Wirbel der Gefühle
Keiner von uns hat seine Kindheit überlebt, ohne verletzt worden zu sein. Keiner.
Eine der einfachsten – daher für ein Kind auch zugänglichsten – und gleichzeitig wirksamsten Methoden, sich vor weiteren Verletzungen zu schützen und die bereits geschlagenen Wunden verheilen zu lassen, ist der Aufbau eines Schutzpanzers. Dieser Schutzpanzer hat die Funktion, das, was von außen hereinkommt, zu filtern und bei Gefahr abzuwehren. Er wird, je vehementer die subjektiv empfundenen Verletzungen auf ein Kind einstürmen, zusehends dicker und härter.
Der Schutzpanzer, im Volksmund auch „dicke Haut“ genannt, erfüllt seine Funktion verlässlich und getreulich, und das selbst dann noch, wenn aus dem Kind ein Erwachsener geworden ist, der sich aufgrund seiner Erfahrung und seines Intellekts allein und gezielt zur Wehr setzen könnte.
Die Rüstung, die wir tragen, ist so vertraut geworden, ihr Schutz so selbstverständlich, dass uns ihr Gewicht nicht einmal mehr bewusst wird, und wir schon beim Gedanken an ihr Fehlen ängstlich erschauern.
Meist kommt im Leben aber irgendwann der Moment, wo uns schmerzlich bewusst wird, dass der Panzer nicht nur Bedrohliches abblockt: Auch Anerkennung und Liebesbezeugungen dringen nur in Spuren zu uns durch, mag die Umwelt sich noch so abmühen. Und in der anderen Richtung geht’s genauso: wir sind nur unter Anstrengung in der Lage, Gefühle jeglicher Art auszudrücken, sei es nun Freude, Ablehnung, Angst, Wut, Trauer oder Zuneigung.
An diesem Punkt beginnen viele, an der Aufweichung des in langen Jahren hochgepäppelten Panzers zu arbeiten. Sie lernen mit den verschiedensten Methoden, ihre Gefühle erstmal wahrzunehmen, dann zu akzeptieren (nicht jeder liebt seine Wut vom ersten Augenblick an!) und schließlich auszudrücken. Viele müssen erst mühsam lernen, ihren Gefühlen auch eine Stimme zu verleihen, z. B. zu schreien oder herzlich zu lachen. Das ist oft nicht einfach. Noch schwieriger als das reine Ausdrücken und –leben der Gefühle ist aber die – von den meisten Therapieformen völlig ignorierte – Notwendigkeit, diese Gefühle, z. B. bei Prozessen, auch kontrolliert auszudrücken.
Klingt ja wie ein Widerspruch in sich: Also was jetzt – ausdrücken oder kontrollieren?! Und: Wenn ich es kontrollieren kann, ist es ja nicht mehr echt!
Dieser Widerspruch ist aber nur ein scheinbarer und beruht auf der irrigen Annahme, dass sich „echte“ Gefühle dadurch auszeichnen, dass sie unkontrollierbar sind, wie eine Woge über uns hereinbrechen und wir ihnen völlig machtlos gegenüberstehen – weil’s eben Gefühle sind, und Gefühle sind, so die landläufige Meinung, irrational.Dass das unkontrollierte Ausdrücken von Gefühlen – so wichtig es sein mag, es zu erlernen – nicht das Gelbe vom Ei sein kann, zeigt die Überlegung, was wohl passiert, wenn ich im Überschwang überbordender Lebensfreude blind in die Arme des Liebsten auf der anderen Straßenseite stürme. Oder, in verzweifeltste Gefühlsnacht versunken, dieses ausdrücke, indem ich meine Katze vergifte und mich aus dem Fenster stürze.
Sollen Gefühle konstruktiv, das heißt, mir und anderen zum Wohle, ausgedrückt werden, muss es also kontrolliert geschehen. Kontrolle hat nichts mit Unterdrücken zu tun. Kontrolle heißt, dass ich in ein Gefühl, das ich kommen spüre, einsteigen kann wie in ein Gefährt, um es zu er-fahren, damit es mich näher zu mir und meinen Wurzeln bringen kann. UND, und das ist der springende Punkt, ich muss aus diesem Gefühl -– aus der rasenden Wut, aus der sprudelnden Freude, aus dem betäubenden Schmerz – jederzeit auch wieder aussteigen können, STOP sagen können zu den Fluten, „als wäre nichts gewesen“.
Der Zauberspruch, der hilft, dieses Ein- und Aussteigen besser nachzuvollziehen, lautet Du bist nicht deine Gefühle. D.h., du hast zwar welche, aber sie machen nicht dein Wesen aus. Sie kommen und gehen, wie Wolken am Himmel. Ärger verfliegt, Trauer legt sich, Freude erblüht und vergeht. Wozu aber das Ganze? Wozu soll man sich mit dem kontrollierten Ausdrücken der Gefühle befassen? Nun, weil es ja nicht um das bloße Ausdrücken geht, sondern um das Klären von unbequemen, schmerzhaften, lebensfeindlichen Gefühlen – und schließlich um ihr Loslassen und Heilen.
Und das funktioniert nur dann, wenn ich vollständig bewusst dabei bin, wenn „es“ losgeht! Ich kann mich in die schlimmsten Erinnerungen, die größte Panik, die quälendste Angst hineinfallen lassen, und es wird mich weiterbringen, sofern mein innerer Beobachter anwesend ist.
Wenn ich mich nämlich verliere in dem Gefühl, wenn ich nicht mehr aus dem Gefährt aussteigen kann, wenn ich den Beobachter entlasse, dann ist mir diese Erfahrung verloren! Denn dann hat bloß mein inneres Kind getobt, und es war kein erwachsener Anteil von mir dabei, der das Erlebnis verarbeiten und integrieren kann. Dann habe ich lediglich gewütet oder haltlos geheult und Energie verpulvert.
© Helena Krivan. 1998