No sex, no drugs… but… let´s rock´n roll to freedom!
von Dh. Kulanandi
Zölibat? Hat das heute überhaupt noch eine Berechtigung? In einem fiktiven Gespräch erzählt Kulanandi dazu einiges aus ihrer persönlichen Erfahrung.
Ein Dienstagabend im Buddhistischen Zentrum Essen. Der Tee ist fertig. Der Raum füllt sich. Der Gesprächspegel steigt. Tassen klappern. Gelächter ertönt.
Eine Ordensfrau unterhält sich mit einigen Freunden vor der Teetheke.
„Warum hast du eine khaki Schärpe um den Hals … .oder ist sie grün?“
„Khaki? Grün? Oh je! Eigentlich soll sie golden sein. Sie werden in Indien genäht und sie konnten damals nicht die richtige Farbe finden. Ja, mein Kesa – so nennen wir diese Schärpen – sollte eigentlich golden sein – golden wie die Sonne, wie der Buddha..“
„Hat die Farbe eine Bedeutung? Die anderen Ordensmitglieder haben weiße Schärpen um den Hals.“
„Ja, als ich ordiniert wurde, bekam ich auch ein weißes Kesa, aber 1996 entschied ich mich Anagarika (Lama Anagarika Govinda (1898 – 1985) war der deutsche Brahmachari Ernst Lothar Hoffmann, ein moderner Interpret des Buddhismus und Taoismus, sowie Schriftsteller und Kunstmaler) zu werden. Ich entschied mich im Zölibat zu leben und legte öffentlich, im Rahmen einer kleiner Zeremonie, das Keuschheitsgelübde ab.“
„Ach so! Du bist Nonne!“
„Nein! Ich bin keine Nonne! Ich möchte auch keine Nonne werden! Ich wohne in keinem Kloster. Ich führe kein klösterliches Leben. Ich lebe mitten in der Welt, aber meine Absicht ist, nicht von der Welt zu sein. Das hört sich sehr abstrakt an, nicht wahr?“
„Ja! Was meinst du damit‚ nicht von der Welt zu sein’?“
„Also, ich versuche meinem Leben eine andere Ausrichtung zu geben. Zum Beispiel suche ich keine Sicherheit in einer Familie oder in einer sexuellen Beziehung und ich suche auch keine Sicherheit in einem Beruf. Ja! Und das hört sich vielleicht ein bisschen komisch an, aber ich versuche auch keine Sicherheit in der Tatsache zu suchen, dass ich eine Frau bin! Tja, die Normen und Werte, die Schwerpunkte, die Selbstverständlichkeiten, die in der Gesellschaft, in der Welt so oft vorgegeben werden, sind nicht mehr meine. Das heißt, ich strebe das jedenfalls an!“
„Wie lebst du dann? Du lebst doch in der Welt.“
„Na ja. Das stimmt. Die Äußerlichkeiten sehen nicht besonders radikal aus. Zur Zeit wohne ich allein; Ich habe keine sexuelle Beziehung, habe kein sexuelles Leben und suche mir keins. Zur Zeit bin ich vollzeit hier im Zentrum tätig und werde dafür finanziell unterstützt. Vor ein paar Jahren arbeitete ich als Dozentin an der Uni in Dortmund. Ich war damals schon Anagarika. Das war eine interessante Erfahrung für mich! Ich war mitten in der Welt tätig, übte innerlich aber eine Orientierung, die wahrscheinlich der meiner Kollegen und meiner Studenten völlig zuwiderlief. Trotzdem merkte ich, wie verführerisch ich es manchmal fand, auch befördert werden zu wollen, weil Ehrgeiz unter den Kollegen so sehr in der Luft hing.
Wenn du Anagarika bist, heißt es längst nicht, dass du keine weltlichen Impulse und Antriebe mehr hast. Ganz im Gegenteil! Aus meiner Erfahrung werden einem vielleicht erst dann die Impulse und Antriebe wirklich bewusst! Mir wurde übrigens wegen finanzieller Maßnahmen plötzlich gekündigt und da habe ich ganz schön meine Begierde nach einem sehr guten Einkommen und dem Dozentin-Status neu gespürt. Das wurde dann ganz schön deutlich!“
„Aber ich verstehe nicht, was das alles mit Sex zu tun hat – oder keinem Sex!“
„OK! Du kennst die 5 ethischen Vorsätze, nicht wahr? Es gibt den dritten Vorsatz: Ich nehme mir vor, aufzuhören mit sexuellem Fehlverhalten. Und du kennst auch die positive Formulierung dieses Vorsatzes: Mit Stille, Schlichtheit und Genügsamkeit läutere ich meinen Körper. Als Anagarika habe ich ein Gelübde abgelegt, keusch in Körper, Rede und Geist zu leben und ich versuche den „positiven“ dritten ethischen Vorsatz immer tiefer zu verstehen und in meinem Leben mehr zu verkörpern und zu verwirklichen. Es ist nicht, dass Sex „schlecht“ ist. Das meine ich überhaupt nicht. Sex ist etwas Natürliches, etwas zum Genießen. Viele fühlen sich sicherer und emotional ausgewogener, wenn sie eine sexuelle Beziehung haben.
Sex ist ein sehr starker Antrieb, oder? Er kann meinen Körper „füllen“, er kann meinen Geist „füllen“, er kann meine Sprache als Mittel benutzen, um zu bekommen, was ich möchte. Obwohl dieser Antrieb und die sexuellen Gefühle mir gehören, sind sie meistens auf andere Menschen gerichtet, von denen wir uns sexuelle Erfüllung versprechen. So viel Energie fließt in das Streben nach dieser Erfüllung. So viel von meinem Selbstwert ist mit der Hoffnung auf diese Erfüllung verbunden.
Wir entfernen uns dadurch ziemlich von uns selbst. Wir machen uns von unserer Sexualität abhängig, in vielen Hinsichten. Wie viel Zeit, wie viel Raum, wie viel Energie, wie viele Gedanken, wie viele Emotionen … wie viel Leid und wie viele Schmerzen kreisen um Sex? Es macht mich müde, wenn ich bloß darüber nachdenke!
Vielleicht wird es jetzt klarer, warum einige sich für einen spirituellen Weg entscheiden, bei dem sie diese Energie und diesen Antrieb anders nutzen können. Vielleicht könnte man sagen: die Richtung geht nicht mehr nach außen, sondern nach innen. Es geht mehr um Integration als um Polarität! Stille, Schlichtheit und Genügsamkeit. Meditation ist für Anagarikas ein wichtiges und bedeutsames Werkzeug, um diesen Vorsatz zu erforschen.
In der Meditation kann ich immer wieder offen sein und versuchen diese starke Energie und diesen Antrieb zu spüren, zu integrieren und umzuwandeln. Ich muss ständig lernen was es heißt, Anagarika zu sein. Ständig fragen, wo ich mehr Stille, Schlichtheit und Genügsamkeit mit meinem Körper, meiner Rede und meinem Geist üben und erleben kann. Was ist eigentlich Stille, Schlichtheit und Genügsamkeit?“
„Das ist eine sehr provokative und radikale Aussage! Besonders in unserer Gesellschaft. Ich bin sicher, es gibt einige, die deine Worte nicht so gerne hören würden! Sexuelle Beziehungen werden so gepriesen, spiritualisiert und psychologisiert!“
„Ja, Anagarika zu sein ist radikal! Das gefällt mir! Ja, ich habe ein Gelübde abgelegt und damit hat alles angefangen. Obwohl die Sache mit dem Zölibat schon wichtig ist, steht es für mich eigentlich mehr symbolisch für eine bestimmte Ausrichtung in meinem Leben und das ist eine tiefe Symbolik. Wenn du jedes Ordensmitglied fragen würdest, die oder der Anagarika ist, warum sie diese Entscheidung getroffen haben, würdest du wahrscheinlich jedes Mal eine andere Antwort bekommen.
Für mich war es ein intuitives Gefühl, dass ich, in Hinsicht auf mein spirituelles Leben, meinen Fuß auf der Bremse hatte. Dieses Gefühl manifestierte sich in der ständigen inneren Frage: Sollte ich eine sexuelle Beziehung anfangen? Ich hatte schon lange keine Beziehung mehr gehabt und dachte, dass mit mir vielleicht etwas „nicht ganz in Ordnung“ war! Vielleicht verpasse ich irgendwas Wichtiges in meinem Leben?! Na ja. Ich beschäftigte mich mit dieser Frage ganz tief und aktiv. Nach einigen Monaten wurde mir deutlich, dass diese innere Frage eine tieferliegende Unsicherheit verdeckte. Die echte Frage lautete für mich, ob ich mich ganz dem spirituellen Leben hingeben möchte?“
„Du meinst, dass diejenigen, die eine sexuelle Beziehung haben, sich nicht voll dem spirituellen Leben widmen?“
„Das meine ich auf gar keinen Fall! Anagarika oder im Zölibat zu leben, bedeutet nicht, dass man spirituell entwickelter ist. Anagarika zu werden ist keine höhere Ordination. Für mich ist es mein persönlicher Ausdruck, wie ich zur Zeit mein spirituelles Leben leben möchte. Im Zölibat zu leben ist eine Bedingung, Orientierung und Richtung, die ich für mich persönlich gewählt habe.
Ich könnte hinzufügen, dass im Laufe meines spirituellen Lebens spirituelle Freundschaft immer mehr quasi meine spirituelle „Achse“ wird. Spirituelle Freundschaft ist eine Lehre und ein Übungsrahmen, die in mir vibrieren. Sie bedeutet mir viel und steckt voller Lebendigkeit. Ich finde dharmische Lehren manchmal ein bisschen abstrakt oder ich merke, dass ich Widerstand gegen einige Strukturen in den FWBO (Freunde des westlichen Buddhistischen Ordens) spüre.
Wenn ich dann meine „spirituelle-Freundschafts-Brille“ aufsetze und diese Sachen nochmals durch diese Brille anschaue, dann fange ich an, dazu eine emotionale Verbindung herzustellen. Als Anagarika ist für mich das Allerwichtigste, in Freundschaften keine Exklusivität zu suchen. Ich will keine sexuelle Beziehung haben, wo ich diesem anderen „gehöre“ oder wo es eine Partnerschaft gibt. Ich möchte nicht „etwas Besonderes“ für jemanden sein. Ich möchte frei sein, um alle Lebewesen in Freundschaft einzuschließen – auf irgendeiner Ebene. Ein hohes Ideal, ich weiß! Für mich ist ‚Anagarikaschaft’ – die Antithese zu Exklusivität.“
„Kann ich dich was ganz Persönliches fragen? Heißt das, dass du keine sexuellen Impulse mehr hast?“
„Na klar habe ich die! Ich bin genau so anfällig für alles wie jeder andere Mensch. Ich versuche einfach anders damit umzugehen. Hier unterstützt und ermutigt mich die Ernsthaftigkeit eines Gelübdes. Ich muss aufpassen, welche Filme ich sehe, welche Fernsehsendungen, welche Zeitschriften ich aufschlage, welche Phantasien ich nähre. Ich glaube nicht, dass jemand 100% keusch sein kann, was immer das bedeutet. Ich kann zum Beispiel nicht kontrollieren, was in meinen Träumen auftaucht.
Ich habe auch meine Konditionierung als Frau. Ich bin ein sexuelles Wesen. Ich muss sagen, ich kann mir das zwar im Moment überhaupt nicht vorstellen, aber ich darf nicht ganz ausschließen, dass ich mich vielleicht irgendwann in jemanden verliebe. Das wird interessant! Wie gehe ich damit um? Ich könnte immer zu jeder Zeit aus meinem Gelübde ‚aussteigen’. Diese Freiheit bleibt mir immer. Ich könnte auch weiter als Anagarika üben und versuchen, diese Energie zu integrieren.“
„Wie ist es dann für dich mit körperlicher Nähe und Intimität?“
„Ja, körperliche Nähe ist wichtig. Anagarikas brauchen viele Umarmungen … und ab und zu mal eine Massage! Intimität ist ein interessantes Thema. Ich frage mich, ob es nur Intimität bei Sex gibt? Ich glaube nicht. Ich denke, viele verwechseln Intimität mit Sex. Ich war vor einigen Wochen bei einer Freundin in Stockholm, die gerade ihre Tochter verloren hatte. Ein guter Freund von uns beiden war auch da und wir wohnten einige Tage zu dritt zusammen. In dieser Situation und unter diesen intensiven Umständen machte ich eine der tiefsten Erfahrungen von Intimität in meinem Leben. Das hatte gar nichts mit Sex zu tun. Übrigens glaube ich nicht, dass ich Sex brauche, um psychologisch gesund zu sein!
Dieses Argument höre ich oft. Ich habe so viel Leid bei anderen erlebt, wo eine Beziehung gerade schief oder zu Ende geht, und ich kann dir sagen, psychologische Gesundheit war bei den Beteiligten nicht sonderlich vorhanden! Sex ist etwas Natürliches, Aufregendes, Spannendes, Faszinierendes … aber es ist nicht lebensnotwendig! Was Anagarikas besonders brauchen sind regelmäßige gute und tiefe Gespräche. Anagarikas brauchen ehrliche, stimulierende und inspirierende Kommunikation. Sie brauchen gute und tiefe Freundschaften. Das ist es, was für Anagarikas lebensnotwendig ist!“
„Was hast du gesagt? Du bist seit 1996 Anagarika? Was hast du davon gelernt? Oder was bedeutet das alles für dich jetzt?“
„Na ja. Ich bin zufrieden Anagarika zu sein und bin immer noch von diesem Lebensstil inspiriert und überzeugt. Ich glaube, ich renne nicht ständig in dem Bewusstsein herum Anagarika zu sein. Manchmal frage ich mich, warum ich Anagarika bin? Ich hatte eine Ahnung davon, als ich diese Entscheidung für mich vor einigen Jahren getroffen habe aber was diese Entscheidung wirklich bedeutet, das entfaltet sich erst nach und nach, in seinem eigenen Tempo. Ich denke, die Entscheidung hat eine ganz subtile, aber tiefe Wirkung auf mein Leben. Ich entdecke manchmal plötzlich Aspekte in meiner spirituellen Praxis, die ich dann mit meinem Gelübde in Verbindung bringe.
Vielleicht bekommen diese Aspekte oder Elemente dadurch mehr Zusammenhang – mein Verständnis wird weiter und größer. Ein bisschen abstrakt? Zum Beispiel spürte ich irgendwann, dass ich mehr Freiheit in mir als Frau erlebte. Ich fühlte mich nicht so eingeengt oder eingeschüchtert in meiner Konditionierung als Frau. Ich musste keine Erwartungen mehr als Frau erfüllen: wie ich aussehe, wie ich mich benehme und so weiter. Ich konnte so sein, wie ich bin.
Ich erinnerte mich, dass es eine Lehre oder ein Modell für Anagarikas gibt. Anagarikas verweilen in einem „Brahma-Vihara“ – oder wörtlich: an einem Ort, wo die Götter verweilen. Anagarikas erleben keine Polarität als männlich oder weiblich, sondern sie integrieren diese Polaritäten. Diese Lehre oder dieses Modell spricht mich sehr an und das meine ich mit Freiheit!“
Ein anderes Beispiel wäre das Wort ‚Heimatlosigkeit’. Das ist übrigens auch die Bedeutung von Anagarika. Dieses Wort steht auch für Freiheit. Heimatlosigkeit in Körper, Rede und Geist. Manchmal erlebe ich, dass ich so genannte Sicherheiten – meine Heimat – stark als Gefängnis erlebe: meine Wohnung, meine Besitztümer, meine Gewohnheiten, was aus meinem Mund kommt, meine Phantasien, meine Wünsche, meine Begierden, meine gewöhnlichen Beschäftigungen …
Heimatlosigkeit heißt voll da zu sein, mit dem, was gerade ist, und wo man gerade ist. In England sagt man: ‘Home is where I hang my hat’ (Mein Zuhause ist dort, wo ich meinen Hut aufhänge.). Diese Einstellung möchte ich pflegen. Die Rigidität und Starrheit in mir auflockern. Den Mangel an Flexibilität. Da fällt mir gerade ein: Vielleicht ist es das, was mit Stille, Schlichtheit und Genügsamkeit gemeint ist. Voll da zu sein, mit dem, was gerade da ist – in mir und außerhalb von mir.
Dann fällt mir noch das Wort ‚Verzicht’ ein. Kein populäres Wort! Bin ich bereit auf mein Selbstbild zu verzichten? Auf meine Ansichten? Auf meine Meinungen? Auf Macht? Auf Sieg über andere? Auf Vorteile in einer Situation? Auf meine Bedürfnisse? Ja, guck’! Wir sind wieder bei Stille, Schlichtheit und Genügsamkeit gelandet!
In letzter Zeit habe ich mir Gedanken über Polarität gemacht. Ich versuche mir bewusster zu werden, wo ich als Frau eine Polarität in Hinsicht auf Männer erlebe, subtil oder grob, und wie das bei mir seinen Ausdruck findet. Aber was mich manchmal noch mehr interessiert ist, wo ich zu mir selber als Mensch oder Wesen in Polarität trete. Die Aspekte und Elemente in mir, die keine Kommunikation miteinander haben, haben wollen, die entfremdet bleiben, die ich nicht wirklich anschauen möchte. Weit weg von Integration … – Sag’mal! Hat jemand gerade die Glocke geläutet? Ach! Jetzt müssen wir aufhören. Da kommen jetzt die Ansagen. Lass’ uns später weiterreden … ? Oh, weh! Schau! Jetzt habe ich einen großen Teefleck auf meinem khaki Kesa!!“
Dieser Beitrag erschien ursprünglich in den „Nachrichten aus dem Essener Mandala“ im Sommer 2004.