht trivial tun – dann hören sie von selber auf, trivial zu sein“; sind doch solche Unwesen „innen“ und „außen“ zugleich. Materiell mögen sie sich als rabiate Schnürriemen inkarnieren; diese aber sind nur Phantom, Schatten eines rabiaten Partikelchens am Gemüt.
Darum auf Zucht halten in der Menagerie des Selbstbewusstseins. Etwas von der Märchenweise erneut sich da, mit Bräuchen und Art elementare Geistchen in Leben und Haus zu bannen, doch fehlt hier die silbrige Feuchte großer Waldblätter – moosig Verwurzeltes und frostverkrampfte Kraft. Mehr Sport und „go“: kleine Griffe, Vorteile, ein djiu-djitsu im Ringen mit dem Engel arbeitet dieser handfeste Erlöser aus.
Solche, noch befremdliche Geistesweise steht auf aus einem neuen, materiellen Fundament. Es ist aus Eisenbeton, ermöglicht Fugenlosigkeit und Größe, die Adelung unserer Zeit, wo sie am besten ist in ihrem Streben nach dem Einfachen und restlos Reinen. Erst in dem folgenden Geschlecht wird das ganz offensichtig werden, noch heute viel verdeckt durch Allzulanglebigkeit des Halbvergangenen. Endlich beginnen wir auch von uns selbst die Präzision und Herrlichkeit unserer Maschinen, der wundervollen Stahlwesen über den Wassern und zwischen den Wolken, zu verlangen, durch sie wachsen die Anforderungen an die eigene Konstruktion: Eugenetik. Schon Helmholtz meinte: Würde sich ein Optiker beifallen lassen, ihm ein so fehlervolles Instrument wie das menschliche Auge zu liefern – voll Entrüstung schickte er es ihm zurück.
Ein Wandel in religiösen Symbolen auch, wenn man will. In einer „Ethik des Technischen“ wird nicht Jesaias, sondern der Vacuumcleanser zum Propheten. Die Asepsis greift auf das Gemüt über, duldet auch dort keine Schmutzwinkel, auf dass nicht Lebensfäule sich ansetze. Die menschliche Monade hat ja nach Leibniz keine Fenster – leider, um so mehr tut Reinlichkeit im Innern not zum Schutz vor Selbstverseuchung, denn es gibt auch psychische Autotoxine. Auf erneute Art ist das antik: die heidnische Frömmigkeit, das Harmonische über alles zu stellen. Auf dass unser Leben sich aufbaue wie ein junger Leib mit allen Vollkommenheiten der Oberfläche.
An der Versuchsstation im New Jersey-Sumpf ist es ein Seuchenherd besonders, ein ganz verruchter, dem Mulford nachgespürt, und eine Brut von Unbehagen schwärmt da auf; wie Mücken aus Malariatümpeln kommt uns Plage angeflogen aus dem großen Warenhaus der kultivierten Welt.
Jene Schwärme von Sachen, die jeder hat und keiner braucht, erstanden unter der Suggestion des Kurzwarenmagiers, keinem Bedürfnis entsprungen als dem des Verkäufers und das Leben belastend, ohne es zu bereichern. Wie dem Eindrang der Dinge zu wehren, wie der Kommis zu bändigen, auf dass nicht Wohn- und Lebensraum ein Massenquartier für obdachlosen Zierunrat werde, lehrt der Befreier. Impfung gegen Kaufwut! Ist nicht schon manchem Jünger Mulfords in seinem Streben nach Unsterblichkeit im Fleische der Nachtmahr aufgestiegen, lebenskräftig hieße auch: kaufkräftig bleiben, verfolgt werden von den Erfüllungen passagerer Wünsche, die anhaften wie der Dämon dem Rücken Sindbads?
Ein Ding erlangen, das allein ist nichts, und wäre es noch so köstlich; es zur rechten Zeit erlangen, alles; und sehr wichtig, dass es auch wieder weggehe. Nur die bestimmte Stelle, an der sie in der Zeit steht, wertet eine Erfüllung, macht sie wert.
Die Kultur Europas, der weißen Rasse besteht darin, immer reichlich zu spenden, was man gerade nicht braucht, und Werte, sind solche vorhanden, wenigstens in ihrer Einordnung zu vertauschen, ist ihr Leidenschaft. Jugend reicht sie Interessen der Reife vorweg, von der Reife fordert sie Jugendspannkraft und zwingt ihr doch zugleich schon Sitten der Dekrepität auf. In ihren babylonischen Kurzwarentempeln streut der Kommis als Abundantia das Füllhorn des Kinkerlitz über die Welt. Tritt das suchende Menschenwesen ein, zitternd vor Inbrunst nach dem Einen, danach die Seele schreit – ihm wird Antwort: „Oh bitte, – das führen wir nicht,… aber wollen Sie nicht lieber statt dessen… unsere Schnarcherbinde „Erlkönig“… den neuen Spezialschrank für Schmutzwäsche „Helena“… „Elektra“, das Enthaarungsmittel!“
Unter luminösen Fontänen, beim Tango in Goldhöhlen aus Byzanz lässt sie etwa unholde Ware vom Schwein begehrenswert erscheinen. Bildungskaufzwang. „Ausgefahrene geistige Geleise“ geleiten hin zu jedem Schund, und über dem ganzen Gewölbe stehe: voi ch’entrate, lasviate ogni speranza, zu finden, was ihr sucht; beladen aber mit allem, was ihr nie gewollt, werdet ihr herauskommen, und die Fakturen liegen bei.
Ein perverser Wahlspruch für die Eintagsfliege: „Zeit spielt keine Rolle“, und doch gilt er zu Recht. Das einzige Mittel, Zeit zu haben, ist: sich Zeit zu nehmen. Doch niemals etwas tun, das auch ein anderer für uns tun kann; alle Kräfte sparen für das, was wir allein nur tun können, doch dieses eine rastlos schmieden mit den kleinen Hämmern: jetzt, jetzt, jetzt – unbekümmert um die zahllosen, pochenden Werke, so sie Einlass begehren in die gleiche Frist.
Denn auf zweierlei Art ist Prentice Mulford irreverstanden worden an seinem Wort, „dass alles, was wir wirklich wollen, stark und unverrückbar einstens unser ist“.
Da meinten manche, es genüge, wie Zuschauer dem Film der eigenen verwegenen Biographie gegenüber zu sitzen… wie dann berückende Abenteuer kommen, einem aus der Hand zu fressen, und dass schon die „geballte Faust der Attitüde“ ein Diurnistendasein colleonisch silhouettiert. Andere wieder – und ihrer sind die meisten – treten in ihrer Sehnsucht ewigem Sturmlaufe nach dem Kommenden die Gegenwart in den Staub. Auch noch das heilige Jetzt, das selig Einmalige, das einzige Dasein lässt sich das Geschöpf von seiner „Zukunft“ wegeskamotieren und schiebt überdies Hast und Gier wie Fremdkörper vor die eigenen schwingenden Strahlen. Mit dem ganzen Ernst aller Sinne sollte ein Wesen trachten, in der Liebe zu sein mit diesem heiligen Jetzt. Der träumende Wunsch aber – damit er zum Wahrtraum werde – gehe unbewusst immer mit, wie etwa die unbewussten Funktionen Atmung und Kreislauf immer mitgehen, allem Tun mitten inne sind.
Prentice Mulford ist durchaus kein Lebenswucherer. Keiner von der Sippe, die, rentiert sich ihr das Dasein einmal einen Vormittag lang nicht mit einhundertundzwanzig Prozent Vergnügen, den Schöpfer auf Schadenersatz klagt! Das Bild eher so: auf einer bestirnten Aue ein reiner Mensch und gar verspielt. Ganz hell auf in seinem Gemüt geht eine junge kugelrunde Minute mit gar nichts drin. Er hält sie, herzt sie, genießt sie – dann tropft langsam die nächste ins Bewusstsein. Eine andere wieder ruft er sich zurück und fragt gütig, aber ernst: „Warum warst denn du so widerlich? Und dass mir so was nicht mehr vorkommt.“
* „Jede lebende Seele ist Thronerbe eines Weltenreichs und fiel in eine Grube.“
Sir Galahad