1. Kapitel:: Samadhi Pada – Theorie des Geistes – 2. Kapitel: Sadhana Pada – Spirituelle Praxis – 3. Kapitel: Vibhuti Pada – Außergewöhnliche Kräfte – 4. Kapitel: Kaivalya Pada – Befreiung – Anhang
Drittes Kapitel: Vibhuti Pada – Außergewöhnliche Kräfte
Einführung drittes Kapitel
1. Desha-bandhash chittasya dhâranâ
2. Tatra pratyayaikatânatâ dhyânam
3. Tad evârthamâtra-nirbhâsam svarûpa-shûnyam iva
4. Trayam ekatra samyamah
5. Tat-jayât prajnâlokah
6. Tasya bhûmishu viniyogah
7. Trayam antar-angam pûrvebhyah
8. Tad api bahir-angam nirbîjasya
9. Vyutthâna-nirodha-samskârayor
10. Tasya prashânta–vâhitâ samskârât
11. Sarvârthataikâgratayoh kshayodayau chittasya
12. Tatah punah shantoditau tulya-pratyayau
13. Etena bhûtendriyeshu
14. Shântoditâvyapadeshya-dharmânupâti dharmî
15. Kramânyatvam parinâmânyatve hetuh
16. Parinâma-traya-samyamâd atîtânâgata-jnânam
17. Shabdârtha-pratyayânâm itaretarâdhyâsât
18. Samskâra-sâkshâtkaranât pûrva-jâtijnânam
19. Pratyayasya para-chitta-jnânam
20. Na cha tat sâlambanam tasyâvishayî-bhûtatvât
21. Kâyâ-rûpa-samyamât tad grâhya-shakti-stambhe
22. Etena shabdâdy antardhânam uktam
23. Sopakramam nirupakramam cha karma tat-samyamâd
24. Maitry-âdishu balâni
25. Baleshu hasti-balâdîni
26. Pravritty-âloka-nyâsât
27. Bhuvana-jnânam sûrye samyamât
28. Chandre târâ-vyûha-jnânam
29. Dhruve tad-gati-jnânam
30. Nâbhi-chakre kâya-yûha-jnânam
31. Kantha-kûpe kshut-pipâsâ-nivrittih
32. Kûrma-nâdyâm sthairyam
33. Mûrdha-jyotishi siddha-darshanam
34. Prâtibhâd vâ sarvam
35. Hridaye chitta-samvit
36. Sattwa-purushayor atyantâsamkirnayoh
37. Tatah
38. Te samâdhâv upasargâ vyutthâne siddhayah
39. Bandha-kârana-shaithilyât prachâra-samvedanâch
40. Udâna-jayâj jala-panka-kantakâdishv asanga
41. Samâna-jayâj jvalanam
42. Shrotrâkâshayoh sambandha-samyamâd divyam
43. Kâyâkâshayoh sambandha-samyamât
44. Bahir akalpitâ vrittir mahâ-videhâ; tatah
45. Sthûla-svarûpa-sûkshmânvayârthavattva-samymâd
46. Tato ¢nimâdi-prâdurbhâvah kâya-sampat tad
47. Rûpa-lâvanya-bala-vajra-samhananatvâni
48. Grahana-svarûpâsmitânvayârthavattva-samyamâd
49. Tato manojavitvam vikarana-bhâvah
50. Sattva-purushânyatâ-khyâti-mâtrasya
51. Tad-vairâgyâd api dosha-bîja-kshaye kaivalyam
52. Sthâny-upanimantrane sanga-smayâ-karanam punar
53. Kshana-tat-kramayoh samyamâd vivekajam jnânam
54. Jâti-lakshana-deshair anyatânavacchedât
55. Târakam sarva-vishayam sarvathâ-vishayam
56. Sattva-purushayoh shuddhi-sâmye kaivalyam
Einführung drittes Kapitel : Vibhuti Pada – Außergewöhnliche Kräfte
Die beiden ersten Kapitel handeln von Samadhi Pada, der Theorie des Geistes und Sadhana Pada, der spirituellen Praxis.
Das zweite Kapitel hatte drei Hauptthemen:
· Kriya Yoga und Kleshas, die Überwindung des Leidens durch bestimmte Techniken
· Die Lebenseinstellung des Yogis aus der Samkhya-Philosophie heraus. Karma, Identifikation, Unterscheidung: Was bin ich und was bin ich nicht?
· Die Ashtangas, die acht Stufen des Yoga, – der berühmteste Teil der Raja Yoga Sutras. Die ersten fünf davon, Yama, Nyama, Pranayama, Asana und Pratyahara werden im zweiten Kapitel abgehandelt, die letzten drei, Dharana, Dhyana und Samadhi, sind Thema des dritten Kapitels.
Das dritte Kapitel nennt sich Vibhuti Pada. Vibhuti sind kosmische Kräfte. Von Swami Vishnu wird Vibhuti als „göttliche Manifestationen der Kraft“ übersetzt. Gemeint sind die übernatürlichen Fähigkeiten.
Patanjali beschreibt im dritten Kapitel, was geschieht, wenn man in der Lage ist, den Geist wirklich zu konzentrieren. Die Wirkungen der Samyama-Technik (die gleichzeitige Praxis von Konzentration, Meditation und Samadhi) führen im Idealfall bis zu Sarvikalpa Samadhi.
Das dritte Kapitel wird oft stiefmütterlich behandelt, auch das Buch „Meditation und Mantras“ von Swami Vishnu enthält verhältnismäßig wenig Kommentare dazu. Er hat aber in unserer Fortgeschrittenen–Lehrerausbildung erheblich mehr dazu gesagt.
Das dritte Kapitel ist nämlich nicht nur für fortgeschrittene Yogis, welche in der Lage sind, zu Samadhi zu kommen. Es gibt dort eine ganze Reihe von sehr wertvollen, speziellen Techniken zur Kontrolle des Geistes und zur Anwendung geistiger Fähigkeiten, die auch weniger Fortgeschrittene im Sinne der Konzentration auf etwas praktizieren können. Wenn wir uns ganz bewusst auf etwas konzentrieren, bekommen wir Prajna, das Wissen über diese Sache und wir bekommen Jaya, Herrschaft darüber. Das ist eine Technik, wie wir mit verschiedenen Problemen, Schwierigkeiten, Hindernissen und Krankheiten umgehen können. Durch Konzentration können wir Wissen über die Sache oder über ihre Ursache erlangen und die Situation vielleicht schon allein dadurch ändern.
An einer Stelle warnt Patanjali davor, diese Kräfte nicht zu missbrauchen und aufzupassen, dass man sie nicht als Zerstreuungen des Geistes benutzt.
Die westliche Psychologie hat schon eine ganze Reihe der Techniken von Patanjali aufgegriffen: Die Tiefenpsychologie hat einiges übernommen, ebenso die humanistische und die Verhaltenspsychologie. Auch Methoden wie NLP (Neurolinguistisches Programmieren), Mind Control, Positives Denken sind praktisch Raja Yoga Techniken.
Trotzdem ist das dritte Kapitel eigentlich bisher nahezu unerforscht und es gibt hier noch vieles an sehr schönen und wirkungsvollen Techniken zu entdecken.
1. Desha-bandhash chittasya dhâranâ
desha = Ort, Stelle; bandhah = bindend, begrenzend; chittasya = des Verstandes; dhâranâ = Konzentration
Dharana ist das Fixieren des Geistes auf ein Objekt.
Dharana, Konzentration, bedeutet, den Geist auf ein einziges Objekt zu richten.
2. Tatra pratyayaikatânatâ dhyânam
tatra = dort; pratyaya = Bewusstseinsinhalt; ekatânatâ = ununterbrochen als eines; dhyânam = Meditation, Kontemplation
Ein ungebrochener Fluss der Wahrnehmung zwischen dem Geist und den Objekten ist Dhyana, Meditation.
Wenn die Konzentration ungebrochen wird, dann ist es Dhyana. Dhyana ist volle Konzentration auf ein Objekt, vollständige Absorption, so dass man ganz in dieser Konzentration aufgeht.
Es ist eigentlich schwierig, das Wort Dhyana zu übersetzen. Meist wird es als Meditation übersetzt. Nur – Meditation ist ja in der ursprünglichen Bedeutung etwas anderes. Es kommt vom Lateinischen und bedeutet Nachdenken. Als Descartes im 17. Jahrhundert seine „Meditationes“ schrieb, hat er keine Meditationstechniken beschrieben, sondern tiefes Nachdenken über bestimmte Themen.
Wenn wir dagegen heute sagen, ich meditiere jetzt eine halbe Stunde, dann ist damit gemeint, wir setzen uns hin (Asana), regulieren den Atem (Pranayama), und ziehen die Sinne nach innen zurück (Pratyahara) und schließlich konzentrieren wir uns auf etwas (Dharana). Ob wir wirklich den Dhyana–Zustand erreichen oder nicht, können wir im voraus nie genau sagen. Dhyana ist, wenn die Konzentration anstrengungslos ist. Wenn wir zum Beispiel in der Meditation das Mantra „Om Namah Shivaya“ wiederholen und uns dabei bemühen müssen, unsere Konzentration bei der Mantrawiederholung zu halten, weil der Geist immer wieder wegwandert und wir ihn immer wieder zurückholen müssen, dann ist das Dharana. Ist der Geist vollkommen konzentriert, sind wir total absorbiert in der Meditation, und wiederholen „Om Namah Shivaya“, nicht bewusst mit absichtlicher Konzentration, sondern es wiederholt sich von selbst und wir sind ganz verschmolzen darin, dann ist es Dhyana.
Dieses Dhyana kann sogar außerhalb von reiner Meditation passieren. Das haben wir im Rahmen des ersten Aphorismus des zweiten Kapitels im Zusammenhang mit den fünf Zustandsformen des Geistes besprochen: Mudha, Kshipta, Vikshipta, Ekagrata und Nirodhah. Ekagrata, Einpünktigkeit des Geistes, in seiner niederen Ausprägung entspricht Dhyana, in der oberen Stufe Samprajnata Samadhi.
Wenn wir ganz konzentriert sind, auch in unserem täglichen Handeln, würde man das als Dhyana bezeichnen. Es ist das, was in der modernen Glücksforschung als Flow–Erlebnis bezeichnet wird: Man fließt mit der Sache, man handelt nicht, sondern es handelt durch einen hindurch. Das sind die Momente, wo der Mensch das Außergewöhnlichste leistet, sich vollkommen losgelöst und frei fühlt. Boris Becker hat in einem Interview einmal beschrieben, was während seiner besten Spiele in ihm abläuft: Er denkt nicht mehr, macht nichts mehr bewusst, es geschieht einfach. Das ist eine perfekte Beschreibung von Dhyana.
Dharana gibt es in zweierlei Formen: die angestrengte und die entspannte Konzentration. Wenn wir unter Zeitdruck stehen und etwas unbedingt in der nächsten halben Stunde fertig haben müssen, dann ist es die angestrengte Konzentration. Wenn wir in den Yogastunden entspannt sind oder uns mit unserem Hobby beschäftigen, dann ist es typischerweise die entspannte Konzentration. Die entspannte Konzentration kann zu Dhyana führen und einen richtig beleben. Die angespannte Konzentration kann zwar auch effektiv sein, aber sie führt zu Müdigkeit.
3. Tad evârthamâtra-nirbhâsam svarûpa-shûnyam iva samâdhih
tadev (tat + eva) = das gleiche; artha = das Objekt; mâtra = nur; nirbhâsam = leuchtend; svarûpa = eigene Natur, wahre Form; shûnyam = leer; iva = als ob; samâdhih = überbewusster Zustand
Wenn das Bewusstsein des Subjektes und des Objektes verschwindet und nur die Bedeutung verbleibt, wird dies Samadhi genannt.
Das ist die Beschreibung von Sarvikalpa Samadhi. Eine noch höhere Stufe wäre Nirvikalpa oder Asamprajnata Samadhi, der dem Nirodhah-Zustand entspricht: vollkommene Gedankenstille, kein Gedanke mehr im Geist. Das ist das Ziel des Yoga. Darauf kommt Patanjali gegen Ende dieses Kapitels noch zu sprechen. Im 2. und 3.Vers des 1. Kapitels heißt es ja bereits: „Yogash chitta vritti nirodhah“ – „Yoga ist das Zur-Ruhe-Kommen der Gedanken im Geist“ und „Tadâ drashtuh svarûpe ¢vasthânam“ – „Dann ruht der Sehende in seinem wahren Wesen“.
Aber bevor wir dorthin gelangen, kommen wir durch verschiedene andere Zustände. Es reicht nicht aus, dem Geist zu befehlen: „Jetzt höre auf zu denken!“. Das klappt nicht so ganz. Manche Menschen schaffen es zwar, ihre Wortgedanken auszuschalten und glauben dann, sie würden an nichts denken. Das ist aber nicht wirklich Nirvikalpa Samadhi; sie sind nicht selbstverwirklicht. Wenn sie es wären, würde man das auch sonst an ihrem Verhalten merken. Ein Selbstverwirklichter ist schwer zu übersehen. Wenn man ihn anbrüllt, macht ihm das nichts aus. Wenn er sich den Fuß bricht, auch nicht. Wenn er einen Tag nichts zu essen hat, auch nicht. Wenn er jemanden sieht, dem es schlecht geht, dann wird er in Mitgefühl zerfließen und ihm alles geben, was er kann und hat. Manchen Menschen gelingt es, ihre Wortgedanken zur Ruhe zu bringen, dann sind aber immer noch Bilder und Gefühle da. Und manchen gelingt es, Worte und Bilder zur Ruhe zu bringen, aber dann haben sie alle möglichen Gefühle.
Es gibt drei Grundbestandteile von Gedanken: Worte, Bilder und Gefühle, die normalerweise zusammenspielen. Bei manchen Menschen überwiegt ein Aspekt deutlich. Manche sind mehr gefühlsmäßig orientiert, andere eher visuell und wieder andere sprechen mehr auf das Hören an. Man spricht auch von optisch (sehen), auditiv (hören) und kinästhetisch (fühlen) orientierten Menschen. Etwas von Gefühl zu sagen würde zu unwissenschaftlich klingen, deswegen nennt man es kinästhetisch. So weiß wenigstens keiner, was damit gemeint ist.
Darüber hinaus gibt es noch einen vierten Bestandteil der Gedanken, und das ist die eigentliche Bedeutung. Normalerweise gehören alle drei oben erwähnten Bestandteile dazu, um eine Bedeutung zu erfahren. Wenn ich zum Beispiel „Uhr“ sage, was seht ihr dann vor dem geistigen Auge? – Ihr seht irgendeine Uhr vor euch: ein Zifferblatt, eine Armbanduhr, einen Wecker, eine Bahnhofsuhr, meinetwegen auch eine Standuhr oder eine Kuckucksuhr. Und mit dieser Vorstellung ist eine bestimmte Emotion verbunden. Jeder Gedanke beinhaltet eine Emotion. Außer in Sarvikalpa Samadhi gibt es keinen Gedanken ohne Emotion. Wenn ich jetzt zum Beispiel sage: Handgranate, dann hat das eine andere Emotion als die Uhr oder eine Salzkristalllampe, das hat nochmals eine andere Emotion. Für mich erst seit gestern, vorher wusste ich nicht, was das ist. Wer es nicht weiß: das sind diese leuchtenden, wunderschönen Steinlampen. Sie geben erstens ein schönes Licht ab und zweitens soll der Salzkristall alle möglichen Chemikalien, Computerstrahlungen, schädliche Ionen usw., neutralisieren. Wenn man etwas einmal gesehen hat und hört dann das Wort dafür, dann entsteht das Bild des Gegenstandes vor dem geistigen Auge und es ist auch eine Emotion damit verbunden.
Was in Sarvikalpa Samadhi passiert, ist, dass das Bewusstsein von Subjekt und Objekt verschwindet, nur die reine Bedeutung bleibt. Wort, Bild und Gefühl verschwinden. Könnt ihr euch darunter etwas vorstellen? Ich hoffe nicht, denn man kann sich eigentlich nichts darunter vorstellen. Aber wahrscheinlich habt ihr eine Ahnung davon, was damit gemeint sein könnte. Habt ihr so einen Zustand schon einmal erlebt? Es kann zum Beispiel passieren, wenn man in der Meditation ein Mantra wiederholt. Wenn wir uns bemühen, uns zu konzentrieren, ist es Dharana. Wenn wir in das Mantra absorbiert sind, ist es Dhyana.
Wenn plötzlich das Mantra aufhört und vielleicht ein Bild da ist, ist das der Übergang von Dhyana zu Sarvikalpa Samadhi. In dem Moment kann man eine Vision Gottes haben oder es können Bilder entstehen. Nicht jedes Bild oder jede innere Vision muss ein Zeichen für diesen Übergang sein, aber es kann so sein. Und wenn dann plötzlich das Wort verschwindet, auch das Bild verschwindet und kein konkretes Gefühl mehr da ist, man aber in der Essenz des Mantras drin ist, dann hat man Sarvikalpa Samadhi erreicht. Dann existiert auch nicht mehr die Vorstellung oder das Bewusstsein: „Ich wiederhole das Mantra“ oder „Ich will das Mantra wiederholen“, es gibt noch nicht einmal das Gefühl: „Da ist ein Mantra“, sondern man verschmilzt mit der Essenz der Bedeutung des Mantras.
In der Mantra-Theorie finden wir das in ähnlicher Form beschrieben. Dort gibt es vier verschiedene Ebenen von Mantras:
- Para = Wenn man in die Essenz hineingeht
- Pasyanti = die telepathische Sprache, also wenn man dabei ein inneres Bild oder Gefühl hat
- Madhyama = die geistige Wiederholung
- Vaikhari = das gesprochene Mantra
Das gilt allgemein für die Sprache, aber bei Mantras natürlich besonders. Wenn man zum Beispiel in einem anderssprachigen Land lebt, dann übersetzt man ein Wort, das man hört, im Geist zuerst ins Deutsche. Das äußerlich gesprochene Wort ist eine andere Sprache als die innerliche. Aus dem innerlichen Wort entstehen ein Bild und ein Gefühl und aus allem zusammen bekommen wir eine Ahnung der Bedeutung. Wenn wir ein Mantra wiederholen, wiederholen wir es erst laut, dann geistig, verbinden es vielleicht mit einem Bild, einer Visualisierung und dann kommt ein inneres Gefühl dafür. Das Gefühl ist jenseits einer konkreten Sprache, es ist für alle Menschen identisch. Und darüber kommen wir irgendwann zur Bedeutung. Wir erfahren die Bedeutung.
Jetzt sage ich euch ein Wort, mit dem ihr nichts anfangen könnt, zum Beispiel „Jala“. Was für ein Bild entsteht da bei euch? – Wahrscheinlich gar keines und ihr fühlt euch verwirrt. „Jala“ heißt Wasser. Jetzt wiederhole ich noch einmal „Jala“. Was geschieht jetzt? Plötzlich ist das Wort mit eurem Bild und Gefühl für Wasser verbunden. Ein Wort, bei dem nichts auf der Pasyanti–Ebene geschieht, kein Bild oder Gefühl auftritt, schafft keine Bedeutung für uns.
In Dharana gibt es normalerweise Worte, Bilder und Gefühle. In Dhyana werden typischerweise die Worte weniger, es sind eher Bilder oder Gefühle da und wir sind in der Pasyanti-Ebene. Wir fließen mit den Bildern und Gefühlen mit. Deshalb haben Gefühlsmenschen oft in der Meditation schneller Erfahrungen als Wortmenschen. Dem Intellektuellen fällt es oft sehr schwer, den Geist abzuschalten. Er denkt die ganze Zeit. Wer aber sowieso eher ein Gefühlsmensch ist, der macht schnellere Sprünge bis zu Pasyanti. Allerdings heißt das nicht, dass er auch schneller Samadhi erreicht. Denn der weniger gefühlsbetonte Mensch muss sich so anstrengen, bis er überhaupt einmal ein einigermaßen befriedigendes Meditationserlebnis erreicht, dass er seinen Willen bis dahin schon soweit geschult hat, dass er auch die nächsten Stufen noch gehen will. Währenddessen die emotionellen Menschen es relativ zügig schaffen, zu einer schönen Meditation zu kommen, aber oft fehlt ihnen die Ausdauer für die zusätzliche Willensanstrengung, die man braucht, um wirklich zu den höchsten Erfahrungen zu kommen. Oder sie genießen die schönen Erlebnisse in der Meditation so, dass sie gar keine Lust haben, diese zu überwinden und weiterzukommen.
Daneben spielt auch die Subjekt-Objekt-Trennung eine Rolle.
Solange wir in Vaikhari (das gesprochene Mantra) und Pasyanti (telepathische Sprache) sind, gibt es ein Objekt, dessen wir uns bewusst sind. Es gibt ein Ich. Dieses Ich hat einen Gedanken und über diesen Gedanken kommen wir zur Bedeutung des Objektes. Die Para-Ebene, die eigentliche Essenz, die Bedeutung eines Gegenstandes, können wir so, von außen, nicht wahrnehmen, sondern unser Bewusstsein muss mit der Essenz des Gegenstandes verschmelzen. Nur dann erfahren wir den Gegenstand, seine Bedeutung.
Es gibt kein objektives Wahrnehmen. Die Wahrnehmung geschieht immer über die Sinne und den Geist und ist damit gefärbt durch Vrittis (Gedankenwellen), unser Unterbewusstsein und alle möglichen wahrnehmungstheoretischen Abläufe. Ein einfaches Beispiel: Wenn es einem gesundheitlich einmal nicht so gut geht, angenommen, man hat starke Kopfschmerzen, dann erlebt man einen Tag, eine Situation, ganz anders als jemand, dem es gut geht oder als man selbst in einer guten Verfassung. Der Geist prägt die Erfahrung erheblich. Aber wenn wir nicht mehr durch den Geist wahrnehmen, sondern mit unserem Bewusstsein in die Essenz der Sache hineingehen, dann können wir sie direkt wahrnehmen, ohne subjektive Färbung. Das ist dann die objektive, direkte Wahrnehmung, von der Patanjali im ersten Kapitel gesprochen hat. Und das geschieht eben in Sarvikalpa Samadhi.
In Samadhi verschwinden also die Vrittis (Gedanken), so wie wir sie kennen. Wir haben keine Wortgedanken mehr, keine Bildgedanken mehr, keine emotionellen Gedanken mehr. Es verbleibt nur die reine Bedeutung des Objekts. Dabei verschwinden Subjekt und Objekt, das heißt, wir verschmelzen mit unserem Bewusstsein mit diesem Objekt, sind uns in dem Moment unserer selbst nicht mehr als Subjekt bewusst. Auf diese Weise bekommen wir zwei Dinge, nämlich Jaya, Herrschaft und Prajna, Wissen.
trayam = die drei; ekatra = vereint; samyamah = Samyama (ein technischer Ausdruck, der die drei Begriffe Dharana, Dhyana und Samadhi umfasst)
Die Übung dieser drei zusammen ist Samyama.
Wenn Dharana, Dhyana und Samadhi aufeinander folgen, ist es Samyama. Man kann Samyama auch definieren als eine bestimmte Form der Konzentration, die, wenn wir sie perfektionieren, zu Samadhi führt.
Samyama heißt die Konzentration auf eine Sache, ohne darüber nachzudenken, ohne darauf zu reagieren, ohne zu beurteilen und ohne zu analysieren.
Normales Dharana wäre durchaus auch, den Gegenstand anzuschauen und zu beurteilen, zum Beispiel eine Uhr anzuschauen, festzustellen: Sie ist schwarz oder grün, sie ist schön, die Zifferblätter leuchten, das Band ist aus Plastik oder Leder usw.
Die Samyama-Konzentration bemüht sich, die Uhr einfach wahrzunehmen, zu erfassen, zu spüren, zu fühlen. Natürlich sieht man sie auch, man kann am Anfang auch noch das Wort Uhr wiederholen, aber man hält einfach die volle Konzentration bei der Uhr und bei nichts anderem. Und zwar ohne zu beurteilen: Das ist eine schöne Uhr. Das ist eine hässliche Uhr. Das ist meine Uhr. Ohne zu reagieren: Oh, der Sekundenzeiger geht nicht, da muss ich etwas daran machen. Oh, es ist schon zehn Uhr. Wir reagieren nicht, wir analysieren nicht, wir urteilen nicht, wir beurteilen nicht, sondern wir gehen einfach in die Uhr hinein. Das ist eine Übung von Samyama, eine spezifische Form von Dharana, die irgendwann zu Dhyana und schließlich zu Samadhi führt.
Tat-jayât = durch seine Beherrschung (tat = das; jaya = Herrschaft) prajnâ = das höhere Bewusstsein; âlokah = Licht (prajnâ = Wissen; loka = Ebene; prajnâlokah = Ebene des direkten Wissens)
Aus seiner (des Samyama) Meisterung entspringt das Licht des direkten Wissens.
Wenn wir Samyama auf irgendeine Sache ausführen, bekommen wir das volle Wissen und die volle Meisterschaft darüber.
Eine ganz praktische Anwendungstechnik: Angenommen, ihr wollt die Uhr reparieren. Ihr könnt jetzt Samyama auf die Uhr ausführen. Ihr konzentriert euch ganz auf die Uhr. Ihr versucht, die Uhr zu erspüren. Und schließlich versucht ihr, mit der Uhr zu verschmelzen. So geht ihr in die Essenz der Uhr hinein. Und dann wißt ihr plötzlich, was an der Uhr kaputt ist. Das ist eine Vorstufe. Und wenn ihr aus Samyama herauskommt, wißt ihr, was ihr machen müsst, um die Uhr wieder zum Laufen zu bringen. Oder, wenn ihr noch tiefer in Samyama hineingeht, repariert ihr die Uhr, ohne etwas zu tun. Allein dadurch, dass ihr euch auf die Uhr konzentriert, könnt ihr die Uhr beherrschen. Gerade wenn ihr dabei seid, wieder herauszukommen – solange ihr drin seid, tut ihr nichts, ihr seid nur darin verschmolzen –, im Moment des Übergangs, könnt ihr die Uhr verändern. Das gilt für jedes beliebige Objekt.
Frage: Wie kommt man überhaupt in diesen Zustand? Von selbst?
Antwort: Ja, von selbst. Das geschieht.
Frage: Wie kommt man denn wieder heraus? Es ist ja kein Beobachter da, der sagt, jetzt hör mal auf …
Antwort: Nein, es ist kein Beobachter da. Weshalb Yogis sich normalerweise vorher Suggestionen geben, um von einer unterbewussten Ebene her wieder herauszukommen.
Swami Vishnu hat sich einmal die Knie ruiniert, weil er acht Stunden am Stück meditiert hat. Anschließend konnte er nicht mehr gehen. Während der Meditation hat er halt nichts gespürt und ist so lange sitzen geblieben. Es war auch nicht so schlimm, es war nur vorübergehend. Später konnte er wieder gehen. Normalerweise ist man in Samadhi auch beschützt. Aber er hat uns schon auch gewarnt und gesagt: „Wenn man in tiefe Meditation geht, soll man das schrittweise machen und seinem Unterbewusstsein im Voraus sagen, wie lange man meditieren will.“ Über zwei Stunden sollte man zunächst nicht hinausgehen.
Aber in Swami Sivanandas Tagebuch, das man später gefunden hat, stand sogar: „Meditation erhöhen, 12, 14, 16 Stunden am Stück“
Aber nehmen wir einmal das Beispiel mit dem Knie. Angenommen, wir haben ein Knieproblem. Da könnten wir Verschiedenes machen: Wir könnten Kriya Yoga machen, also über Tapas (Askese), Swadhyaya (Selbststudium), Ishwara Pranidhana (Hingabe an Gott) erst einmal logisch analysieren, was passiert ist, was den Schmerz ausgelöst haben könnte. Wir können Röntgenbilder anfertigen oder eine Magnetresonanztomographie machen lassen, durch Tasten etwas Genaueres herauszufinden versuchen, Fachbücher lesen – also Selbststudium, Befragung. Wir können auch etwas tun, Tapas: Sei es dass wir warme Umschläge machen, die Stelle einsalben, die Hände auflegen, Energie hinschicken, das Om-Tryambakam-Heilmantra wiederholen, Kohlwickel darauf geben oder operieren lassen. Und wenn alles nichts nützt und der Arzt feststellt, dass es sich um eine degenerative Krankheit wie Arthritis, Arthrose oder Rheuma handelt, dann kann man nochmals alles Mögliche ausprobieren. Zum Beispiel Fasten, auf Trennkost oder Rohkost oder ayurvedische Ernährung umsteigen usw. Und wenn das alles nichts nützt, kommt die nächste Stufe, Ishwara Pranidhana, die Hinwendung zu Gott: Loslassen. Erkennen: Damit muss ich leben, das ist meine Aufgabe, mein Dharma, irgendwie wird es auch seine Richtigkeit haben.
Aber jenseits von Tapas, etwas tun, Swadhyaya, analysieren und Ishwara Pranidhana, loslassen, gibt es als vierte Möglichkeit Samyama, die volle Konzentration auf das Knie. Wir versuchen, das Knie zu spüren, in es hineinzugehen, mit dem Knie zu verschmelzen. Und wenn es uns wirklich gelingt, uns ganz in das Knie hineinzuversetzen, wenn wir fühlen: Ich bin das Knie – nicht mehr: Ich beobachte nicht nur das Knie, sondern ich bin das Knie –, wenn wir alles Bewusstsein dort hineingeben, dann wissen wir vielleicht nachher, was dem Knie fehlt und was wir tun können. Es kann auch sein, dass allein die Tatsache, dass wir mit vollem Bewusstsein in dem Knie sind und das Knie ganz erfahren, uns dauerhaft von allen Knieproblemen heilt. Wichtig ist, hineinzugehen ohne zu denken: Wie furchtbar, wie kann das sein, ich mache jetzt seit zwanzig Jahren Yoga, ernähre mich vegetarisch, mache Sport – und trotzdem habe ich Knieprobleme. Das kann nicht sein. Warum ich?“ oder „Was habe ich schon wieder falsch gemacht? Immer mache ich etwas falsch“. All diese Gedanken müssen weg. Einfach volle Konzentration auf das Knie, ohne zu urteilen, ohne zu analysieren. Aus der vollen Konzentration kann direktes Wissen kommen.
Man kann also die Samyama-Technik zum Beispiel anwenden bei Krankheiten. Bei eigenen Krankheiten, aber auch bei Krankheiten von anderen Menschen. Gute Ärzte sind eigentlich die Ärzte, die eine Krankheit und den Menschen als Ganzes intuitiv erspüren. In der Medizin wird das selten erwähnt, aber es gibt ausreichend Untersuchungen darüber. Ein guter Arzt ist nicht der wissenschaftlichste Arzt, sondern derjenige, der ein Gespür für den Menschen hat. Er stellt Fragen, schaut den Menschen an und erfasst dann in etwa, was falsch ist, was nicht stimmt. Es gibt auch heute solche Mediziner, die man mehr als Heiler denn als Ärzte bezeichnen müsste. Ein zweites Merkmal eines guten Arztes ist, dass er den Placebo-Effekt gut zu nutzen weiß.
Nach der Meinung des Vorsitzenden der englischen Ärzteschaft beruht bei einer normalen Medizin 90 % der Wirkung auf dem Placebo–Effekt, nur 10 % auf der chemischen Zusammensetzung. Die englischen Ärzte haben auch keine Berührungsängste mit Naturheilkunde. In den Krankenhäusern gibt es offiziell angestellte Heiler, die Hände auflegen und alles mögliche andere. Vielleicht macht sich da auch der Einfluss von Prinz Charles bemerkbar. Über ihn wird ja viel gelästert, aber wenig bekannt ist, dass er selbst ökologischen Landbau betreibt und fördert und dass er Schutzpatron der Parapsychologischen Gesellschaft in England ist. Das englische Königshaus tut einiges, um diesen Aspekt zu fördern. Also, ein guter Arzt spürt, fühlt und macht mehr oder weniger Samyama auf den Patienten, wenn auch nur ganz kurz.
Man kann die Samyama-Konzentration auch in den Hatha Yoga-Übungen anzuwenden. Eigentlich kann man sie generell überall einsetzen. Zum Beispiel auch, wenn Menschen mit verschiedenen Beschwerden und Krankheiten in eine Yogastunde kommen. Eine Reaktionsmöglichkeit wäre zum Beispiel, den Menschen zu spüren, zu fühlen. Man kann sich auch innere Fragen stellen und versuchen, das Unterbewusstsein oder das Überbewusstsein daran arbeiten zu lassen.
Wenn jemand in der Familie oder im Freundeskreis irgendwelche Schwierigkeiten hat, kann man versuchen, sich in ihn hineinzuversetzen, in die Krankheit, in das Problem hineinzuspüren. So kann man Wissen über das Problem erlangen und vielleicht auch Wissen über die Heilung oder Lösung. Und angenommen, man wäre in der Lage, in Samadhi hineinzukommen, dann könnte man die Krankheit des Menschen sogar heilen. Wobei hier Yogis sagen würden, das könnte auch ein Missbrauch der Kraft sein, denn ein Yogi wendet die Siddhis nicht an, sie sind eine große Versuchung. Deshalb ist das alles ein zweischneidiges Schwert. Für sich selbst ist es sicher in Ordnung – letztlich ist es unsere Aufgabe, unseren Körper gesund zu halten. Wir haben diesen Körper bekommen und müssen uns um ihn kümmern. Uns selbst können wir mit Samyama auch heilen, da spricht nichts dagegen.
Im Hatha Yoga, in der Phoenix Rising-Therapie und bei manchen Psychotherapien, wo man versucht, einfach nur zu erspüren, wendet man die Samyama-Technik an. Bei den Therapien wird es oft dann aber auch in Worte gefasst. Wenn man es überhaupt nicht in Worte fasst, sondern einfach nur mit dem Bewusstsein voll hineingeht, dann kommt man zur Essenz der Sache.
Aber natürlich ist nicht jedes intuitive Gespür gleich Samyama. Wir hatten ja von den drei Formen der direkten Wahrnehmung gesprochen: Es gibt die Sinneswahrnehmung, die instinktive Wahrnehmung und die überbewusste Wahrnehmung, die eben aus Samyama kommt.
Frage: Darf man andere nicht heilen, auch wenn es gut für sie ist?
Antwort: Wir müssen aufpassen. Ein großer Meister könnte alle heilen, wenn er wollte. Er tut es aber nicht, wenn er merkt, das ist jetzt nicht seine Aufgabe und in dem Moment auch nicht im Karma der Menschen. Das heißt, man muss vorher das Göttliche anrufen und fragen: „Bitte hilf mir, wenn Heilen jetzt das Richtige ist und halte mich ab, wenn es jetzt nicht das Richtige ist.“ Wir müssen diese Demut haben. Ein ganz großer Meister wird sich nicht mehr um den Körper kümmern und nicht einmal mehr seinen eigenen Körper heilen. Er wird das machen, was notwendig ist und sagen: Gottes Wille geschehe. Ob der Körper gesund ist oder nicht, spielt aus dieser Sicht nicht so eine große Rolle. Wenn er noch Karma hat, das er ausarbeiten, ausleben muss, wird er gesund erhalten, wenn er kein Karma mehr hat, eben nicht. Er wird den Körper natürlich auch nicht missbrauchen, denn dazu gibt es auch wiederum keine Veranlassung, aber wird auch nicht so besorgt um ihn sein. Denn für einen großen Meister spielt es keine Rolle, ob er noch im Körper ist oder woanders, ob der Körper Schmerzen hat oder nicht – was ist der Unterschied? Er fühlt das ganze Universum. Wieso sollte er jetzt dieser einen Zelle so viel mehr Aufmerksamkeit schenken! Aber das liegt, glaube ich, noch eine gute Weile vor uns!
Samyama ist eine entspannte Konzentrationsform, Konzentration auf eine Sache an sich, die im Idealfall bis zu Samadhi führt. Als typische Yoga-Aspiranten werden wir normalerweise nicht geradewegs in Samadhi eingehen, wenn wir uns um Samyama bemühen. Deshalb werden auch die Wirkungen nicht gleich so weitreichend sein wie von Patanjali beschrieben, aber es werden sich doch gewisse Wirkungen einstellen, die in diese Richtung gehen. Deshalb kann man auch als normaler Aspirant diese Konzentrationstechniken benutzen. Wir können sie nutzen, wir können sie gebrauchen – nur müssen wir aufpassen, dass wir sie nicht missbrauchen. Es sind nämlich sehr, sehr machtvolle Techniken.
Man sollte sich allerdings nicht einzig und allein auf diese Technik spezialisieren. Ich hatte einmal in einem Raja Yoga-Kurs eine Teilnehmerin, die sagte, sie halte nichts von Affirmationen (Bejahung, Zustimmung, Bekräftigung), Visualisierung und Geisteskontrolle. Das einzig Notwendige sei es, den Geist auf etwas zu konzentrieren, ohne zu beurteilen. Wenn sie nicht so viele psychische Probleme gehabt hätte, hätte ich sie bei dem Glauben gelassen. So habe ich versucht, ihr klarzumachen, dass das allein nicht alle anderen Techniken ersetzen kann, mit denen man an sich selbst arbeiten sollte. Es gibt eine gewisse Gefahr dabei. Wenn man in bestimmte unangenehme psychische Zustände wie Depression, Trauer und ähnliches, mit dem ganzen Bewusstsein hineingeht, kann es zwar sein, dass es hilft, aber es kann genauso gut sein, dass es stattdessen noch tiefer in diese Zustände führt.
In vielen Situation muss man auch erst einmal prüfen, ob man nicht die anderen Techniken anwenden kann, die Patanjali in den vorherigen Kapiteln erwähnt hat. Wir können zum Beispiel unseren Geist ablenken, an etwas anderes denken, an einen Aspekt der Wahrheit. Ihr erinnert euch an das erste Kapitel: Wenn Hindernisse im Geist kommen, sollte man sich auf einen Aspekt der Wahrheit konzentrieren.
Oder im zweiten Kapitel die Anwendung von Tapas (Askese), Swadhyaya (Selbststudium), Ishwara Pranidhana (Hinwendung zu Gott): versuchen, etwas zu begreifen, zu studieren, zu verändern oder loszulassen, Hingabe an Gott, Gottesverehrung. Manchmal hilft es auch, die richtige Lebenseinstellung zu haben. Und manchmal ist es erforderlich und hilfreich, die ersten Stufen wie Yama (Nichtverletzen, Wahrhaftigkeit, Nichtstehlen, Enthaltsamkeit und Aufgabe von Gewinnsucht), Nyama (ethisch-moralische Regeln für unser Privatleben), Pranayama, Asana, Pratyahara (die Sinne nach innen zurück ziehen) bewusst zu kultivieren.
Pranayama bereitet den Geist für Dharana vor. Das sind die Voraussetzungen, um den Geist richtig reif zu machen für die höheren Stufen der Konzentration und Transzendation des Normalbewusstseins. Wenn wir hier im dritten Kapitel fortgeschrittene Techniken wie die Samyama-Konzentration kennen lernen, müssen wir uns bewusst sein, dass sie auf den vorhergehenden als Fundament aufbauen und dass sie die anderen Techniken nicht ersetzen, sondern ergänzen.
Allergroßartigste Yogis brauchen natürlich gar nichts. Sie bringen nur einfach den Geist zur Ruhe: Yogash chitta vritti nirodhah. Und um das zu erreichen, machen sie die Samprajnata-Meditation in den Stufen, wie wir es kennengelernt haben: Savitarka, Nirvitarka, Savichara, Nirvichara, Sasmita, Asamprajnata Samadhi.
Tasya = seine; bhûmishu = in Stufen; viniyogah = Anwendung
Die Anwendung des Samyama (die gleichzeitige Praxis von Konzentration, Meditation und Samadhi) erfolgt in Stufen.
Das heißt zum einen: Eines geht ins andere über. Zum anderen: Wir können unseren Fortschritt nicht erzwingen. Es geschieht schrittweise. Aber es heißt auch, wir können Samyama üben, selbst wenn wir nicht in Sarvikalpa Samadhi sind. Der Fortschritt kommt allmählich, eine Stufe nach der anderen.
7. Trayam antar-angam pûrvebhyah
Trayam = drei; antar-angam = innerer, innerlich; pûrvebhyah = in Bezug auf die vorangegangenen
Diese drei sind innerlicher als die vorhergehenden.
Dharana, Dhyana und Samadhi sind innerlicher als die ersten fünf Stufen des achtstufigen Yoga, nämlich Yama, Nyama, Pranayama, Asana und Pratyahara (Abziehen oder Zurückziehen der Sinne).
8. Tad api bahir-angam nirbîjasya
Tat = das; api = auch; bahi–angam = äußerlich; nirbîjasya = samenlos (Samadhi)
Aber sogar diese sind äußerlich (verglichen) mit dem samenlosen Zustand.
Nirbija, ohne Samen, ist ein anderer Ausdruck für Asamprajnata Samadhi oder Nirvikalpa Samadhi.
9. Vyutthâna-nirodha-samskârayor abhibhava-prâdurbhâvau nirodha-kshana-chittan-vayo nirodha-parinâmah
Vyutthâna = ausgehend (ersetzend, was zu verschwinden hat); nirodha = eingehend (das, was dem ausgehenden Eindruck entgegengesetzt ist); samskârayoh = von den Eindrücken; abhibhava = Unterdrückung, latent werdend; prâdurbhâvau = Erscheinung; nirodha-kshana = der unveränderte Gemütszustand im Augenblick der Unterdrückung; chitta = Verstand; anvayah = Durchdringung; nirodha = Unterdrückung; parinâmah = Umwandlung
Durch den ständigen Ersatz von störenden Gedankenwellen durch solche der Kontrolle wird der Geist transformiert und erlangt Meisterschaft über sich selbst.
Auch das geschieht wieder Schritt für Schritt. Wir lassen eine störende Gedankenwelle nach der anderen verschwinden, so dass irgendwann diese Nirodha-parinamah entsteht. Parinamah bedeutet eine Veränderung, eine Transformation. Nirodha-parinamah ist also die Transformation des Geistes, die dazu führt, dass wir irgendwann immer in Nirodhah, im Zustand frei von gedanklichen Ablenkungen, sein können, wenn wir wollen. Aber das geschieht eben dadurch, dass wir eins nach dem anderen beherrschen.
Ein Beispiel, das Swami Vishnu gerne gebraucht hat, war: Angenommen, man wollte ein farbiges Meditationstuch in ein goldenes Tuch umwandeln. Was müsste man machen? – Einen Faden nach dem anderen durch einen Goldfaden ersetzen. Wie lange dauert das? – Sicher sehr lange. Wir bräuchten vielleicht geeignete Hilfsmittel dazu wie Nadel, Faden, eine Lupe. Aber in einem Jahr oder so hätten wir es geschafft.
Natürlich könnte man sagen: Dann schaffe ich mir doch gleich ein goldenes Tuch an, wozu soll ich die anderen Fäden erst alle mühsam herausziehen und ersetzen. Aber genau das ist die Schwierigkeit mit unserem Geist. Wir können nicht sagen, ich lege diesen Geist ab und schaffe mir gleich einen ganz neuen an, der „richtig“ funktioniert. Das klappt nicht. Wir müssen diesen Geist ganz allmählich zu einem goldenen Geist machen. Und das machen wir, indem wir eine Gedankenwelle nach der anderen ersetzen. Schrittweise lassen wir die alten tamasigen und rajasigen Wünsche langsam weg und ersetzen sie durch sattwige Wünsche. Wir schaffen Furchen für positive, geduldige, verständnisvolle, liebevolle Reaktionen des Geistes auf irgendwelche Zumutungen oder scheinbare Zumutungen unserer Umwelt und anderer Menschen. Und das wird langsam zu einem neuen Teil unseres Geistes, unserer Persönlichkeit.
Natürlich müssen wir im Laufe der Entwicklung auch die sattwigen Wünsche und Gedanken überwinden, wie Krishna schon im 2. Kapitel der Bhagavad Gita zu Arjuna sagt: „Überwinde Rajas und Tamas und mache deinen Geist sattwig. Hänge aber an keinen Gunas (Sattwa=Reinheit, Rajas=Unruhe, Tamas=Trägheit).“
So bekommen wir schließlich einen Geist, der insgesamt beherrschbar ist. Zum Schluss erreichen wir volles Nirodhah, aber vorher kommt Kshana-chittan-vayo, die Herrschaft über den Geist. Diese Herrschaft über den Geist führt zum dauernden Nirodhah, dem Zur-Ruhe-Kommen der Gedanken im Geist.
10. Tasya prashânta–vâhitâ samskârât
Tasya = sein (des Nirodha–Parinâma); prashânta = ruhig, ungestört; vâhitâ = Fluss; samskârât = durch (wiederholten) Eindruck
Sein Fluss wird durch Wiederholung ungestört.
Wenn wir regelmäßig unsere Gedanken beherrschen, positive Gedanken erzeugen, dann führt das schließlich zu einem ungestörten Fluss.
Den Geist zu erziehen ist wie einen Hund zu erziehen. Wenn man in der Erziehung konsequent ist, dann macht er alles, was man will. Wenn man inkonsequent ist, hat man ein ständiges Tauziehen. Und das ist weder für den Hund noch für den Menschen gut. Kindererziehung ist wieder etwas anderes, denn wir wollen unsere Kinder ja nicht dressieren. Außerdem lässt sich der Mensch glücklicherweise nicht dressieren. Wir hatten in diesem Jahrhundert genügend Experimente, wo Diktatoren versucht haben, ihre Untertanen umzuerziehen. Es hat nicht geklappt. Das einzige, was sie geschafft haben, war, den Glauben an Gott zu ruinieren. Das ist zum Beispiel der Hauptunterschied zwischen Ost- und Westdeutschen. In West-Deutschland glauben 73 % der Menschen an Gott, in Ostdeutschland nur 20 %. In den letzten Jahren ist die Tendenz allerdings wieder leicht steigend.
Man kann den Menschen nicht dressieren, weil wir nicht nur Samskaras (Eindrücke aus früheren Leben) haben, sondern auch Buddhi (Intellekt, Vernunft). Es ist auch nicht Aufgabe der Kindererziehung, das Kind zu dressieren. Aber ein Hund hat kein Buddhi, deshalb kann man ihn abrichten. Und unseren unterbewussten Geist, die Teile des Geistes, die im Unterbewussten sind, nämlich Manas und Chitta, und die uns zunächst einmal stören, können wir auch abrichten. Wenn dieser Teil des Geistes langsam beherrscht ist, wird er zu unserem gehorsamen Diener. Wir fühlen uns dann wohl und der unterbewusste Geist fühlt sich auch wohl.
11. Sarvârthataikâgratayoh kshayodayau chittasya samâdhi–parinâmah
Sarvârthatâ = auf vieles gerichtet, Zustand mentaler Zerstreutheit; ekâgratayoh = Sammlung, Konzentration; kshayodayau = Verfall und Aufstieg; chittasya = des Verstandes; samâdhi = überbewusster Zustand; parinâmah = Wandlung
Die Transformation, die zur Fähigkeit, in Samadhi einzutreten, führt, entsteht allmählich durch das Ausschalten der Ablenkungen und Entwicklung der Konzentration auf einen Punkt.
Im Grunde genommen ist das eine Wiederholung dessen, was Patanjali im ersten Kapitel gesagt hat, nämlich die Praxis von Abhyasa (Übung) und Vairagya (Leidenschaftslosigkeit, Verhaftungslosigkeit).
12. Tatah punah shantoditau tulya-pratyayau chittasyaikâgratâ-parinâmah
Tatah = dann; punah = wieder; shânta–uditau = gesunken und aufgestiegen; tulya = genau gleich; pratyayau = Kenntnisse, Verstandesinhalt in zwei verschiedenen Augenblicken; chittasya = des Verstandes; ekâgratâ = Sammlung, Konzentration; parinâmah = Wandlung
Die geistige Konzentration auf einen Punkt tritt ein, wenn die Inhalte des Geistes, die aufsteigen und vergehen, in zwei verschiedenen Augenblicken genau dieselben sind.
Dieser Aphorismus beschreibt noch einmal von einem anderen Standpunkt aus, was Sarvikalpa Samadhi ist. Ekagrata ist Einpünktigkeit des Geistes. Im Grunde genommen sind Sarvikalpa Samadhi und Ekagrata gleichbedeutend. Man kann auch sagen, Ekagrata hat zwei Stufen: die eine ist Dhyana, die zweite Sarvikalpa Samadhi. Das ist der Zustand, in dem zwei aufeinanderfolgende Gedanken gleich sind. Und das können sie nur dann wirklich sein, wenn unsere Aufmerksamkeit nicht zwischen Worten, Bildern und Emotionen hin- und herspringt, sondern das geht nur, wenn wir in der vollen Essenz eines Objektes sind.
13. Etena bhûtendriyeshu dharma-lakshanâ-vasthâ-parinâma vyâkhyâtâh
Etena = durch dieses; bhûta = die Elemente; indriyeshu = in den Sinnesorganen; dharma = Eigenschaft; lakshana = Charakter; avasthâ = Zustand; parinâmah = Wandlung, Veränderung; vyâkhyâtâh = werden erklärt
Durch dies werden Veränderungen in der Form, der Zeit und dem Zustand der Elemente und der Sinnesorgane erklärt.
Wenn wir uns auf diese Weise konzentrieren, verändert sich unsere Wahrnehmung von Form, Zeit und Sinnesorganen. Wir nehmen nicht mehr Formen wahr, es gibt kein Zeitempfinden mehr, wir spüren die Elemente nicht mehr und die Sinnesorgane sind nicht mehr aktiv.
Zeit kann es nur geben, wenn Dinge sich verändern. Wenn zwei Gedanken identisch sind, gibt es keine Zeit mehr. Es gibt auch keinen Zustand und keine Sinneswahrnehmungen mehr, denn es gibt niemanden mehr, der etwas wahrnimmt.
In dem Maße, in dem wir in Ekagrata hineingehen, verändern sich all diese Dinge. So ist auch unser Geist nicht mehr durch sie begrenzt.
14. Shântoditâvyapadeshya-dharmânupâti dharmî
Shânta = das Abgeklungene, Latente; udita = das Aufgekommene, Manifestierte; avyapadeshya = das Unmanifeste, in der Zukunft Liegende; dharma = die Eigenschaften; anupâtî = aufeinander bezogen, gemeinsam; dharmî = die Grundlage, der die Eigenschaften innewohnen
Es gibt eine Substanz, die durch alle Veränderungen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft hindurch stetig bleibt.
Also bei all diesen Parinama, Veränderungen, bleibt etwas gleich, und das ist natürlich unser Selbst, Purusha oder der Atman.
15. Kramânyatvam parinâmânyatve hetuh
Krama = Abfolge, Naturgesetz; anyatvam = Unterschied, Verschiedenheit; parinâma = Wandlung; anyatve = in Abänderung; hetuh = Ursache
Ursache der verschiedenen Umwandlungen sind die verschiedenen Naturgesetze.
Die Naturgesetze sind die Ursache für alles, was sich im Leben verändert. Sie sind auch die Ursache für das, was Patanjali als nächstes beschreibt, nämlich die sogenannten übernatürlichen Kräfte. Auch diese Kräfte sind Naturgesetze, aber eben auf einer anderen Ebene. Es sind überphysische Naturgesetze. Und sie sind nicht nur überphysisch, sondern auch überparapsychologisch, also überastral. Alle Umwandlungen unterliegen Naturgesetzen. Auch das, was scheinbar als Siddhis, übernatürliche Kräfte, bezeichnet wird, entspricht in Wahrheit der Natur – nur ist uns das nicht ohne weiteres einsichtig, weil es Gesetze auf einer anderen Ebene sind.
Hier machen wir einen kurzen Sprung zum ersten Vers des vierten Kapitels, wo Patanjali sagt, Siddhis werden als Ergebnis der Geburt, durch medizinische Kräuter, Mantras, Übungen der Selbstzucht oder durch Samadhi erreicht.
· Durch Geburt: Manche Menschen haben einfach von Anfang an irgendwelche übernatürlichen Fähigkeiten, wahrscheinlich, weil sie in früheren Leben viel spirituelle Praktiken gemacht haben und von daher weiter entwickelt sind.
· Durch medizinische Kräuter und Drogen: Das kennt man zum Beispiel bei schamanistischen Kulturen. Gewisse Kräuter und Essenzen bringen den Geist in einen anderen Bewusstseinszustand. Mittels Drogen kann man zu allen möglichen Bewusstseinserweiternden Zuständen und Erfahrungen kommen. Aber das ist eine gefährliche Sache, weshalb wir das im Yoga nicht anwenden.
· Dann natürlich Mantras, was in diesem Zusammenhang auch alle Formen von Zeremonien und Ritualen mit einschließt. Ich habe mal ein Feuerlauf–Ritual miterlebt. Zuerst wurden bestimmte Rituale gemacht. Anschließend konnte man über glühende Kohlen gehen, auch darin stehen oder sie in die Hand nehmen. Der Körper war immun gegen die Kraft des Feuers. Solche Veränderungen können mittels Ritualen oder auch durch Tapas, Askeseübungen, hervorgerufen werden, wobei eine intensive Asana- und Pranayamapraxis von Patanjalis Standpunkt aus bereits zur Askese zählt. Oder auch Fasten: Fasten macht den Geist leicht, durchlässig, empfänglich für Subtiles.
· Und natürlich Samadhi.
Hier im dritten Kapitel spricht Patanjali über Samyama (die gleichzeitige Praxis von Konzentration, Meditation und Samadhi), das in Samadhi mündet und welche Kräfte man dabei erlangen kann.
Aber im vierten Kapitel sagt er: Nicht jeder, der übernatürliche Kräfte hat, hat deshalb auch gleichzeitig Samadhi erreicht. Deshalb müssen wir aufpassen und vorsichtig sein. Übernatürliche Kräfte sind nicht das Hauptkriterium zur Beurteilung eines Meisters.
Es wird keinen Meister geben, der nicht irgendwelche übernatürlichen Kräfte irgendwann einmal manifestiert. Er kann gar nicht anders. Selbst wenn er es abstreitet. Man braucht nur mit Schülern eines Meisters zu sprechen, dann erfährt man alles Mögliche, was in Gegenwart der Meister geschehen ist. Es gibt auch einige solcher Geschichten über Swami Vishnu. Und uns hat er immer erzählt, er hätte keine Siddhis – das war schon fast nicht mehr Satya! (wahrhaftig) Aber er hat diese Kräfte nicht bewusst angewendet. Er hat nicht versucht, etwas zu machen. So etwas geschieht bei Meistern einfach. Wenn der Geist zu einer gewissen Konzentration fähig ist, kann man gar nicht anders, dann geschehen Wunder von selbst.
Und es gibt andere Menschen, die aus irgendwelchen der oben genannten Gründe bestimmte Fähigkeiten haben, aber keine Meister sind. Wenn jemand einem etwas über seine Vergangenheit sagen oder sein Mantra auf Anhieb zusagen kann, oder aus der Hand heraus etwas manifestiert, heißt das nicht notwendigerweise, dass er ein Meister ist. Es gibt genügend Scharlatane. Und manchmal sind es auch einfach nur Taschenspielertricks.
In seiner Jugend hat Swami Vishnu sich hobbymäßig mit Zauberkünsten beschäftigt. Im Sivananda–Ashram gab es auch regelmäßig wie hier die Bunten Abende, wo jeder etwas aufgeführt hat. Im Rahmen eines solchen Abends hat Swami Vishnu einmal ein paar Zaubertricks aufgeführt. Anschließend hat Swami Sivananda ihn gebeten, ihm zu zeigen, wie das funktioniert und Swami Vishnu hat ihm die Tricks dahinter gezeigt. Daraufhin hat Swami Sivananda gesagt: „Du als Swami solltest von heute an niemals mehr solche Zaubertricks vorführen. Du magst sagen, es sind Zaubertricks, aber die Leute werden denken, dass es Siddhis sind. Und es kann sein, dass du irgendwann einmal in Versuchung gerätst.“ Deshalb hat Swami Vishnu diese Zaubertricks danach nie mehr vorgeführt.
Swami Vishnu hat uns immer davor gewarnt, zu leichtgläubig zu sein. Auch später noch hat er oft Pseudomeister, die irgendwelche angeblichen übernatürlichen Kräfte demonstrierten, mit Video aufgenommen, das Video dann im Zeitlupentempo abgespielt und so versucht, den Trick dahinter herauszufinden.
Am Anfang des dritten Kapitels hat Patanjali generell gesagt: Durch Anwendung von Samyama (Konzentration, Meditation und Samadhi) erreichen wir Prajna, direktes Wissen und Jaya, Herrschaft, über alles. Nun kommt er zu den praktischen Anwendungen und zeigt uns auf, wie wir Samyama auf bestimmte Dinge anwenden können.
Das klingt teilweise ganz phantastisch. Er beschreibt zum Beispiel, wie wir die Vergangenheit und die Zukunft erkennen können, hellsichtig werden, wie wir die Sprache der Wesen verstehen können, ohne die Sprache systematisch zu lernen, wie wir frühere Leben kennen lernen oder die geistigen Vorstellungen eines anderen wissen können – also Telepathie -, wie wir unsichtbar und unhörbar werden können, wie wir die Zeit unseres Todes erkennen können, wie wir bestimmte Eigenschaften und Kräfte in uns entwickeln, Subtiles wahrnehmen können, wie wir die Welt erkennen, Astrologie, Anatomie und Physiologie verstehen können, ohne sie großartig studieren zu müssen, wie wir Hunger und Durst beherrschen, Kontakt zu höheren Wesen aufnehmen können, intuitive Sinne entwickeln können, wie wir levitieren (frei schweben) und Übernatürliches hören können usw.
Aber das sind nicht nur übernatürliche Kräfte, sondern auch praktische Anweisungen und Anwendungsmöglichkeiten für das eigene Leben.
16. Parinâma-traya-samyamâd atîtânâgata-jnânam
Parinâma = Wandlungen; traya = die drei; samyamât = durch Ausführung von Samyama über; atîta = vergangen; anâgata = künftig; jnânam = Wissen
Mit Anwendung von Samyama in den drei Arten der Veränderungen (Form, Zeit und Zustand) wird Wissen um Vergangenheit und Zukunft erlangt.
Wenn wir wissen wollen, wie die Vergangenheit und Zukunft von etwas beschaffen ist, dann müssen wir schauen, wie es sich momentan verändert oder wie es sich in einem gewissen Zeitraum verändert hat. So können wir die Gesetze herausfinden, wie es sich in der Vergangenheit verhalten hat und wie es sich in Zukunft entwickeln wird.
Das ist eine Technik, die wir oft auch verstandesmäßig anwenden: Man stellt fest, dass ein Grashalm heute 5 cm hoch ist, vor zwei Wochen war er 2 cm hoch – was ist die logische Schlussfolgerung, wie hoch er in zwei Wochen sein wird? Wahrscheinlich um die 8 cm. Aus Erfahrung wissen wir, dass das nicht immer ganz genau zutrifft. Denn wenn wir ein Baby anschauen, wenn es geboren wird, ist es um die 50 cm groß, mit zwei Jahren etwa ein Meter, mit 4 1/2 Jahren etwa 1,50 m – wenn wir das hochrechnen, wie groß müsste jemand sein, der 100 Jahre ist? – Das klappt also nicht so ganz! Oder mit den Aktienkursen:
Man erstellt Charts über die Kurse und die Kursentwicklung über einen gewissen Zeitraum in der Vergangenheit und nimmt an, dieser Trend setzt sich linear fort – und dann gibt es ab und zu mal Bauchlandungen. In Schweden hat man einmal eine Untersuchung über computergestützte, analysierende Charts wie auch Empfehlungen der besten Banken gemacht. Und als Versuch hat man sie konkurrieren lassen mit einem Baby, das einfach willkürlich auf irgendwelche Kurse gezeigt hat. Und wo wurden wohl nach einem Jahr die höchsten Trefferquoten festgestellt? Ja, bei dem Baby! Es scheint, dass der Zufall besser ist als der beste Experte und die besten Charts.
Das gilt natürlich nicht für alles. Vieles kann man auch mit dem Intellekt erkennen und steuern. Aber es gibt etwas jenseits des Intellekts, und das ist unsere Intuition, die wir wiederum mit Samyama erwecken können. Wenn ihr also von etwas die Zukunft oder auch die Vergangenheit erkunden wollt, dann schaut, wie verläuft die Veränderung in einem gewissen Zeitraum. Dazu konzentriert man sich gleichzeitig entweder auf einen Punkt in der Vergangenheit und den jetzigen Zeitpunkt oder auf zwei auseinanderliegende Punkte in der Vergangenheit und analysiert die Veränderung dazwischen.
Wenn ihr beispielsweise wissen wollt, wie sich ein Mensch in Zukunft entwickeln wird, versucht, euch zu erinnern, wie der Mensch vor einem Jahr war, analysiert, wie er heute ist und nehmt dann den Menschen von heute und den von vor einem Jahr gleichzeitig wahr. Und während ihr das gleichzeitig wahrnehmt, könnt ihr euch auf die Veränderung konzentrieren, die dazwischen passiert ist. Und wenn ihr euch absichtslos und urteilslos auf diese Veränderung konzentriert, versteht ihr intuitiv, wie dieser Mensch in Zukunft sein wird. Das kann manchmal ganz praktisch sein, wenn man seine Beziehung zu einem Menschen analysieren will.
Man kann überlegen, wie ist die Beziehung jetzt, wie war sie vor einem halben Jahr, sich auf die Veränderung konzentrieren, und dann kommt eine Intuition, wie sich die Beziehung in Zukunft entwickeln wird. Wobei wir natürlich wissen müssen, dass die Zukunft nie determiniert ist. Sobald wir – oder der andere – neue Ursachen setzen, entwickelt sich die Zukunft anders. Man kann die zukünftige Entwicklung also nur insoweit erkennen, als keine neuen Ursachen gesetzt werden. Da die meisten Menschen sehr unbewusst leben und nichts wirklich aus ihrem freien Willen entscheiden, sondern sich von ihren Verhaltensmustern bestimmen lassen, hat man in der Regel eine ziemlich hohe Treffsicherheit – wenn man das will. Denn die wenigsten Menschen überlegen sich wirklich, was sie tun könnten und tun dann auch wirklich etwas, um den Lauf der Dinge zu verändern.
Frage: Kann man auch mit der Intuition erspüren, welches Verhalten man selbst oder ein anderer Mensch bei sich ändern, welche neuen Ursachen man setzen sollte?
Antwort: Der Mensch hat ja durchaus einen freien Willen. Er kann entweder dem folgen, was bisher war, einschließlich dem Ablauf seines Unterbewusstseins und seiner Emotionen und seiner Reaktionsschemata. Oder er kann plötzlich innehalten und sagen: „So nicht mehr“. Und dann kann er den Ablauf seines Schicksals, seines Lebens verändern. Er ist nicht ein reiner Spielball von Emotionen und Umständen.
Eine praktische Anwendungsmöglichkeit ist also die Konzentration auf eine Veränderung.
17. Shabdârtha-pratyayânâm itaretarâdhyâsât samkaras tat-pravibhâga-samyamât sarva-bhûta-ruta-jnânam
Shabda = Wort, Ton; artha = Objekt, Zweck; pratyayânâm = Gedanke, Verstandesinhalt; itaretarâ-dhyâsât = infolge des Aufeinanderliegens; samkara = Vermischung, Verwirrung; tat = von ihnen; pra-vibhâga = Trennung, Auflösung; samyamât = durch Ausübung von Samyama über; sarva = alle; bhûta = Lebewesen; ruta = Töne; jnânam = Wissen, Verständnis
Klang, Bedeutung und entsprechende Vorstellungen sind normalerweise im Geist miteinander vermengt; aber wird Samyama auf den Klang ausgeführt, lösen sich Bedeutung und Vorstellung auf, und man erlangt Verständnis der Klänge aller lebenden Wesen.
Hier erfahren wir, wie wir Menschen und auch Tiere verstehen können, deren Sprache wir nicht kennen.
Wie erwähnt, sind normale Gedanken verbunden mit Klängen, Bildern und Vorstellungen. Mit Vorstellungen sind auch Gefühle verknüpft. Wenn wir eine Sprache lernen wollen, können wir auf herkömmliche Weise Wörter, Grammatik usw. lernen und die verschiedenen Bestandteile zusammenzusetzen. Oder wir konzentrieren uns voll auf den Klang der Sprache an sich, und zwar auf ganz entspannte Weise, noch nicht einmal mit der Absicht, verstehen zu wollen.
Und wenn man sich ganz entspannt konzentriert auf die Laute egal welcher Wesen, dann versteht man plötzlich, was sie meinen. Das könnt ihr nächstes Mal ausprobieren, wenn ihr irgendwo seid, wo sich Menschen in einer fremden Sprache unterhalten. Versucht einfach, euch ganz entspannt dem Klang hinzugeben, ihn in euch aufzunehmen, als sei es das schönste Musikstück. Wenn man das eine Weile macht, bekommt man plötzlich ein Gefühl für die Bedeutung – auch für abstrakte Inhalte. Die modernen Super-Learning-Methoden für Sprachen beruhen letztlich auf diesem Prinzip. Statt Grammatik und Vokabeln zu pauken, hört man einfach zu und fängt relativ zügig an, selbst in der Sprache zu sprechen. Teilweise erzielt man damit gute Erfolge. Ob es immer für bestimmte Zwecke ausreicht, sei dahingestellt. Aber auf jeden Fall ist es eine sehr gute Ergänzung zum herkömmlichen Büffeln.
Und wir können es auch mit einer Katze ausprobieren, einem Hund oder einem Vogel, sogar mit einem Bach. Auch Bäche können manchmal etwas ausdrücken. Wenn man sich voll auf das Rauschen konzentriert, erfährt man vielleicht plötzlich, was der Bach einem sagen will.
18. Samskâra-sâkshâtkaranât pûrva-jâtijnânam
Samskâra = Eindrücke; sâkshâtkâranât = durch Beobachtung, durch direkte Wahrnehmung; pûrva = vorher; jâti = Geburt; jnânam = Wissen
Durch die Wahrnehmung von Samskaras (Eindrücke im Geist, im Unterbewusstsein) entsteht das Wissen um die vergangene Geburt.
So geht man in frühere Inkarnationen hinein. Reinkarnationstherapeuten arbeiten unter anderem mit dieser Technik.
Eine Weise, in frühere Leben zu gehen, ist, sich zu entspannen und mit der Vorstellung in die Vergangenheit hineingehen. Diese Methode habe ich einmal im Rahmen eines Workshops als kollektive Rückführung kennen gelernt. Swami Vishnu hat zwar grundsätzlich gesagt, man soll keine Rückführung machen, man soll nicht in frühere Leben gehen, aber er war nicht immer ganz so konsequent, was ja typisch indisch ist. Zweimal im Jahr hat er Festivals veranstaltet, zu denen er bekannte Leute eingeladen hat, einmal auf den Bahamas und im Sommer im Hauptashram in Kanada.
Zu einem solchen Symposium, bei dem es um Yoga und Reinkarnation ging, hat er alle Fachleute eingeladen, die auf diesem Gebiet Rang und Namen hatten. Dazu gehörten Jan Stevenson, Raymond Moody und die bekannteste amerikanische Reinkarnationstherapeutin, die dort einen Workshop für kollektive Rückführung durchgeführt hat. Unter ihrer Anleitung legten wir uns auf den Rücken, entspannten uns, stellten uns vor, eine Wolke kommt herunter, wir setzen uns auf sie, und die Wolke trägt uns in die Vergangenheit. Dann sollten wir von oben hinunterschauen und sowie wir etwas sehen, sollten wir herunterkommen, uns dort niederlassen und schauen, was geschieht. Gut, dabei haben wir dann Verschiedenes gesehen.
Ich habe mich zum Beispiel im Busch in Australien gesehen, umgeben von Koalabären, die ich zu beschützen versuchte und dabei wurde ich von Jägern erschossen. Ich bin da etwas skeptisch. Es ist nicht unbedingt sicher, dass das, was wir auf diese Weise sehen, auch wirklich ein früheres Leben ist. Denn der Geist hat auch eine lebhafte Phantasie. Wir können uns auch einiges ausmalen. Eigentlich kann man nur dann sicher sein, dass es ein früheres Leben ist, wenn man sich mit ausreichender Sicherheit an den Namen erinnert und an konkrete, nachvollziehbare Ereignisse, die man überprüfen kann, zum Beispiel in alten Gemeinde- oder Kircheneinträgen. Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die bei solchen Rückführungen zu so konkrete Angaben kommen, dass man sie über Standesämter oder kirchliche Register nachprüfen kann.
Eine zweite Weise wäre, man nimmt ein Samskara (Eindruck im Geist, Fähigkeit) wahr, der in diesem Leben keine Begründung hat. Jemand hat zum Beispiel große Angst vor Wasser und man kann mit Sicherheit ausschließen, dass er oder sie als Kind ins Wasser gefallen ist. Es könnte ja auch sein, dass man als Baby in die Badewanne gefallen und fast ertrunken ist und daher Angst vor dem Wasser hat. Oder jemand hat Angst vor dem Feuer, weil er als Kind in eine Flamme gefasst oder auf eine heiße Herdplatte gefasst hat oder Zeuge geworden ist, wie jemand im Feuer verbrannt ist. Oder man hat als Kind einen Horrorfilm gesehen, wo Menschen im Feuer umkamen oder als Hexen verbrannt wurden. Das wären alles logische Erklärungen.
Aber angenommen, jemand hat vor etwas Angst, ohne dass es in diesem Leben eine Begründung dafür gibt, dann lässt das auf Eindrücke aus früheren Leben schließen. Man hat zum Beispiel ein Talent, für das es in der eigenen Biographie und in der Genetik der Eltern und Vorfahren keine Begründung gibt. Angenommen, jemand ist sehr musikalisch und weder Vater noch Mutter sind musikalisch und man wurde auch nicht von Kindheit an gefördert. Dann kann man sich auf diesen Samskara konzentrieren, entspannt konzentrieren, mit vollem Bewusstsein. Man kann als Vorarbeit darüber nachdenken, aber das eigentliche Samyama, wenn man versucht, diesen Samskara intuitiv wahrzunehmen, geschieht ohne Nachdenken. Über die Samyama-Konzentration auf dieses Talent oder diese besondere Eigenschaft kommt man in das Leben, in dem der Ursprung für diesen Samskara gelegt wurde. Beispielsweise Angst vor dem Feuer – dann sieht man plötzlich ein Bild, wo man selbst im Feuer umgekommen ist. Angst vor dem Wasser – man merkt vielleicht, wie man in einem früheren Leben im Wasser ertrunken ist. Oder man war schon als Kind von Yoga fasziniert, aber keiner sonst aus der Familie, dann kann man sich vielleicht als Yogi irgendwo sehen.
Frage: Ist das denn zu irgendetwas nutze? Bringt das etwas?
Antwort: Es ist eigentlich nicht notwendig. Es kann einem unter Umständen dabei helfen, mit bestimmten Schwierigkeiten besser fertig zu werden. Auf Schwierigkeiten können wir auf verschiedene Weise reagieren: Wir können mit Tapas (Askese), Swadhyaya (Selbststudium), Ishwara Pranidhana (Hingabe zu Gott) arbeiten – wie bereits erläutert – und mit verschiedenen anderen geistigen oder praktischen Techniken. Oder wir können uns einfach auf die Schwierigkeit an sich konzentrieren und das kann uns manchmal helfen, zur Ursache zu kommen oder die Lösung zu finden.
Allein die Tatsache, dass wir uns darauf konzentrieren, kann oft schon dazu führen, dass es sich auflöst. Wenn es aber etwas ist, was seine Ursache in einem früheren Leben hat, dann kann es sein, dass Bilder aus einem früheren Leben aufsteigen, während wir uns darauf konzentrieren. In einem solchen Fall brauchen wir nicht zu befürchten, verrückt geworden zu sein, sondern wir wissen: Wir sind bewusst in dieses Problem hineingegangen, nicht in der Absicht, unsere früheren Leben zu ergründen, sondern um das Problem zu erfassen, und dabei ist halt jetzt dieses Bild aus einem früheren Leben aufgestiegen. Wenn wir das erkannt haben, kann es uns helfen, mit einer bestimmten vorhandenen Schwierigkeit in unserem jetzigen Leben besser fertig zu werden. Man muss aber damit umgehen können, man darf keine Schuldgefühle entwickeln aus früheren Leben. Man sollte nicht unbedingt in der Vergangenheit wühlen und nicht grundlos in frühere Leben hineingehen. Deshalb hat Swami Vishnu normalerweise auch davon abgeraten.
Die Reinkarnationstherapeuten argumentieren eben damit, dass, wenn jemand unerklärliche emotionale und psychische Reaktionen zeigt, es ihm manchmal helfen kann, in die Vergangenheit zu gehen, um dann loszulassen. Ich will den therapeutischen Wert auch nicht in Abrede stellen. Es gibt Menschen, die dadurch zu einer gewissen Heilung gekommen sind. Aber als Yogis machen wir es normalerweise nicht.
19. Pratyayasya para-chitta-jnânam
Pratyayasya = des Inhalts des Verstandes; para = eines anderen; chitta = Verstand; jnânam = Wissen
Indem man Samyama auf den Geist eines anderen ausführt, lernt man dessen geistige Vorstellungen kennen.
Mit anderen Worten, wenn wir jemanden besser verstehen wollen, können wir versuchen, uns auf seinen Geist zu konzentrieren. Wir versuchen, seine geistigen Vorstellungen zu erspüren und zu erfühlen. Das ist natürlich schwierig, denn im Normalfall konzentrieren wir uns auf den Körper eines Menschen. Wenn wir an einen anderen Menschen denken, haben wir sein äußeres Erscheinungsbild vor Augen. Aber der Körper ist nur der Träger des Geistes. Schwieriger ist es, sich auf den Geist des anderen einzustellen.
Da aber der Körper letztlich ein Ausfluss des Geistes ist, können wir uns auch einfach den anderen vorstellen und uns auf ihn oder sie konzentrieren. Das ist eine nützliche Methode, wenn wir uns mit jemandem verkracht haben und uns gerne wieder vertragen möchten – neben allem anderen natürlich, was wir auch tun sollten: Mit ihm oder ihr sprechen, die Kommunikation aufnehmen, einen Dritten als Vermittler zu Hilfe nehmen, ihm ein Geschenk machen, uns entschuldigen, klar sagen: „So geht es nicht“, auf den Tisch hauen, um Verständigung beten, entsprechende Affirmationen wiederholen, visualisieren, dass man ihm Licht schickt usw. Oder man kann sich eben in den anderen hineinversetzen. Und wenn wir den anderen wirklich von innen heraus spüren, so als ob wir in dem anderen Körper drin wären, identifizieren wir uns mit dem anderen Geist und wissen, was mit dem anderen los ist.
Mit der richtigen Motivation ist das sicherlich positiv nutzbar. Man konzentriert sich auf einen anderen und lernt, ihn zu verstehen. Man kann besser auf ihn eingehen, sich besser mit ihm vertragen, besser mit ihm zusammenarbeiten und ihm vielleicht auch einen Tip geben zur Hilfe.
Aber es kann natürlich auch manipulativ werden. Denn wenn man sich gänzlich in den anderen hineinversetzt und es einem wirklich gelingt, im anderen so zu sein, als sei man selbst in dessen Körper, dann kann man theoretisch auch anfangen, dem anderen Gedanken aufzuoktroyieren, ihm vorzuschreiben, was er tun soll. Hier wird es zur Manipulation und zu einem Missbrauch der Siddhis. Und ein Missbrauch führt immer zu einer karmischen Reaktion.
Deshalb schreckt uns Patanjali im nächsten Vers ab:
20. Na cha tat sâlambanam tasyâvishayî-bhûtatvât
Na = nicht; cha = und; tat = das; sâlambanam = mit Unterstützung; tasya = seine; avishayîbhûtatvât = weil (seines) nicht das Ziel (von Samyama) ist
Aber andere geistige Faktoren, die nicht Gegenstand des Samyama sind, kann man nicht erkennen.
Wir lernen nicht den ganzen Geist des anderen kennen. Wenn wir einen Teilaspekt des anderen erspüren, sollten wir uns nicht einbilden, ihn jetzt vollständig zu verstehen. Dazu ist die menschliche Psyche zu kompliziert. Mit dem einfachen Samyama auf einen Menschen lernen wir ihn noch lange nicht vollständig kennen, sondern nur bestimmte Teile seiner Psyche.
21. Kâyâ-rûpa-samyamât tad grâhya-shakti-stambhe chakshuhprakâshasamprayoge ¢ntardhanam.
Zurück zum dritten Kapitel
Kâya = der Körper; rûpa = Form, Sichtbarkeit; samyamât = durch Übung von Samyama; tat = von ihm, daher; grâhya = empfänglich, begreiflich; shakti = Kraft, Fähigkeit; stambhe = beim Aussetzen; chakshuh = Auge; prakâsha = Licht; asamprayoge = weil es keinen Kontakt gibt; antardhânam = Verschwinden, Unsichtbar werden
Samyama auf den eigenen physischen Körper ausgeführt, hebt die Fähigkeit eines anderen, ihn zu sehen, auf; das reflektierte Licht des Körpers kommt mit den Augen des anderen nicht in Kontakt, wovon die Kraft der Unsichtbarkeit herrührt.
Hier sagt Patanjali uns, wie man unsichtbar wird.
Ich nehme an, es funktioniert wirklich im wörtlichen Sinn. Wenn jemand volles Samyama beherrscht, kann er sich tatsächlich soweit unsichtbar machen, dass selbst eine Kamera ihn nicht sieht und man ihn nicht fotografieren kann. Es gibt viele Berichte von Menschen, die unsichtbar geworden sind. Es soll Menschen gegeben haben, die gesehen haben, wie Heilige vom einen Moment auf den anderen verschwunden sind. Ich selbst habe so etwas noch nie gesehen und kenne es nicht aus Erfahrung.
Dieser Vers hat aber auch eine praktische Anwendung im abgeleiteten Sinn. Wenn ihr irgendwo in eine Menschenmenge kommt und wollt nicht gesehen werden, ist die beste Technik, sich nur auf euch selbst zu konzentrieren. Nehmt nur euch selbst wahr. Wenn ihr nur euch selbst wahrnehmt und an niemand anderen denkt, dann werden euch die anderen nicht bemerken. Ihr könnt durch die Menge hindurchgehen, ohne dass jemand von euch Notiz nimmt.
Die meisten Menschen machen fälschlicherweise das Gegenteil, wenn sie nicht wahrgenommen werden wollen. Sie denken ständig: „Hoffentlich sieht der mich jetzt nicht.“ – “Jetzt bin ich so ungekämmt oder unrasiert oder ungeschminkt, ich hoffe, keiner sieht mich in dem Aufzug.“ Man denkt also ständig an andere Menschen. Und was passiert logischerweise? Weil man ständig an andere Menschen denkt, weckt man ihre Aufmerksamkeit und wird wahrgenommen.
Natürlich gibt es auch das Gegenteil, nämlich, dass man sich bemerkbar machen will. Schüchterne Menschen zum Beispiel: Sie gehen auf eine Party oder eine Versammlung und nehmen sich vor: „Heute will ich endlich auch mal im Mittelpunkt stehen.“ Und dann überlegen sie ständig: Was müsste ich jetzt machen, damit mich jemand bemerkt? Wie komme ich zu Wort? Wie drücke ich mich jetzt richtig aus? Sehe ich richtig aus? – Sie sind nur auf sich selbst konzentriert. Was ist die Folge? Man sieht sie nicht, nimmt sie nicht wahr!
Wenn ihr wahrgenommen werden wollt, bringt die Aufmerksamkeit weg von euch selbst. Richtet eure Aufmerksamkeit auf die anderen und ihr werdet selbst wahrgenommen. Das ist eine gute Hilfe für schüchterne Menschen, die sich nicht trauen, auf andere zuzugehen. Es ist gar nicht nötig, auf andere zuzugehen. Es reicht, sich auf die anderen zu konzentrieren und sie wahrzunehmen, Interesse für sie aufzubringen. Dann kommen sie von allein auf euch zu – manchmal mehr, als euch lieb ist! Es schadet nichts, wenn man auch mal das erste Wort sagt, um den Kontakt herzustellen. Aber es ist nicht einmal so wichtig.
22. Etena shabdâdy antardhânam uktam
Etena = durch dieses; shabda = Ton; âdi = andere; antardhânam = Verschwinden; uktam = wurde gesagt, beschrieben
Dadurch kann auch das Verschwinden von Lauten und anderen physischen Phänomenen erklärt werden.
Das gilt also nicht nur für das Unsichtbarwerden, sondern auch für das Unhörbarwerden. Wenn ihr voll auf euch selbst konzentriert seid, könnt ihr sogar Mantras singen, ohne dass andere es hören.
Wenn man hingegen selbst sehr konzentriert mit etwas beschäftigt ist, z. B. wenn man ein interessantes Buch liest oder einen Film schaut, und dann nichts hört, wenn jemand hereinkommt, klopft oder etwas sagt, das ist Pratyahara.
23. Sopakramam nirupakramam cha karma tat-samyamâd aparântajnânam arishtebhyo vâ
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Sopakramam = energisch wirksam, aktiv; nirupakramam = langsam wirkend, schlummernd; cha = und; karma = Karma, Handlung, Ursache oder Wirkung einer Handlung; tat = ihnen; samyamât = durch Ausübung von Samyama über; aparânta = des Todes, des Endes; jnânam = Wissen; arishtebhyah = von Vorbedeutungen; vâ = oder
Karma kann entweder ruhen oder aktiv sein; indem der Yogi Samyama auf beide ausführt und durch Vorzeichen, kann er die Zeit des Todes wissen.
Es gibt die drei Hauptformen von Karma: Prarabdha, das Karma, das jetzt aktiv ist, Sanchita, das gespeicherte Karma und Agami, das neu geschaffene Karma.
Wenn wir Samyama ausführen auf das Karma, das jetzt aktiv ist (Prarabdha) und auf das Sanchita–Karma, die Lektionen, die noch vor uns liegen, und uns auf beides konzentrieren, dann wissen wir plötzlich, welche Aufgaben wir noch zu erfüllen haben. Und dann wissen wir auch, wann es vorbei ist. Und wenn es vorbei ist, sterben wir natürlich.
Eigentlich ist es nicht empfehlenswert, den Zeitpunkt des Todes zu wissen. Allein die Vorstellung und Überzeugung, dass wir zu einem bestimmten Zeitpunkt sterben werden, kann dazu führen, dass wir tatsächlich an diesem Tag sterben.
Ein Beispiel dafür ist die negative Beeinflussung durch ärztliche Diagnosen. Bei Untersuchungen hat man festgestellt, dass eine außergewöhnlich große Zahl von Menschen genau dann stirbt, wie es die Ärzte vorausgesagt haben. Wenn die Ärzte eine Lebenserwartung von sechs Monaten oder zwei Jahren diagnostizieren, dann sterben die meisten dieser Patienten auf den Tag genau nach sechs Monaten oder nach zwei Jahren – selbst wenn sich bei der Obduktion nachher herausstellt, dass der Mensch eigentlich gar nicht so krank war oder dass die Krankheit nicht notwendigerweise zum Tod hätte führen müssen. Der Mensch stirbt aufgrund der Suggestion durch die Prognose des Arztes.
Shanmug, einer unserer externen Referenten, hat letztes Mal, als er da war, von einem Arzt erzählt, der folgenden Fall in seiner eigenen Praxis erlebt hat: Er hatte einen Patienten mit einer eigentlich tödlichen Krankheit. Gegen diese Krankheit war ein ganz neues Medikament entwickelt worden, das aber noch nicht zugelassen war, weil es erst noch erprobt werden musste. Jedes Medikament muss erst an hunderten von Tieren, Zellkulturen und schließlich an Menschen erprobt werden, bevor es zugelassen wird. Dieser Patient hatte also eine sehr heimtückische Krankheit mit einer sehr geringen Lebenserwartung. Der Arzt erzählte ihm von dem Medikament, das vielleicht zur Heilung führen könne, das aber noch erprobt werden müsse und das unter Umständen auch zu Nebenwirkungen führen könne. Ob er trotzdem bereit wäre, es auszuprobieren. Der Patient nahm das Medikament und wurde innerhalb von zwei Monaten vollkommen gesund. Eine ganze Weile später hat er in einer Zeitschrift gelesen, dass dieses Medikament für seine damalige Krankheit nun doch nicht eingesetzt werden könne, weil es nicht sehr wirkungsvoll sei. Einen Monat, nachdem er das gelesen hatte, war er tot, nachdem er dazwischen um die drei Jahre vollkommen beschwerde- und symptomfrei gelebt hatte!
Man muss vorsichtig sein mit dem, was man zu Menschen sagt. Worte haben Macht, wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, wo Patanjali Wortirrtum als eine der fünf Vrittis (Gedankenwellen) behandelt.
Maitrî-âdishu = über Freundlichkeit usw.; balâni = Kräfte
Indem man Samyama auf Freundlichkeit (und andere Eigenschaften wie Barmherzigkeit, Liebe usw.) ausführt, werden deren Kräfte erlangt.
Ähnliches hat Patanjali nun schon mehrmals erzählt:
Im ersten Kapitel hieß es, indem man sich auf etwas konzentriert, auf eine positive Eigenschaft zum Beispiel, verschwinden die Hindernisse.
Im zweiten Kapitel hat er gesagt, wenn wir negative Emotionen haben, sollten wir über das Gegenteil nachdenken.
Und hier erwähnt er es im Zusammenhang mit Samyama. Wenn wir also nicht nur über eine Eigenschaft nachdenken, sondern tief in die Eigenschaft hineingehen, dann erlangen wir deren Kräfte. Die Eigenschaftsmeditation zum Beispiel beinhaltet verschiedene Techniken, unter anderem die Samyama-Konzentration. Sie beginnt mit der Wiederholung einer Affirmation zu der Eigenschaft, die man entwickeln will, zum Beispiel: „Ich bin geduldig“.
Als zweites denkt man über die Vorteile dieser Eigenschaft nach. Als drittes folgt der eigentliche Samyama-Teil: Man konzentriert sich auf die Eigenschaft an sich, ohne Visualisierung und ohne Affirmation, man erspürt die Eigenschaft als solches, konzentriert sich voll darauf, geht völlig in ihr auf. Das ist der machtvollste Teil dabei. Wenn wir uns auf die Geduld konzentrieren, die Essenz der Geduld, und sie wirklich in uns spüren, dann wird sie sehr machtvoll in uns. Zum Abschluss kann man nachher nochmals eine Visualisierung und eine Affirmation machen.
Es kann aber sein, dass es einem schwer fällt, eine bestimmte Eigenschaft in sich selbst zu spüren. Dafür bietet Patanjali die folgende Lösung an:
Baleshu = (durch Samyama) über Kräfte; hasti-balâdîni = Stärke des Elefanten usw.
Indem man Samyama auf die Kräfte verschiedener Tiere ausführt, erlangt man die Kräfte des betreffenden Tieres.
Wenn wir schwach sind und gerne stärker wären, können wir versuchen, uns auf unsere innere Stärke zu konzentrieren. Möglicherweise fällt uns das aber sehr schwer, weil wir vielleicht das Gefühl haben, wenig innere Stärke zu haben. Wenn wir uns dann beispielsweise auf einen Elefanten konzentrieren, werden wir stark wie ein Elefant. Wenn wir Sanftmut entwickeln wollen, dann können wir uns auf eine Kuh konzentrieren. Oder wenn wir Durchsetzungsvermögen und Mut in uns stärken wollen, können wir uns auf einen Tiger konzentrieren.
Hier machen viele Menschen leider oft das Gegenteil. Was muss man machen, um alle negativen Eigenschaften von anderen zu übernehmen? – Sich ständig auf die negativen Eigenschaften der andern konzentrieren, ständig darüber nachdenken, welche Fehler die anderen haben, ständig darüber sprechen, was die anderen alles schlecht und falsch machen. Auf diese Weise werden diese negativen Eigenschaften in einem selbst eben auch stärker. Hingegen, wenn wir uns auf die positiven Eigenschaften von anderen konzentrieren, dann stärken wir diese positiven Seiten auch in uns.
26. Pravritty-âloka-nyâsât sûkshma-vyavahita-viprakrishta-jnânam
Pravritti = höhere Sinnestätigkeit, überphysische Fähigkeit; âloka = Licht; nyâsât = durch Richten oder Projizieren; sûkshma = des Feineren, Subtilen; vyavahita = das Verborgene, Düstere;
viprakrishta = das Entfernte: jnânam = Wissen
Indem man Samyama auf Licht ausführt, erhält man intuitives Wissen über das, was subtil, versteckt oder entfernt ist.
Eine einfache Anwendung ist zum Beispiel Tratak, das Starren auf eine Kerzenflamme. Mir ist es schon so gegangen, dass ich anschließend an Tratak in einer Gruppe die Auras der anderen gesehen habe. Ist euch das schon mal aufgefallen? Man schaut in die Flamme, und dann sieht man darum herum die Aura. Wenn man das regelmäßig macht, eine halbe Stunde bis zu einer Stunde jeden Morgen, kann es auch sein, dass man Astralwesen im Raum wahrnimmt. Denn Tratak ist nicht nur eine Vorbereitungsübung auf die Meditation, sondern auch eine Übung zur Entwicklung von Hellsichtigkeit, wenn man es lange übt, weshalb normalerweise empfohlen wird, Tratak nicht länger als 15 bis 20 Minuten am Tag zu machen. Ab einer halben Stunde kann es nämlich sehr machtvoll wirken und nicht jeder ist darauf vorbereitet. Aber wenn man es eine Weile geübt hat und keine Angst hat, Astralwesen zu sehen, kann man es auf eine oder zwei Stunden verlängern. Das führt zu einigen sehr interessanten Phänomenen.
Es gibt verschiedene Weisen, wie man in die Kerze schauen kann. Man kann entweder versuchen, sie zu fokussieren, sie genau anzuschauen. Oder man kann versuchen, die Kerze als Ganzes wahrzunehmen, indem man mit dem sogenannten weichen Blick durch sie hindurchschaut. Das letztere wäre Samyama: Den weichen Blick auf die Flamme richten, durch sie hindurchschauen, sie aber trotzdem wahrnehmen, ohne sie zu fokussieren, also die entspannte Konzentration auf die Flamme. Wenn man das länger ausübt, führt es dazu, dass man das Feinstoffliche, Versteckte oder weit Entfernte erkennt.
27. Bhuvana-jnânam sûrye samyamât
Bhuvana = sonnensystem; jnânam = Wissen; sûrye = über die Sonne; samyamât =durch die Übung von Samyama über
Indem man Samyama auf die Sonne oder das Sonnensystem ausführt, erlangt man Wissen um die Welt.
Die Sonne ist nicht nur das Zentralgestirn unseres Planetensystems, sondern sie ist Surya Bhagavan, der Sonnengott. Es gibt ein Astralwesen, das die Sonne bewohnt, von dem wir, die Erde, abhängig sind. Das Sonnensystem ist ein organisches Ganzes. Indem wir uns auf das Zentrum des Ganzen, die Sonne, konzentrieren, erlangen wir Wissen um die Welt.
Physiker müssten sich also auf die Sonne konzentrieren, um schneller die Zusammenhänge der Natur und des Sonnensystems zu verstehen.
In Indien gibt es auch die Tradition, auf die Sonne selbst Tratak auszuführen, direkt in die Sonne zu schauen. Dazu muss man aber bestimmte Techniken lernen, sonst erblindet man. Von Swami Sivananda gibt es Photos, wo er längere Zeit direkt in die pralle Mittagssonne hineinschaut. Er hat die subtile Technik dafür gelernt und keine Augenprobleme dadurch bekommen.
Chandre = (durch Ausführung von Samyama) über den Mond; târâ = Sterne; vyâuha = Organisation, Verkettung; jnânam = Wissen
Indem man Samyama auf den Mond ausführt, erreicht man Kenntnis der Astrologie.
Das ist auch eine sehr interessante Sache. Es ist zwar für einen spirituellen Aspiranten nicht notwendig, aber vielen Menschen tut es durchaus gut, sich mit Astrologie zu beschäftigen. Weniger mit der vorausschauenden Astrologie, die einem sagt: Nächstes Jahr wirst du Millionär oder übernächstes Jahr findest du deinen Lebensgefährten oder ähnliches, sondern mit der Persönlichkeitskonstellation.
Astrologie kann helfen, bestimmte Charakterzüge der eigenen Persönlichkeit zu erkennen, Aufgaben und Schwierigkeiten im eigenen Leben zu erkennen, zu akzeptieren, in einen größeren Rahmen einzuordnen. Heutzutage werden ja viele Horoskope per Computer erstellt. Nur, das Programm allein taugt letztlich nichts. Denn ein guter Astrologe nutzt seine Intuition. Er lernt zwar auch sein Handwerkszeug, lernt, was die einzelnen Konstellationen zu bedeuten haben, wie sie zu interpretieren sind usw. Aber dann schaut er dieses Horoskop, das Schaubild mit den einzelnen Planetenkonstellationen an und lässt es auf sich wirken. In meiner Anfangszeit als spiritueller Aspirant habe ich auch drei Semester lang bei einem recht guten Astrologen etwas Astrologie studiert.
Sein Vorgehensweise war: Er malt das Horoskop auf, dann stellt er sich davor und schaut es sich an, lässt es auf sich wirken, ohne darüber nachzudenken, was die Konstellationen zu bedeuten haben. Er ist voll konzentriert, lässt es auf sich wirken, und dann kennt er alle Themen dieses speziellen Menschen, dieses speziellen Lebens. Wenn er das Gesamtbild so intuitiv erfasst hat, deutet er anschließend noch die einzelnen Planeten, untersucht die Mondeinflüsse usw. Aber sein eigentliches Wissen kommt daher, dass er das Horoskop als Hilfe zur Konzentration nimmt. In früheren Zeiten war es noch anders. Damals haben die Astrologen zur Deutung direkt in den Himmel geschaut. Dann war es natürlich gut, wenn der Mensch nachts und nicht während der Monsunzeit geboren war, dann konnte nämlich der Astrologe direkt in den Himmel schauen. Wenn er das gemacht hat und die Bewegungen der Gestirne und Planetenkonstellationen gesehen hat, wusste er instinktiv, was es mit diesem Menschen auf sich hat, der zu diesem Zeitpunkt geboren wurde.
In der indischen Astrologie hat der Mond eine besondere Bedeutung. Er ist der wichtigste Teil des Horoskops. Deshalb heißt es, wenn man sich besonders auf den Mond konzentriert, erkennt man das Hauptthema im Leben von sich selbst oder eines anderen Menschen.
Dhruve = (durch Samyama) über den Polarstern; tat–gatih = ihrer Bewegung; jnânam = Wissen
Durch das Ausführen von Samyama auf den Polarstern kommt das Wissen um die Bewegung der Sterne.
Wer in seinem astronomischen Wissen weiterkommen will, sollte auf den Polarstern meditieren. Oder nachts den Polarstern anschauen und auf sich wirken lassen, er hat eine besondere Bedeutung für das ganze Weltall.
Auch die Wissenschaftler kommen ja letztendlich auf diese Weise zu ihren Resultaten. Wissenschaftliche Resultate sind nur zum Teil logisches Denken, Experimente und Berechnungen. Der Rest ist Intuition. Jemand beschäftigt sich intensiv mit etwas, konzentriert sich, meditiert darauf, absorbiert das Problem und dann versteht er es plötzlich. Einstein und Newton sind dafür die besten Beispiele.
30. Nâbhi-chakre kâya-yûha-jnânam
Nâbhi-chakre = (durch Ausübung von Samyama) über das Nabelzentrum; kâya = der Körper; vyûha = Anordnung, Organisation; jnânam = Wissen
Durch das Ausführen des Samyama auf das Nabelzentrum kommt das Wissen um die Struktur des Körpers.
Nabhi Chakra, das Nabelchakra, ist der energetische Mittelpunkt und Schwerpunkt des Körpers. Wenn wir uns darauf konzentrieren, kennen wir die Struktur des Körpers.
Das gilt einmal für die ganze Anatomie. Wenn jemand Medizin studiert oder Heilpraktiker werden will, würde man ihm – neben allem anderen, was er rational zu lernen hat – raten, sich regelmäßig auf sein Nabelchakra zu konzentrieren. Dann kommt ein intuitives Verständnis für den menschlichen Körper.
Zum zweiten lässt sich das auch anwenden bei einer bestimmten körperlichen Krankheit. In diesem Fall könnte man sich, wie schon im obigen Beispiel erwähnt, auf den betreffenden Körperteil und die betreffende Krankheit konzentrieren. Oder man könnte sich alternativ auch auf das Nabhi Chakra als Grundlagenchakra für alle körperlichen Vorgänge konzentrieren. Die Körperenergien sind konzentriert im Nabelchakra, der Sonne des ganzen Körpers.
Deshalb ist es auch wichtig, sich bei den Asanas ab und zu auf den Bauch zu konzentrieren. Nicht umsonst raten wir ja den Schülern in der Anfänger- und Mittelstufe, sich auf den Bauch zu konzentrieren: einatmen – Bauch hinaus, ausatmen – Bauch hinein. Das hilft, Zugang zur Struktur und zu den Bedürfnissen des Körpers zu bekommen. Ich glaube, die richtige Bauchatmung ist ein entscheidender Punkt, dass die Schüler lernen, gewisse negative Gewohnheiten von selbst abzulegen.
Und meine Beobachtung ist, dass in Yogasystemen, wo kein Wert auf die Atmung gelegt wird, mindestens nicht auf die Bauchatmung – da gibt es ja einige –, die Menschen ihre schlechten Gewohnheiten nicht ablegen. Bei Schulen, die den Atem einfach nur fließen lassen und die Übungen sehr genau ausführen, mag die körperliche Exaktheit richtig sein, aber es entsteht kein intuitives Wissen um die Struktur und die Notwendigkeiten des Körpers. Währenddessen, wenn wir uns auf den Nabel konzentrieren – wir selbst und wenn wir unsere Schüler dazu veranlassen –, geschehen viele Sachen von selbst. So ist es also wichtig, auch wenn wir dann den vollständigen Atem lernen und fortgeschrittene Atemübungen machen, uns immer wieder auf den Bauch zu konzentrieren.
31. Kantha-kûpe kshut-pipâsâ-nivrittih
Kantha-kûpe = (durch Ausführung von Samyama) über die Kehle („Halsbrunnen“); kshut = Hunger; pipâsâ = Durst; nivrittih = Aufhören
Durch Ausführen des Samyama auf die Höhlung der Kehle hören Gedanken an Hunger und Durst auf.
Sich regelmäßig auf die Höhlung unterhalb des Kehlkopfes zu konzentrieren – vielleicht auch eine Methode, eine Schlankheitskur zu begleiten!
Das Interessante ist, in diesem Bereich liegt ja auch die Schilddrüse. Und die Schilddrüse hat sehr viel zu tun mit dem Metabolismus, dem Stoffwechsel des Körpers, und sehr viel mit Appetit haben oder keinen Appetit haben. Indem man sich darauf konzentriert, kann sich die Schilddrüsenfunktion verändern.
Patanjali sagt hier sogar, dass Hunger- und Durstgefühl ganz schwinden können.
Kûrma-nâdyâm = (durch Übung von Samyama) über den Nerv, er Träger des Prana ist, das Schildkröten-Nadi; sthairyam = Festigkeit
Durch Ausführen des Samyama auf Kurma–nadi, das Schildkröten-Nadi (die Nervenzentren, die das Prana kontrollieren), wird Festigkeit erlangt.
Das Schildkröten-Nadi ist letztlich das gleiche wie die Sushumna (feinstofflicher Kanal in der Wirbelsäule). Wenn wir das Prana in der Sushumna beherrschen, erlangen wir Festigkeit.
33. Mûrdha-jyotishi siddha-darshanam
Mûrdha = Scheitel; jyotishi = Licht; siddha = vollkommene Wesen, Meister im Besitz überirdischer Kräfte; darshana = Vision
Durch Ausführen des Samyama auf das Licht am Scheitel des Kopfes erhält man die Kraft, Siddhas wahrzunehmen.
Siddhas sind vollkommene Wesen, große Meister und solche, die uns weiter segnen, auch nachdem sie ihren Körper verlassen haben. Es gibt eine Tradition, in der manche Meister, wenn sie fast selbstverwirklicht waren, sich entschieden haben, nicht ganz mit Brahman zu verschmelzen, sondern stattdessen auf subtile Weise weiter zu existieren, um Menschen inspirieren zu können. Das sind dann die Siddhas. Hanuman zum Beispiel gilt als einer der bekanntesten, auch Dattatreya und verschiedene Hatha-Yoga-Meister. Und es heißt, immer wenn ein ernsthafter Aspirant, ein Schüler auf dem spirituellen Weg, in Schwierigkeiten ist und um Hilfe bittet, sind diese Siddhas auch da, um ihm zu helfen. Wenn wir uns in einer solchen Situation auf das Licht am Scheitel des Kopfes konzentrieren, kann es passieren, dass wir sie tatsächlich auch sehen.
Dieser Vers ist auch ein Hinweis darauf, dass wir die Gnade der Meister spüren können, indem wir uns vorstellen, dass Licht von oben in uns hineinströmt. Dadurch bekommen wir tatsächlich die Gnade der Meister. Wir können uns den Meister im Geist auch vorstellen, wie er über uns ist, wie er uns segnet, die Hand hochhält, die Hand auflegt, einen anschaut und Licht schickt oder – für Menschen im Westen nicht unbedingt eine geeignete Vorstellung –, dass er die Füße über uns hält. Sie hat den Hintergrund, dass der Meister ein Kanal göttlicher Energie ist und die Energie über seine Füße weitergibt. Aber es kann auch passieren, dass man es sich gar nicht vorstellt, sondern man stellt sich nur das Licht vor und plötzlich ist diese Vision da, der Meister ist da.
Prâtibhâd = von Intuitivem (Wissen); vâ = oder; sarvam = alles, jedes
Durch Intuition ist alles Wissen verfügbar.
Das ist jetzt wieder ein Generalvers, der anschließend näher ausgeführt wird.
Hridaye = (durch Übung von Samyama) auf das Herz; chitta = Verstand, Geist; chitta–samvit = Verstehen, Wahrnehmung des Geistes
Durch Ausführen des Samyama auf das Herz wird Verstehen der Natur des Geistes erlangt.
Nicht über den Intellekt, sondern über das Herz können wir den Geist auf intuitive Art verstehen. Wenn wir einen anderen Menschen verstehen wollen, muss das Herz dabei sprechen. Und wenn wir uns selbst verstehen wollen, auch.
Wenn es einem schwer fällt, sich auf den Geist des anderen zu konzentrieren, weil man ihn sich eben körperlich vorstellt, kann man versuchen, sich stattdessen auf das Herz zu konzentrieren. Wir können versuchen, uns von unserem Herzen her in den anderen hineinzuversetzen und ihn so besser zu verstehen, die Natur seines Geistes über das Herz zu erfassen. Oder wir können gleichzeitig unser Herz und das Herz des anderen spüren, uns darauf konzentrieren, dann stellen wir eine Herz-zu-Herz-Verbindung her, über die wir den anderen besser verstehen können.
36. Sattwa-purushayor atyantâsamkirnayoh pratyayâvishesho bhogah parârthât svârtha-samyamât purusha-jnânam
Zurück zum dritten Kapitel
Sattva-purushayoh = von Sattva (Reinheit, eine der drei Gunas), das den verfeinerten Purusha darstellt; atyanta = äußerst; asam kirnayoh = des Unvermischbaren, Bezeichnenden; pratyaya = Wahrnehmung; avisheshah = Nicht-Unterscheidung; bhogah = Vergnügen, Genießen, Erfahrung; parârthât = außer dem (Interesse) eines anderen; svârtha = Eigeninteresse; samyamtât = durch Übung von Samyama über; purusha = Purusha; jnânam = Wissen
Vergnügen ist das Ergebnis eines Mangels an Unterscheidung zwischen Purusha (das höchste Selbst) und Sattwa (Reinheit). Wissen um Purusha rührt vom Ausführen des Samyama auf die Interessen des Selbst anstatt auf die Interessen des Individuums her.
Jetzt geht Patanjali tiefer.
Es gibt die verschiedenen Eigenschaften (Gunas) in uns: Sattwa (rein), Rajas (unruhig) und Tamas (träge). Wenn wir uns träge und müde fühlen, überwiegt Tamas. Wenn wir sehr unruhig sind, ist Rajas vorherrschend und wenn wir sehr ruhig und ausgeglichen sind, ist hauptsächlich Sattwa da. Auch wenn wir uns über etwas freuen, überwiegt Sattwa. Denn die Eigenschaft von Sattwa ist Freude. Und selbst eine sinnliche Freude, wie es hier mit bhogah gemeint ist, kommt letztlich aus Sattwa heraus. Wir identifizieren uns mit diesem Gefühl der Freude, also mit Sattwa, und haben deshalb den Eindruck, dieses oder jenes Objekt hat mir Vergnügen gegeben.
Aber das ist nur ein Irrtum. Denn wir vergessen zu unterscheiden zwischen Purusha und Sattwa. Sattwa spiegelt die Freude des Selbst wieder; Purusha, das Selbst, ist Freude an sich. Zur Erkenntnis des Purusha gelangen wir, indem wir Samyama ausführen auf die Interessen des Selbst statt des Individuums.
Man könnte es auch als Gebet formulieren: „Nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe.“
Man könnte auch darüber meditieren: Was wäre im Interesse meines wahren Selbst?
Immer, wenn man in einer Situation nicht weiß, was ist jetzt das Richtige, was soll ich tun, dann kann man mit dieser Frage anfangen: Was liegt im Interesse meines individuellen Selbst, auf der Ebene, wo ich alles Mögliche haben will, Sicherheiten brauche usw. und was wäre im Interesse meines höheren Selbst? Wenn wir darüber meditieren, lernen wir, uns nicht mehr mit unseren Interessen als Individuum, als diese eine körperliche Erscheinungsform, zu identifizieren mit ihrem individuellen Denken, Gemüt und Emotionen, sondern statt dessen mit dem, was unser tieferes Selbst sagt.
37. Tatah prâtibha-shrâvana-vedanâdarshâsvâda-vârtâ jâyante
Tatah = daher, davon; prâtibha = intuitiv; shravana = Gehör; vedana = Gefühls-…; âdarsha = Seh…; âsvâda = Geschmacks…; vârtâ = Geruchs-…; jâyante = erzeugt, geboren
Daraus entstehen intuitives Gehör, Blick, Geschmack und Geruch.
Swami Vishnu gibt in seinem Kommentar hier noch ein anderes kosmisches Gesetz an, das wir auch schon vorhin kennen gelernt haben, nämlich das Gesetz der Entsagung. Wenn wir einer Sache wirklich vom Herzen her entsagt haben – nicht aus Egoismus, um zu zeigen, wie großartig wir sind, worauf wir alles verzichten können, auch nicht aus einer Laune heraus –, sondern für Gott, für das Selbst, für das, was wir von innen heraus spüren, was getan werden muss – wenn wir das tun, dann kommt alles im Überfluss auf uns zu. Wir bekommen sowohl äußere Dinge, die wir brauchen oder haben wollen, als auch Intuition, geistige Kräfte, usw. Wenn wir geistigen Kräften hinterher rennen, bekommen wir durch Übung zwar auch eine gewisse Meisterschaft, aber eigentlich gerade dann, wenn wir sie vermeiden, kommen sie trotzdem.
Patanjali sagt also hier, wenn es uns nur um das Selbst geht, bekommen wir trotzdem intuitives Gehör, Blick, Geschmack und Geruch und letztlich auch feineres Gefühl.
38. Te samâdhâv upasargâ vyutthâne siddhayah
Te = sie; samâdhav = im Samadhi; upasargâh = Hindernisse; vyutthâne = Auswärtsgerichtetsein; siddhayah = Kräfte
Aber diese sind Hindernisse für den Zustand von Samadhi, obwohl sie dem weltlichen Geist als Kräfte gelten.
Hier warnt er uns wiederum. Die verschiedenen Kräfte, die kommen, sind eigentlich Hindernisse. Übernatürliche Visionen, die man sehen kann, übernatürliche Dinge, die man hören kann – man spricht gemeinhin von Hellsicht, aber das gilt für alle Sinne, es gibt hellsehen, hellhören, hellriechen, hellschmecken – erscheinen der Welt als Kräfte und daher auch als erstrebenswert, aber sie sind Versuchungen. Es gibt ja alle möglichen Seminare, wo man Hellsichtigkeit und verschiedenes anderes erlernen können soll. Aber all das sind Hindernisse oder man kann auch sagen, es sind Zerstreuungen.
Die Menschen sind dann nur noch daran interessiert, Auras zu sehen, ihren physischen Körper zu verlassen, Bilder, Lichter zu sehen, irgendwelche übersinnliche Erfahrungen zu machen usw. Das hält einen auf einer Zwischenebene, statt dass man zum eigentlichen Ziel, der Einheit mit dem Absoluten, weiter voranschreitet. Es kann sogar gefährlich sein, sich in der Astralwelt zu verlieren. Wenn man nicht ganz gefestigt ist, kann man letztlich von Astralwesen beherrscht werden. Es kann sein, dass niedere Astralwesen unsere Energie wegsaugen und dass unsere spirituelle Kraft, Ojas, die wir durch jahre-, vielleicht jahrzehntelange spirituelle Praxis angesammelt haben, relativ schnell verschwindet.
Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut. Wenn wir zu Sarvikalpa Samadhi kommen, entsteht so etwas wie absolute Macht. Da müssen wir uns vor Machtmissbrauch hüten.
Ungeachtet dessen, dass er uns davor warnt, fährt Patanjali fleißig fort, uns andere Siddhis zu erklären:
39. Bandha-kârana-shaithilyât prachâra-samvedanâch cha chittasya para-sharîraveshah
Zurück zum dritten Kapitel
Bandha = Bindung; kârana = Ursache; shaithilyât = durch Lösung; prachâra = Durchgänge, Kanäle; samvedanât = vom Wissen über; cha = und; chittasya = vom Verstand; para = von einem anderen; sha-rîra = Körper; âveshah = Eingang
Ist die Ursache der Bindung ausgeschaltet, kann der Geist, durch das Wissen um seine Kanäle, in den Körper eines anderen eintreten.
Hier beschreibt Patanjali also, wie man seinen eigenen Körper verlassen und in den Körper eines anderen eintreten kann. Die Technik ist natürlich, dass man aufhören muss, sich an seinen eigenen Körper zu verhaften, sich mit seinem eigenen Körper zu identifizieren. Wenn wir erst einmal erkennen: Ich bin nicht der Körper, dazu noch die Nadis (Energiekanäle) kennen und spüren, dann können wir durch bestimmte Nadis mit unserem Astralkörper unseren physischen Körper verlassen und in den Körper eines anderen eintreten. Genaueres will ich darüber jetzt nicht sagen.
Wir können diesen Vers aber auch für etwas Freundlicheres benutzen als den Körper eines anderen einzunehmen. Wir können uns nämlich in einen anderen Menschen hineinversetzen, was wiederum eine positive Eigenschaft eines spirituellen Aspiranten ist. Und dazu ist auch eine Voraussetzung, dass wir die Ursache der Bindung ausschalten.
Die meisten Menschen sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie sich nicht oder nur sehr wenig in einen anderen hineinversetzen können. Sie sind nur in sich selbst verliebt oder verstrickt oder im Krach mit sich selbst. Alles, was darüber hinausgeht, ist für sie nicht so wichtig. Viele Menschen können den anderen auch nicht zuhören. Sie warten nur darauf, dass sie sie unterbrechen und ihren eigenen Senf dazugeben können.
Wenn zum Beispiel in einer Yogastunde ein Schüler ein ganz bestimmtes Problem hat und uns etwas fragt, gibt es, wie wir von Patanjali schon wissen, verschiedene Möglichkeiten: Wir können die Frage an Gott weitergeben: Bitte, lieber Gott, sag mir, was ich diesem Schüler raten soll, oder lieber Swami Sivananda, du hast mir diesen Schüler gebracht, hilf mir, die richtige Antwort zu finden. Und plötzlich weiß man die Lösung.
Die andere Möglichkeit, auf die dieser Aphorismus jetzt zielt, wäre, sich ganz in den Menschen hineinzuversetzen, ihn ganz zu spüren, von innen heraus. Dann kommt auch ein bestimmtes Wissen darüber, was ihm helfen kann. Wenn wir uns wirklich vollständig in den Menschen hineinversetzen, können wir auf diese Art sogar heilen. Aber damit sollte man nun wieder vorsichtig sein. Denn das kann Kräfteverbrauch bis zur Kräfteverschwendung oder Missbrauch der höheren Kräfte sein. Wir sollen nicht durch die Gegend laufen und ständig durch unser Prana und unsere Willenskraft andere Menschen heilen. Wir können ruhig als Instrument des Göttlichen fungieren und dem anderen Menschen Energie schicken, aber nicht in Kombination mit dieser Technik, sich in den anderen Menschen, in seine Krankheit, hineinzuversetzen, ihn von innen heraus zu spüren und dann von innen heraus diese Krankheit zu heilen. Das wäre ein unzulässiger Eingriff in das Gesetz des Karma.
Auch wenn man einmal Streit mit jemand hat, sich mit jemandem nicht mehr so gut versteht oder nicht mehr so gut zusammenarbeitet, kann es sehr helfen, sich in ihn hinein zu versetzen.
Als nächstes können wir lernen, wie man Levitation (Schweben) übt.
40. Udâna-jayâj jala-panka-kantakâdishv asanga utkrântish cha
Udâna = eines der fünf Prânas, Lebensströme; jayât = durch Meisterung; jala = Wasser; panka = Schlamm; kantakâdishu = Dornen usw.; asangah = Nichtberührung; utkrântih = Levitation, Schweben; cha = und
Durch Meisterung des Udana (Energie hinter den Steuerungssystemen des Körpers) entsteht Levitation sowie die Fähigkeit, nicht von Wasser, Schmutz, Dornen etc. berührt zu werden.
Das ist übrigens auch das Flugmantra der „TM“-Organisation (Transzendentale Meditation von Maharishi Mahesh Yogi). Vielleicht habt ihr euch schon gefragt, was die dort machen, wenn sie angeblich fliegen lernen. Die meisten fliegen nicht, sondern hopsen, was keine außergewöhnliche parapsychologische Sache ist. Aber ich habe auch schon mit Leuten gesprochen, die das selbst gemacht haben. Die TM–Technik besteht darin, den Geist ganz ruhig zu machen.
Im Abstand von vier bis fünf Sekunden, wenn der Geist ganz ruhig ist, wiederholt man dieses Levitationsmantra. Dabei entsteht tatsächlich das Gefühl, abzuheben. Derjenige, der mir das erzählt hat, sagte, er wisse in dem Moment nicht, ob er tatsächlich schwebe oder ob er nur das Gefühl habe, sich zu erheben. Natürlich hat man in dem Fall die Augen nicht offen. Manche sagen, es entsteht so etwas wie eine starke Energie, und diese Energie schlägt dann den Körper nach unten, so dass er beginnt, mehrmals hoch- und runterzuspringen.
Die Verse im dritten Kapitel geben jeweils Techniken für bestimmte Kräfte an. Gleichzeitig sind sie auch Mantras. Durch die Wiederholung des Mantras mit voller Konzentration und Glauben an seine Macht entfalten sich die durch das Mantra beschriebenen Qualitäten. Man kann also entweder die beschriebene Technik benutzen oder das Mantra wiederholen.
In diesem Vers besteht die Technik darin, Udana zu meistern. Dazu muss man wissen, was Udana ist.
Es gibt fünf verschiedene Hauptpranas:
· Prana = die Energie hinter der Atmung und Selbsterhaltung.
· Apana = die Energie hinter Ausscheidung, Geschlechtsverkehr, Sexualität, Familiensinn, Arterhaltung
· Udhyana = die Energie hinter dem Kreislauf, der Bewegung, Muskelenergie
· Samana = die Energie hinter der Verdauung
· Udana = die Energie hinter den Steuerungssystemen des Körpers, hinter den Hormonen, der nervlichen Steuerung, des ganzen Nervensystems, verantwortlich für Schlafen, Träumen, das Verlassen des physischen Körpers mit dem Astralkörper sowohl im Moment des Schlafens als auch bei der Meditation oder Tiefenentspannung als auch im Moment des Todes.
Und hier sagt Patanjali interessanterweise, durch Meisterung dieses Udanas entsteht Levitation.
Ich bin jetzt nicht sicher, was wirklich damit gemeint ist. Denn Udana Vayu ist wie gesagt dazu da, den physischen Körper zu verlassen, ist eigentlich mehr verantwortlich für den Astralkörper als für den physischen Körper. Von daher würde man eher dazu neigen, anzunehmen, dass damit weniger die körperliche Levitation gemeint ist als die Fähigkeit, mit dem Astralkörper den physischen Körper zu verlassen. Das wiederum ist eine Erfahrung, die viele Menschen schon gemacht haben. In einer typischen Yogalehrerausbildung mit 40 Teilnehmern haben fünf bis zehn schon die Erfahrung gemacht, ihren Körper verlassen zu haben. Und wenn wir Udana meistern, können wir das bewusst machen.
Aber es mag auch sein, dass sich auch der physische Körper erheben kann. Ich habe das zwar noch nie erlebt, außer Hüpfen – aber Hüpfen ist eben Hüpfen und keine Levitation. Aber es gibt Beschreibungen, wo es manchen Menschen passiert sein soll. Dem Padre Pio soll das ab und zu mal geschehen sein. Und auch von dem heiligen Franziskus gibt es Geschichten, nach denen er sich während des Gottesdienstes erhoben haben und plötzlich ein, zwei Meter über dem Boden geschwebt haben soll. Und von einem anderen Heiligen heißt es, er habe sich immer Backsteine oder Metall in die Taschen gesteckt, weil es ihm unangenehm war, sich während des Gottesdienstes so zu erheben.
Samâna = eine der fünf Prana–Energien; jayât = durch Meisterung; jvalanam = Auflodern (des gastrischen Feuers)
Durch Meisterung des Samana (die Energie hinter der Verdauung) kommt flammendes Feuer.
Samana Vayu ist die Energie hinter der Verdauung, das Verdauungsfeuer. Wenn wir dieses meistern, können wir zum einen alles verdauen und zum anderen können wir auch Feuer ausstrahlen. Es gibt im Himalaya Yogis, die ganz nackt dort leben, auf Gletschern sitzen, sich mit ihrer Körperwärme Eis zu Wasser schmelzen und denen das gar nichts ausmacht. Wenn wir Samana meistern, haben wir das nötige Feuer für alles.
Eine konkrete Methode, wie das Samana zu meistern ist, beschreibt Patanjali nicht. Als Hilfstechnik könnte man jetzt zum Beispiel das Mantra, also diesen Sanskrit-Aphorismus, wiederholen. Ihr könnt das vielleicht einmal ausprobieren, wenn es euch kalt ist. Nur, ihr müsst es dann genau richtig aussprechen und betonen. Wenn man ein Mantra falsch ausspricht, kann es eine ganz andere Bedeutung bekommen und zu ganz anderen Ergebnissen führen. Deshalb braucht man gerade bei diesen machtvollen Mantras Grundkenntnisse mindestens in der korrekten Aussprache des Sanskrit. Es ist nicht wirklich notwendig, das alles zu beherrschen, aber es ist eine Technik, die funktioniert. Ich kenne Leute, die mit diesen beiden Mantras gearbeitet haben und sagen, sie hatten beim einen tatsächlich das Gefühl, sich zu erheben und beim anderen konnten sie willkürlich jegliche Hitze erzeugen, in sich und im Raum um sich herum.
42. Shrotrâkâshayoh sambandha-samyamâd divyam shrotram
Shrotra = Ohr; âkâshayoh = Raum, Äther; sambandha = Beziehung; samyamâd = durch Übung von Samyama; divyam = göttlich, hyperphysisch; shrotram = Hören
Indem man Samyama auf die Verbindung zwischen Akasha (Äther) und Ohr ausführt, erlangt man überphysisches Hören.
Das können wir gerade mal ausprobieren.
Schließt die Augen. Jetzt konzentriert euch zunächst einmal auf eure Ohren, und zwar weniger auf die physischen Ohren oder das Bild von den Ohren, sondern auf das Fühlen eurer Ohren. Spürt nach, wie weit ihr die Ohren nach innen spüren könnt. Dann werdet euch bewusst, wie weit ihr die Energie der Ohren nach außen spüren könnt. Wenn man sich so entspannt konzentriert, fühlt man meistens die Ohren wie einen Trichter. Und jetzt versucht, weit nach außen zu spüren und spürt gleichzeitig den physischen Ort der Ohren und den Raum weit weg von den Ohren. So spürt ihr die Verbindung zwischen dem Raum weit weg und den Ohren. Und dann werdet euch bewusst, ob ihr vielleicht einen inneren Klang hört.
Das gleiche kann man mit den Augen machen. Konzentriert euch jetzt auf die Augen. Werdet euch bewusst, wie sich die Augen anfühlen. Geht mit eurem Bewusstsein zunächst durch die Augen in die Höhle des Kopfes, dann spürt die Augen nach vorn, werdet euch bewusst, wie weit ihr die Augen und die Energieausstrahlung der Augen nach vorne spüren könnt. Jetzt spürt gleichzeitig den Raum weit vor euren Augen und die Augen selbst. Spürt also Sambhanda, die Verbindung der Augen mit dem Raum und macht euch bewusst, ob ihr dabei mit geschlossenen Augen etwas sehen könnt.
Wer von euch hat einen überirdischen Klang gehört oder Farben gesehen?
Wenn man das länger macht, ist es eine Möglichkeit, überphysisches Hören und Sehen zu entwickeln. Und es ist durchaus in Ordnung, sich auf so etwas zu konzentrieren. Patanjali hat ja im ersten Kapitel der Yoga Sutras erwähnt, dass man den Geist leicht zur Stille bekommt, wenn die höheren Sinne, also überphysisches Hören und Sehen, aktiv werden. Das kann man zum Beispiel auch in der Tiefenentspannung sehr leicht üben, indem man sich nicht nur auf die körperliche Entspannung konzentriert, sondern die Verbindung der Ohren mit dem Raum herstellt. Selbst wenn man dabei nichts hört, kann ein schönes Ausdehnungsgefühl entstehen und es kann einen auch sehr entspannen.
Es gibt eine ähnliche Technik, mit der man den physischen Körper verlassen kann. Man führt Sambhanda aus auf den Körper und die Verbindung mit dem Raum darüber. Man spürt erst den Körper, dann den Raum darüber, die Verbindung zum Raum und dann spürt man nur noch den Raum darüber und plötzlich ist man oben. Je mehr man in der Lage ist, sich zu entspannen und zu konzentrieren, desto einfacher geht es. Es hat durchaus einen Vorteil, das einmal zu erfahren, denn dann weiß man ganz sicher, ich bin nicht der Körper. Wenn man viel liest und die Wissenschaft einem immer weismachen will, dass der Mensch der Körper ist und der Geist nur ein Ausfluss irgendwelcher Gehirnverbindungen und dass die ganze spirituelle Erfahrung nur auf irgendwelchen eigenartig verlaufenden Gehirnwindungen beruht, auf Selbstbetrug und Hormon–Botenstoffen oder so ähnlich, ist eine solche Erfahrung sehr nützlich. Denn wenn man wirklich einmal den physischen Körper verlassen hat, die Welt von oben gesehen hat, dann weiß man es, man hat es erfahren und die Bücher können behaupten, was sie wollen.
Eigentlich ist das ja ein großes Paradoxon bei der modernen Psychologie und Medizin. Die moderne Physik hat sich Ende des letzten und Anfang dieses Jahrhunderts revolutioniert aufgrund von ein paar ganz kleinen Phänomenen, die nicht mit dem Weltbild der Physik übereingestimmt haben. Noch gegen Ende des letzten Jahrhunderts hat die englische Royal Academy of Science Queen Victoria gemeldet, das Universum sei fast ganz enthüllt, es gebe praktisch nichts mehr zu entdecken. Und in Amerika entstand ein ähnlicher Bericht an den Senat. Einer namens Kelvin hat einem brillanten Studenten abgeraten, Physik zu studieren, weil er gemeint hat, es gäbe in der Physik nichts mehr zu entdecken.
Dann verliefen einige Versuche komisch, nicht so, wie sie hätten sollen und darauf haben sich die Physiker gestürzt. Daraus entstanden die Atomwissenschaft, die Relativitätstheorie, Quantenphysik usw. Also aufgrund von ein paar Ausnahmen von der Regel – man hätte ja auch sagen können, 99 % der Fälle sind abgedeckt, das 1 % spielt keine große Rolle – hat sich das Weltbild der Physik radikal geändert.
In der Psychologie und Medizin dagegen wird immer nur die Mehrheit berücksichtigt und man beschäftigt sich damit. Aber wenn nur ein einziger Mensch von unheilbarem Krebs geheilt wird, dann müsste das untersucht werden, denn das ist das Interessante. Und wenn ein einziger Mensch in der Lage ist, seinen physischen Körper zu verlassen und von oben sich und die Welt zu sehen – und solche Fälle sind in der Parapsychologie-Forschung unter wissenschaftlichen Bedingungen dokumentiert –, wenn es dort einen einzigen gibt, dann müsste man sich darauf stürzen, Erklärungen dafür suchen. Statt dessen hält man dieses materialistische Weltbild, das die Physik längst hinter sich gelassen hat, weiter aufrecht und bringt es sogar immer mehr in die Medizin und die Psychologie hinein, wo es überhaupt nichts verloren hat.
Daher ist es durchaus gut für einen selbst, ein paar solcher Dinge zu beherrschen.
Eine andere Sache wäre, und da bin ich ein bisschen skeptisch, es auch ein paar Menschen beibringen, um es so Wissenschaftlern dokumentieren zu können. Wenn zum Beispiel zehn Leute in einem Raum kollektiv einen Meter hochsteigen, das könnte die Wissenschaft es vielleicht nicht mehr ohne weiteres ignorieren. Es müsste sie eigentlich revolutionieren. Aber wahrscheinlich würde es nur ein Riesenspektakel geben und dem authentischen spirituellen Interesse eher schaden.
43. Kâyâkâshayoh sambandha-samyamât laghu-tûla-samâpattesh châkâsha-gamanam
Zurück zum dritten Kapitel
Kâya = Körper; âkâshayoh = Raum, Äther; sambandha = Beziehung; samyamât = durch Übung von Samyama; laghu = leicht; tûla = Watte; samâpatteh = durch Verbindung; cha = und; âkâsha = Raum, Äther; gamanam = hineingehen, hindurchgehen
Indem man Samyama auf die Verbindung zwischen Akasha (Äther) und Körper und auf die Spannkraft leichter Gegenstände ausführt, erhält man die Fähigkeit, durch den Raum zu reisen.
Hier ist die Astralreise beschrieben. Den ersten Teil, wie man den Körper verlassen kann, habe ich bereits erwähnt.
„Spannkraft leichter Gegenstände“ gibt eine andere Technik an. Wir können uns konzentrieren auf Gegenstände, die im Wind schweben. Dann bekommen wir auch die Fähigkeit, im Wind zu schweben und damit Astralreisen zu machen. Leichter, meine ich, ist die erste Methode.
44. Bahir akalpitâ vrittir mahâ-videhâ; tatah prakâshâvarana-kshayah
Bahih = außen, außerhalb; akalpitâ = unvorstellbar; vrittih = Gedankenwellen, Zustand des Verstandes; mahâ–videhâ = die übernatürliche Kraft, außerhalb des (physischen oder mentalen) Körpers zu verweilen; tatah = daher, davon; prakâsha = Licht; âvarana = Verhüllen; kshayah = Verschwinden
Durch die Ausführung von Samyama auf geistige Veränderungen jenseits von Ego und Intellekt kommt die Fähigkeit, außerhalb des physischen Körpers zu verbleiben.
Jetzt erklärt Patanjali, wie man den physischen Körper dauerhaft verlässt, wenn man will, ohne dass der physische Körper gleich stirbt. Das geht auch dann, wenn das Karma noch nicht vollständig abgearbeitet ist.
Im ersten Kapitel hatten wir von Jivanmukti und Videhamukti gesprochen. Jivanmukti ist die lebendige Befreiung, die Befreiung, während man weiter in seinem physischen Körper lebt, Videhamukti ist die Befreiung ohne den Körper.
Mahavideha, wahrhafte Nichtkörperlichkeit, wird erreicht, wenn wir es schaffen, jenseits der Vrittis (Gedanken) zu kommen. Man kann den Körper einfach so verlassen, indem man sich nicht mehr mit dem physischen Körper, dem Ego und dem Intellekt identifiziert – und damit ist man dauerhaft davon befreit.
Wollt ihr das gerade mal ausprobieren? – Wartet aber, bis wir mit allen Kapiteln durch sind!
Es gibt noch eine zweite Interpretation dieses Aphorismus. Die Fähigkeit, sich mit dem physischen, mentalen und anderen Körpern nicht mehr zu identifizieren entsteht, wenn wir jenseits von Ego und Intellekt spüren, wer wir wirklich sind. Wir spüren dann diese Mahavideha, diese große Körperlosigkeit. Und es ist wiederum ganz praktisch, sich öfter mal selbst zu fragen: Was ist jenseits von Ego und Intellekt? Diese Frage geht ja schon über Emotion und Prana und was sich da sonst noch alles anklammert, hinaus.
45. Sthûla-svarûpa-sûkshmânvayârthavattva-samymâd bhûta-jayah
Sthûla = grob; svarûpa = wirkliche Form, Natur; sûkshma = subtil; anvaya = alles durchdringend; artha-vattva = dem Zwecke förderlich, Funktion; samyamat = durch Ausführung von Samyama; bhûta = Elemente; jayah = Herrschaft, Meisterschaft
Durch die Ausführung von Samyama auf die Elemente in ihren groben, beständigen, subtilen, durchdringenden und funktionellen Zuständen können sie vom Yogi kontrolliert werden.
Wenn wir uns ganz bewusst auf ein Element konzentrieren, bekommen wir die Herrschaft darüber.
Eine Technik dafür ist zum Beispiel die Samanu-Konzentration (bestimmte Atem- und Konzentrationstechnik), wo wir uns auf die Reinigungswirkung der Elemente konzentrieren.
In den Hatha Yoga-Schriften wie der Gheranda Samhita und der Yoga Vasishta sind diese Techniken detailliert beschrieben.
46. Tato ¢nimâdi-prâdurbhâvah kâya-sampat tad dharmânabhighâtas cha
Tato = daher, davon; animâdi = Animan usw.,die Gruppe der acht Siddhis, zu denen Animan, den Körper klein wie ein Atom zu machen, gehört; prâdurbhâvah = Erscheinung; kâya = physischer Körper; sampat = Vollkommenheit; tat = von ihnen (den Elementen); dharma = Funktionen; anabhighâ-tah = Nichtüberwältigung; cha = und
Aus der Fähigkeit, die Elemente zu kontrollieren, entspringen die acht Siddhis, wie z. B. den Körper klein wie ein Atom zu machen, sowie Vollkommenheit und Unverwundbarkeit des Körpers.
Die acht Maha Siddhis, die großen Kräfte, sind:
- Fähigkeit, winzige Größe anzunehmen, sich zu verkleinern zum Atom
- Fähigkeit zu kolossaler Größe
- Fähigkeit zu Schwerelosigkeit
- Fähigkeit, sich ganz schwer zu machen, zu großem Gewicht
- Jede Wunscherfüllung und alles Wissen
- Eintritt in den Körper eines anderen
- Unbehinderter Wille
- Göttliche Macht.
Auf eine gewisse Weise bekommen wir diese acht Fähigkeiten auch im Kleinen am Anfang unseres spirituellen Weges.
Wir sind in der Lage, winzige Größe anzunehmen. Es macht uns zum Beispiel nichts aus, die Toiletten zu putzen und ähnliche Arbeiten zu verrichten oder uns mal tadeln zu lassen.
Aber gleichzeitig auch zu kolossaler Größe: Wenn wir aufgefordert werden, vor fünfhundert Leuten einen Vortrag zu halten, dann machen wir das halt.
Meistens fällt uns das letztere schwerer als das erste. Aber wir können beides. Und wir verhaften uns an keines von beidem.
Schwerelosigkeit: Wir können uns an andere anpassen, wir brauchen nicht immer diese große Schwere zu haben, wo es um uns selbst geht. Wir sind in der Lage, auch mal das zu tun, was die anderen wollen und doch ganz autonom zu bleiben.
Großes Gewicht: Wir können wenn nötig auch auf unserem Standpunkt beharren, uns durchsetzen.
Wir haben die Fähigkeit zu jedem Wunsch oder Wissen. Wir können uns ab und zu unsere Wünsche erfüllen. Umgekehrt heißt Herrschaft über den Wunsch auch, dass wir in der Lage sind, den Wunsch nicht zu erfüllen. Beides gehört zum Yogi. Er ist in der Lage, sich mal einen Wunsch zu erfüllen und alles Mögliche dafür zu tun, er ist aber auch in der Lage, den Wunsch nicht zu erfüllen, ohne sich deshalb frustriert zu fühlen. Und damit erwirbt er auch das Wissen, das er braucht.
Eintritt in den Körper eines anderen auf andere als wörtliche Weise: Man kann sich in einen anderen Menschen hineinversetzen, mit ihm fühlen.
Unbehinderter Wille und göttliche Macht: Durch regelmäßige Übung der Yogapraktikten, Innenschau, Hingabe an Gott, Anwendung der Raja Yoga-Techniken zur Persönlichkeitsentfaltung entwickeln wir allmählich eine starke Willens- und Gedankenkraft.
47. Rûpa-lâvanya-bala-vajra-samhananatvâni kâya-sampat
Rûpa = Schönheit; lâvanya = Anmut; bala = Stärke; vajra-samhana-natvâni = stählerne Härte, außergewöhnliche Festigkeit; kâya = Körper; sampat = Vollkommenheit
Vollkommenheit des Körpers ist Schönheit, gutes Aussehen, Kraft und absolute Festigkeit.
Durch die Konzentration auf die Elemente könnt ihr das auch alles bekommen, wenn ihr wollt. Da der Körper aus den Elementen, kann man ihn durch Konzentration auf die Elemente vervollkommnen.
Es gibt eine Tradition im Hatha Yoga, deren Hauptziel es ist, den physischen Körper unsterblich zu machen. Wobei damit nicht wirklich unsterblich gemeint ist, sondern die Absicht, ihn sehr dauerhaft zu machen, ein paar tausend Jahre alt werden zu lassen. Zu den spezifischen Techniken dabei gehören in Abständen von einigen Jahren jeweils mehrere Monate dauernde „Verjüngungskuren“, mit allen möglichen Kriyas (Reinigungshandlungen), Mudras, Asanas, wo vor allem Kopfstand und Schulterstand sehr sehr lange gehalten werden, mit besonderer Diät und Kräutern, und auch die Elementekonzentration. Durch die Elementekonzentration bekommt man Herrschaft über die Elemente und so kann man den physischen Körper etwas länger erhalten.
Ein Bekannter von mir behauptet, er hätte jemanden gekannt, der 1500 Jahre alt gewesen sei, aber vor zehn Jahren sei er gestorben. Ich muss zugeben, ich bin bei solchen Geschichten etwas skeptisch. Es wird viel behauptet und die Inder kennen typischerweise ihr Geburtsdatum nicht. Heutzutage vielleicht schon, aber die Älteren eher nicht. Deshalb weiß keiner so genau, wie alt jemand dann wirklich ist. Aber ich habe auch selbst schon außergewöhnliche Dinge gesehen, so dass ich auch nicht ausschließe, dass es so etwas gibt.
Dann gibt es heutzutage Menschen, die ihre Zellen unsterblich machen wollen. Ich persönlich sehe keinen großen Sinn darin. Ob der physische Körper nun ein paar Jahrzehnte länger lebt oder nicht, was bedeutet das schon? Das Selbst ist unsterblich. Meistern sei es unbeschadet, ihr Leben zu verlängern, wenn sie feststellen, dass sie noch einiges zu tun haben, noch Karma ausarbeiten müssen. Sie machen das dann bewusst noch in diesem Körper, anstatt im nächsten Leben wieder von vorne anzufangen, viele Jahre unbewusst zu verbringen, bis im nächsten Leben dann langsam die Spiritualität wieder erwacht. In einem solchen Fall kann man sich sagen: Ich mache lieber etwas, damit der physische Körper etwas älter wird. Wir machen hier ja auch einiges dafür: Asanas, Pranayama, richtige Ernährung, Stressabbau durch Tiefenentspannung und Meditation usw. Damit erhöhen wir unsere Lebenserwartung wahrscheinlich um zehn bis fünfzehn Jahre; aber sehr viel mehr wird es wohl nicht ausmachen, also sicher nicht Hunderte von Jahren.
Diejenigen, die in diesem Jahrhundert die physische Unsterblichkeit am lautstarksten propagiert haben, sind nicht übermäßig alt geworden. Es gibt auch einen Klub der Unsterblichen. Habt ihr von dem schon einmal gehört? Sie sagen, Tod, Sterben, ist nur ein geistiger Irrtum. Wenn man nicht ans Sterben glaubt, stirbt man auch nicht. Nach der Satzung wird man aus dem Klub ausgeschlossen, wenn man krank wird. Denn wer schwere Krankheiten bekommt, hat sich nicht an die geistigen Grundlagen des Vereins gehalten, heißt es. Ein paar Krankheiten, die als Reinigungsprozesse gelten, sind zugelassen. Somit stirbt auch fast niemand aus diesem Verein der Unsterblichen. Das Durchschnittsalter ist etwa Ende Dreißig!
Trotzdem, die Herrschaft über den Körper kann über die Elementekonzentration erreicht werden.
48. Grahana-svarûpâsmitânvayârthavattva-samyamâd indriya-jayah
Grahana = Kraft der Erkenntnis; svarûpa = wahre Natur; asmitâ = Egoismus; anvaya = alles durchdringen; arthavattva = Zweckdienlichkeit, Funktion; samyamât = durch Übung von Samyama; indriya = Sinnesorgane; jayah = Herrschaft
Meisterung der Sinnesorgane wird durch das Ausführen von Samyama auf ihre Kraft der Wahrnehmung, ihre wahre Natur, ihre Beziehung zum Ego, ihre Beherrschung und ihre Funktion erlangt.
Auf diese Weise könntet ihr euer Hören, Sehen, Riechen usw. verbessern.
Aber die Meisterung ist hier zweifach zu verstehen.
Zum einen kann man die Sinnesorgane besser benutzen und zum zweiten kann man sie auch besser beherrschen.
Samyama ausführen auf die Kraft der Wahrnehmung heißt, ganz bewusst etwas anzuschauen und sich dabei auf die Wahrnehmungskraft zu konzentrieren. Oder man kann sich auf die wahre Natur der Kraft der Wahrnehmung als solches konzentrieren, auf ihre Beziehung zu unserem Ego, auf ihre Funktion und schließlich auf ihre Beherrschung. Das enthüllt einem dann intuitiv, wie man das Organ beherrscht, so dass man nicht mehr durch das Organ nach draußen gezogen wird. Zum anderen können wir damit erreichen, dass die Organfunktion besser erfüllt wird.
Vielleicht eine praktische Anwendung für Menschen, die sehr am Essen hängen. Wir sind ja in unserer Zivilisation eine Gesellschaft von Eßgestörten. Viele denken, sie seien zu dick, manche denken, sie seien zu dünn. Fast niemand meint, das richtige Gewicht zu haben. Zwischen 10 % der weiblichen Jugendlichen, nach anderen Untersuchungen sogar 20 %, haben die Eß-Brechsucht oder die Freß-Fastsucht, sind also total essensgestört. Vieles kompensieren wir über das Essen. Und die Hauptsünde heutzutage ist es, zu viel zu essen.
Diesen Sinn könnte man beherrschen, indem man Samyama ausführt auf den Geschmack an sich. Was ist Geschmack an sich? Was ist die Natur des Schmeckens? Wie bezieht sich mein Ego auf dieses Schmecken? Was bedeutet für mich Beherrschung dieses Geschmacksinns? Und was ist eigentlich die ursprüngliche Funktion des Geschmackssinns? Das könnte man zunächst einmal als Anlass nehmen für Swadhyaya, für Selbststudium, logisches Nachdenken. Das ist noch nicht Samyama. Auch das kann schon helfen. Paradoxerweise, wenn ich jetzt darüber spreche, sammelt sich Speichel im Mund. Geht es euch auch so? – Die Kraft des Geistes! Man spricht nur über Geschmack und die Kraft der Wahrnehmung – wenn ihr euch noch dazu einen Obstkuchen oder eine saftige Mango vorstellt ….! Danach geht man über das Nachdenken hinaus, führt Samyama darüber aus, das heißt, man spürt einfach und geht in das hinein, worüber man vorher nachgedacht hat – man versucht, die Natur des Schmeckens, des Geschmacksinns, seine Funktion, die persönliche Beziehung dazu usw. jetzt intuitiv zu erfassen. So können wir unseren Eßsinn beherrschen, wenn wir wollen.
Aber statt zu versuchen, den Eßsinn zu beherrschen, ist es meist sinnvoller, aufzuhören zu denken, wir müssten aussehen wie eine Barbiepuppe.
49. Tato manojavitvam vikarana-bhâvah pradhâna-jayash cha
Tatah = daher, davon; manojavitvam = Flüchtigkeit; vikarana-bhâvah = Unabhängigkeit von Werkzeugen; pradhâna = Prakriti, die Natur, Schöpfung; jayah = Herrschaft, Meisterschaft; cha = und
Daraus folgt die unmittelbare Fähigkeit, Wissen ohne Gebrauch der Sinne und vollständige Meisterschaft über Prakriti zu bekommen.
Wenn wir die Sinnesorgane meistern, können wir darüber die Fähigkeit zur direkten Wahrnehmung ohne Sinne erwerben. Patanjali sagt hier, wir bekommen direktes Wissen ohne Einschaltung des Geistes, einfach indem wir uns in etwas anderes hineinversetzen. Aber wir können ebenso, wenn wir unseren Geist beherrschen, ihn ohne die Sinne zu einem Objekt oder einem Wesen hinschicken und es so intuitiv wahrnehmen. Auch bei geschlossenen Augen können wir zum Beispiel in einen Raum nebenan schauen.
50. Sattva-purushânyatâ-khyâti-mâtrasya sarva-bhâvâdhishthâtritvam sarvajnâtritvam cha
Zurück zum dritten Kapitel
Sattva = Reinheit, eine der drei Gunas, Eigenschaften der Natur; purusha = Purusha, das individuelle Selbst; anyatâ = Unterscheidung; khyâti = Gewahrung; mâtrasya = nur; sarva = alle; bhâva = Daseinszustände, -formen; adhishthâtritvam = Vorherrschaft, Allmacht; sarva–jnâtritvam = Allwissenheit; cha = und
Nur durch die Verwirklichung des Unterschiedes zwischen Sattwa (Reinheit) und Purusha (das höchste Selbst) erlangt man Allmacht und Allwissenheit.
Diese Unterscheidung zwischen unserem wahren Selbst, Purusha, und Sattwa, der Reinheit, hatten wir schon einmal. Reinheit ist das, womit man sich als spiritueller Aspirant gerne identifiziert: Freude, Wonne, Schönheit, Reinheit, Wissen, Licht, Liebe und all das. Sattwa ist zwar positiver als Rajas und Tamas, aber auch die Identifikation mit Sattwa ist und bleibt eine Identifikation, die uns bindet. Und darüber hinaus gelingt es uns nie, unser Leben wirklich in jeder Hinsicht und vollständig sattwig zu machen. Denn Sattwa ist eine Guna (Eigenschaft der Natur) und die Gunas sind parinama, d. h., in ständiger Veränderung. So ist es alles im Leben mal schön, mal nicht so schön – Sattwa, Rajas und Tamas lösen sich ab, wobei wir danach streben, Sattwa immer weiter zu erhöhen.
Aber es gibt immer noch einen Unterschied zwischen diesen wunderschönen sattwigen Visionen, den wunderschönen Wonneerfahrungen der Anandamaya Kosha oder auch Sarvikalpa Samadhi und unserem wahren Selbst. Indem wir uns auf diesen Unterschied zwischen Sattwa und Purusha konzentrieren, erreichen wir Allwissenheit. Denn Sattwa war die erste Manifestation der Prakriti (Schöpfung, Natur), die von Purusha ausging.
Indem wir den Unterschied zwischen Sattwa und Purusha erfassen, kommen wir zurück zu diesem Urpunkt, von dem die Schöpfung und unsere eigene Verwicklung in Prakriti ausgeht. Wir erkennen intuitiv das Prinzip, das Warum und Wie der Schöpfung. Was jetzt nicht notwendigerweise heißt, dass wir es wirklich in allen Details wissen ––dazu müssen wir nochmals die spezifischen Samyamas ausführen – aber wir haben das generelle Wissen darüber, die richtige Antwort auf die Frage: Warum ist das Universum zustande gekommen? Was ist die Ursache für das Universum? Die richtige Antwort ist: Man kann es in Worte nicht fassen. Verwirkliche den Unterschied zwischen Purusha und Sattwa, dann weißt du es.
Das zweite wichtige Stichwort ist Allmacht. Allmacht ist auf zwei Weisen zu verstehen. Einmal hat man jetzt alle Siddhis, das ist der machtvollste Zustand. Man kehrt zurück zum Beginn der Schöpfung, ist in diesem Urprinzip, und hat von daher die Fähigkeit, die ganze Schöpfung zu ändern. Aber insbesondere hat man die Fähigkeit, die Schöpfung zu verlassen, wenn und wann man will, d. h., in Nirvikalpa Samadhi, Asamprajnata Samadhi einzugehen oder auch wieder zurückzukehren, wenn wir wissen, dass der Körper noch Karma abzuarbeiten hat. Wir haben diese ursprüngliche Macht zurückgewonnen, in die Welt hinein- und aus der Welt herauszugehen.
51. Tad-vairâgyâd api dosha-bîja-kshaye kaivalyam
Tad–vairâgyât = durch Nichtanhaften (an den in Vers 50 erwähnten Siddhis); api = sogar; dosha = Bindung; bîja = Samen; kshaye = bei Zerstörung; kaivalyam = Befreiung
Durch das Nichtverhaftetsein sogar an diese, die Allmacht und Allwissenheit des Purusha, kommt die Zerstörung des letzten Samens der Bindung, und man erlangt Befreiung.
Mit der Verwirklichung des Unterschiedes zwischen Purusha und Sattwa, dem subtilsten Teil von Prakriti, haben wir vollkommene Allmacht erlangt. Wenn wir uns daran nicht verhaften, tad-vairagyad, also auch diesem entsagen, dann kommen wir zu kaivalya, zur Befreiung. Api dosha bija kshaye: Der letzte Samen der Bindung wird zerstört.
Jetzt kommt noch einmal eine Warnung:
52. Sthâny-upanimantrane sanga-smayâ-karanam punar anishtaprasangat
Sthâni = hyperphysische Wesenheit; upanimantrane = eingeladen; sanga = Anhaften, Vergnügen; smayâ = Stolz, Gefallen; akarana = Vermeidung; punah = wieder; anishta = Unerwünschtes, Schlechtes; prasangât = infolge Wiederbelebung
Laden ihn himmlische Wesen ein, sollte der Yogi nicht Vergnügen oder Stolz fühlen, denn es besteht die Gefahr der Wiederbelebung des Schlechten.
Es gibt, wie bereits besprochen, verschiedene Versuchungen durch astrale Wesen. Es kommen Engel, wunderschöne Gandarvas und Apsaras usw., mit herrlicher Musik, die einem himmlische Erfahrungen, Gefühle, Bilder versprechen, einen die Gesetze verschiedener Ebenen lehren wollen. Da gilt es, vorsichtig zu sein, denn das ist nicht das Ziel!
53. Kshana-tat-kramayoh samyamâd vivekajam jnânam
Kshana = Augenblick; tat-kramayoh = seine Ordnung, Aufeinanderfolge; samyamât = durch Ausübung von Samyama; vivekajam = „geboren aus der Wahrnehmung der Wirklichkeit“, Unterscheidungskraft; jnânam = Wissen
Durch die Ausführung von Samyama auf einen Augenblick und seine Folge erreicht man Unterscheidungskraft.
Wenn wir einen gewissen Augenblick sehen, diesen Moment, und überlegen, was daraus entstehen könnte, dann bekommen wir Unterscheidungskraft. Wir merken, was da ist, was für einen Wunsch wir gerade haben. Wir konzentrieren uns auf diesen Augenblick, wo wir gerade dabei sind, eine Dummheit zu begehen. Und wir konzentrieren uns auf die Folge. Dann kommt die Unterscheidungskraft: Lieber nicht – in Anlehnung an einen Vers aus dem zweiten Kapitel: „Heiam dukam anagatam“: „Leid, das sich noch nicht manifestiert hat, sollte vermieden werden“ – ein wichtiger Vers, den wir öfter vergessen.
Viele Menschen machen das leider nicht – einen Augenblick innezuhalten und sich auf die Folgen und Auswirkungen eines Wunsches oder einer Handlung zu konzentrieren –, sondern sie tun es einfach. Das ist die einfache Interpretation dieses Verses.
Er hat aber auch eine tiefere, philosophischere Ebene. Wenn man über den Augenblick und seine Folge nachdenkt, kommt man zur letzten Unterscheidungskraft, nämlich, dass Zeit eine Illusion ist.
Er ist im Kleinen anzuwenden wie auch im Großen, wie fast alle Verse des dritten Kapitels.
Eine weitere interessante Interpretation ist die von Swami Vishnu: Leben im Hier und Jetzt. Man konzentriert sich auf das Jetzt, statt immer in der Zukunft zu leben. Nicht ständig überlegen: Was könnte ich noch machen, was muss ich noch tun, ich werde glücklich sein, wenn …
Dabei ertappe ich mich immer, wenn es um den Ashram hier geht. Ich denke immer, wenn die und die Mitarbeiter so und so lange da sind und sich in dieses und jenes Gebiet eingearbeitet und richtig eingelebt haben und wenn die Mannschaft vollständig ist, dann wird alles glatt laufen. Eigentlich müsste ich es besser wissen.
Ich bin jetzt seit 18 Jahren in solchen Yogazentren und es war nie so gewesen, dass alles auf ideale Weise besetzt ist. Ich weiß nicht, ob das bei allen spirituellen Organisationen so ist oder ob es eine spezifische Energie ist gerade von Swami Vishnu. Im Sivananda-Ashram in Rishikesh habe ich immer das Gefühl, dass es dort viel gemütlicher zugeht. Dort gibt es ein Büroteam, dessen Mitglieder durchschnittlich schon 20 bis 30 Jahre da sind und wenn in einer Abteilung mal jemand ausfällt, ist es nicht tragisch, dann gibt es mindestens fünf andere, die dort auch Bescheid wissen. So hat man es mir mindestens erklärt, aber wahrscheinlich sieht es auch nur von außen so leicht aus und in Wirklichkeit ist es dort genauso wie hier und wie überall.
Man denkt, in Zukunft wird es so sein, anstatt jetzt im Augenblick, in diesem Moment zu sein, zu leben, zu genießen. Deshalb bemühe ich mich immer wieder darum, diesen Moment, mit allem Chaos, das ab und zu herrscht, als das Leben anzunehmen. Swami Vishnu sagte: „Chaos muss herrschen, dann kann sich das Karma richtig ausarbeiten.
Sobald alles unter Kontrolle ist, lernt man nichts Neues mehr.“ Swami Vishnu hat in den Sivananda Zentren auch immer für Chaos gesorgt, wenn es irgendwo einmal funktioniert hat. Wenn wir in einem Center mal ein Team hatten, in dem sich alle gut verstanden haben, konnte man sicher sein, dass Swami Vishnu bald anruft und denjenigen versetzt, der für die Harmonie im Team vielleicht am notwendigsten war. Oder er versetzt einen neuen Mitarbeiter dorthin, der ein richtiger Krawallstifter ist und sich woanders hoffnungslos mit allen überworfen hat. Viele solcher Dinge hat Swami Vishnu im Bewusstsein gemacht, Diener und Kanal Gottes zu sein. Irgendwie hat er gespürt, das muss er jetzt machen und hat es halt gemacht. Ob er das bewusst gemacht hat, um jemanden nicht zu sehr in Trägheit und Ruhe verfallen zu lassen, weiß ich nicht. Aber es hieß dann so schön: „Swami Vishnu wirft wieder eine Bombe!“ Irgendwie habe ich das Gefühl, er macht es hier mit uns im Yoga Vidya-Ashram auch. Aber das ist dann eine Notwendigkeit, damit wir Neues lernen.
Wir ruhen uns nicht aus, sondern wir lernen, immer wieder im Moment zu sein, zu tun, was jetzt in diesem Moment notwendig ist und wir lernen, alle Verhaftungen aufzugeben. Wir müssen immer wieder bereit sein, Projekte oder unsere Aufgaben aufzugeben, etwas anderes zu tun, wenn es notwenig ist, ohne uns dabei zu verheddern. Indem wir Konzentration auf den Augenblick üben: Was liegt in dem Moment an? Was ist in dem Moment zu tun? Was lerne ich in dem Moment? Wie manifestiert sich Gott in diesem Moment? Wie offenbart er sich in diesem Moment, bekommen wir Unterscheidungskraft?
54. Jâti-lakshana-deshair anyatânavacchedât tulyayos tatah prapratipattih
Jâti = Klasse; lakshana = Merkmal; deshaih = Ort, Position; anyatâ = Trennung, Unterschied; anavac-chedât = infolge der Abwesenheit von Definition; tulyayoh = der zwei gleichen; tatah = davon; prati-pattih = Verständnis, Wissen (des Unterschiedes)
Die Unterscheidungskraft führt auch zum Wissen um den Unterschied zwischen zwei ähnlichen Objekten, wenn ihr Unterschied nicht durch Klasse, Charakteristika oder Ort bestimmt werden kann.
55. Târakam sarva-vishayam sarvathâ-vishayam akramam cheti vivekajam jnânam
Târakam = transzendent, das, was zum Überqueren hilft; sarva–vishayam = alle Objekte gleichzeitig erkennend; sarvathâ–vishayam = allen Objekten zu jeder Zeit und in jedem Raum angehörend; akra-mam = ungeordnet; cha = und; iti = fertig, Ende; vivekajam = aus Unterscheidungskraft; jnânam = Wissen
Das höchste Wissen, geboren aus der Unterscheidungskraft, transzendiert alles, es nimmt alles gleichzeitig in Zeit und Raum wahr und transzendiert alles, sogar die Weltprozesse.
Wenn wir diese Unterscheidungskraft, Viveka, gut trainiert haben, wenn wir ganz in der Gegenwart leben, wenn wir uns auf diesen Augenblick und seine Folge bzw. eigentlich sogar auf das Geschehen zwischen Augenblick und Folge konzentrieren, dann sind wir in allem. Aus dieser Unterscheidungskraft transzendieren wir alles.
In dieser Viveka stehen wir zwischen Purusha (das höchsten Selbst) und Prakriti (Natur, Schöpfung, Universum) und haben die Wahl, entweder das Universum als Ganzes gleichzeitig wahrzunehmen – was Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Hier, Jetzt und Überall gleichzeitig einschließt – , oder Prakriti, die Schöpfung als Ganzes wahrzunehmen, oder uns als reines Bewusstsein in uns zurückzuziehen und einfach nur zu sein, d. h. Purusha zu verwirklichen.
56. Sattva-purushayoh shuddhi-sâmye kaivalyam
Sattva = Reinheit; purusha = Bewusstsein; shuddhi = Reinheit; sâmye = Gleichheit; kaivalyam = Befreiung
Kaivalya, Befreiung, ist erlangt, wenn Gleichheit zwischen Sattwa und Purusha vorhanden ist.
Wenn Purusha (das höchste Selbst) in sich selbst ruht, hört Prakriti (Natur, Universum, Schöpfung) auf zu arbeiten. Das Universum hört für einen selbst, für diese individuelle Manifestation des Purusha, auf zu existieren. Die Natur hört auf, für uns zu bestehen und wir sind endgültig befreit. Man ruht im Unendlichen. Man ist das Unendliche. Für die anderen, die diese Erfahrung nicht haben, bleibt die Welt jedoch bestehen.