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Frauen und das Zölibat

zölibat

Fast die gesamte Weltgeschichte hindurch sind die Frauen ohne Bildung und Erziehung geblieben, im alten Persien, in China und Indien, dort sogar bis in unser Jahrhundert hinein (man schaue sich auch die islamischen Staaten an), in Griechenland, in sämtlichen Hochkulturen.

Der englische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russel, er war als Agnostiker (Agnostizismus bezeichnet die philosophische Ansicht, dass bestimmte Annahmen, insbesondere theologischer Art, welche die Existenz oder Nichtexistenz eines höheren Wesens, wie beispielsweise eines Gottes betreffen, entweder ungeklärt, grundsätzlich nicht zu klären oder für das Leben irrelevant sind), Pazifist (der Pazifist lehnt Krieg und Gewalt ab) und Friedensaktivist bekannt, der eine anarchistisch-pazifistische Grundhaltung besaß (sein erstes Buch schrieb Russel 1896 über die deutsche Sozialdemokratie, 1927 gründete Bertrand Russell mit seiner damaligen Frau Dora im Süden Englands eine libertäre (antiautoritäre) Internatsschule, 1950 erhielt er „als eine Anerkennung für sein vielseitiges und bedeutungsvolles Wirken, mit dem er als Vorkämpfer der Humanität und Gedankenfreiheit hervortritt“ den Nobelpreis für Literatur) und in Cambridge, Oxford, London, an der amerikanischen Harvard University und in Peking lehrte, bemerkte dazu:

„In den meisten zivilisierten Gesellschaften wurde den Frauen verwehrt, die Welt und das, was auf ihr geschah, zu erleben. Man hat sie künstlich dumm, und damit uninteressant gehalten. Aus den Gesprächen (des griechischen Philosophen, 427 bis 347 v. Chr. in Athen) Platos gewinnt man den Eindruck, dass er und seine Freunde den Mann als das einzig angemessene Objekt ernsthafter Liebe ansahen. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass alles, wofür sie sich interessierten, für die angesehene Athenerin unzulänglich war.“

Dieser Mangel an Bildung spiegelte sich in mangelndem sexuellen Wissen wieder, das den Frauen zugestanden wurde. Man hielt die Frau nicht nur ohne Bildung, sondern auch ohne Sexualität. Gelegentlich war es in der Geschichte anders, aber im allgemeinen wurde die Sexualität der Frauen nur insoweit beachtet, als sie beim Mann eine sexuelle Reaktion auslösen konnte. In der Geschichte ist der Frau jedes Laster und jede Tugend zugeschrieben worden. Von der gemeinen Verführerin bis zur überirdischen Heiligen und wieder zurück, hat die Frau sämtliche Stadien durchlaufen. In vielen Religionen wurde den Frauen sexuelle Macht jeder Art zu- und dann wieder aberkannt. Ein beredtes Beispiel dieser Zwiespältigkeit finden wir im Christentum, wo eine Frau (Eva) die Ursache der Erbsünde und des Verlustes der Gnade ist, und eine andere (Maria) der Anlass für alle Frommen zur Reinheit, auch für das Zölibatäre der Priesterschaft. (Eine weiße Lilie gilt z. B. als Hinweis auf die Gottes Mutter Maria, auf ihre Reinheit, Keuschheit, Unschuld und ihre reine Seele.)

Geschichtlich gesehen war (ist) die Frau sozial und wirtschaftlich vom Mann abhängig, nicht jedoch sexuell. Sie war sexuell unabhängig, weil man sie nicht für sexuell hielt. Einige Forscher sind der Meinung, dass sei deshalb so, weil eine sexuelle Reaktion der Frau für die Fortpflanzung nicht erforderlich sei. Nur der Orgasmus des Mannes ist notwendig, und folglich bestand die einzig wirklich sexuelle Funktion der Frau darin, „Samenbehälter“ zu sein, wie die amerikanischen Sexualwissenschaftler Masters und Johnson es despektierlich nannten. Da die weibliche Sexualität nie losgelöst von den „ehelichen Pflichten“ und der Mutterschaft betrachtet wurde, beachteten die Frauen ihre sexuellen Wünsche nicht, und auch von Seiten der Männer wurde ihren Bedürfnissen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Die Folge war, dass die Frauen entweder lernten, nicht sexuell zu sein, oder aber überhaupt niemals lernten, sexuell zu sein. Es ist beachtlich, dass, obwohl die jüngste Forschung auf dem Gebiet der Sexualität, das große sexuelle Vermögen der Frau deutlich gemacht hat, eine Orgasmusfähigkeit, die sich als weit stärker erwies, als die des Mannes, es keine Anzeichen dafür gibt, dass die Frau das erlebt hat, was man gemeinhin als sexuelle Frustration bezeichnet. Da sie die eigene sexuelle Reaktion nicht kannte und auch nicht gedrängt wurde, ein sexuelles Leben zu führen, war sie offenbar nicht enttäuscht. Die amerikanische Schriftstellerin und Gesundheitsaktivistin Barbara Seaman vertritt nachdrücklich die Ansicht, dass die viktorianischen Frauen, die sexuell „vollkommen unbewegt“ waren, trotzdem oft ein ganzes Leben lang in ihre Ehemänner verliebt und „nicht bewusst frustriert waren.“

Als die Frauen die überfällige Bildung nachholten, erweiterte sich ihr Wissen auf allen Gebieten des Lebens einschließlich dem der eigenen Sexualität. Aber als die Sexualität der Frau in England und Amerika schließlich vor einem Jahrhundert anerkannt wurde, gab es gleichzeitig Bestrebungen, die Frau auch weiterhin von der Sexualität fernzuhalten. Das viktorianische Zeitalter (Zeitabschnitt der Regierung Königin Victorias von England, in England beginnt, mit all seinen Vor- und Nachteilen, das Zeitalter der Industrialisierung, 1837 bis 1901) wurde so zu einem Synonym der sexuellen Unterdrückung. Es war eine Zeit, in der die sexuelle Einfalt (Begrenztheit des Verstandes) dem sexuellen Wissen wich, aber in der Folge wurde sowohl die Einfalt als auch das Wissen verfälscht. In dem Bemühen, das, was man für die schockierende Wirklichkeit hielt, zu leugnen, brachte die viktorianische Gesellschaft einige erstaunliche Einstellungen hervor. Der Mann, so hieße es, habe „tierische“ Sexualbedürfnisse, und die Frau müsse vor ihm geschützt werden. Tatsächlich wiegten sich viele viktorianische Frauen in dem Glauben, den Männern moralisch überlegen zu sein, weil sie bei der „Liebe“ weniger Lust empfanden. Man glaubte, die Frauen seien den eigenen Gefühlen gegenüber völlig blind und übergingen alle Anzeichen einer eventuellen Willfährigkeit (Unter willfährig versteht man, fremdem, anderen Willen gehorchen und gefügig sein.) ihrerseits.

Dieses extreme Sichverschließen ging soweit, dass eine „anständige“ Frau nicht einmal die eigenen organischen Gegebenheiten (Sexualorgane) akzeptieren konnte, damit nur nicht die Wahrheit (dass es dort Sexualorgane gab) herauskam. Es wird berichtet, dass viele Frauen lieber starben, als sich einer gynäkologischen Untersuchung zu unterziehen. In England war es noch vor 50 Jahren ungesetzlich, gedruckt festzuhalten, dass eine Frau Lust beim Geschlechtsverkehr empfinden könne und solle. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass die Sexualität eine gewaltige, unnatürliche Bedeutung bekam, die sehr viel stärker in einer solchen Zeit der Unterdrückung zur Geltung kam, als dann, wenn die Sexualität wegen ihrer besonderen Rolle in der Kultur stillschweigend geduldet wird. Gegen diese absurden Einstellungen ging Freud mit seiner Theorie über die Sexualität vor, nach der neurotisches und normales Verhalten davon abhängt, wie stark die Sexualität verdrängt und sublimiert wird. Freuds bemerkenswerte Einsichten brachten die dringend erforderliche Öffnung des Bewusstseins und eine Anerkennung der menschlichen Sexualität mit sich, schufen aber gleichzeitig andere Verzerrungen. Die unglücklichen Folgen der Ansichten Freuds über seine Epoche waren, dass Gesellschaften der jüngeren Zeit die Sexualität und ihre Bedeutung für die menschliche Entwicklung überbewerteten.

Ein spezieller Aspekt der Freudschen Theorie, der noch bis vor einem Jahrzehnt seine Anhänger hatte, war das biologische Modell der weiblichen Sexualität, dass die weiblichen Fähigkeiten falsch beurteilte, weil es auf unvollständigen biologischen Kenntnissen beruhte. Eine Korrektur erfolgte hier erst in jüngster Zeit durch die Arbeiten der amerikanischen Psychiaterin Dr. Mary Jane Sherfey (siehe unten), sowie durch die amerikanischen Sexualwissenschaftler Masters, Johnson und anderen. Als Folge, dieses sich lange haltenden Missverständnisses, erklärte man sexuell normalen Frauen, sie seien anormal. Das war nicht so tragisch zu Zeiten, als man die Frauen wegen ihrer nichtsexuellen Dienste schätzte und Ehe und Mutterschaft noch verherrlicht wurden. Aber als sich das Schwergewicht verlagerte, und die sexuelle und romantische Liebe zur Richtschnur für den gesellschaftlichen Erfolg einer Frau wurde, war die angebliche Unfähigkeit, wie eine sexuell „normale“ Frau zu reagieren, für viele Frauen ein gewaltiger psychologischer Schlag, vor allem zu einer Zeit, als man sie für sexuell befreit hielt (in den 60er Jahren).

Das führte zu einer besonders engen Sicht der weiblichen Psyche, die vielleicht am besten in der Erklärung des amerikanischen Psychologen Percival Symonds zusammengefasst worden ist, dass „Frauen das Liebeserlebnis suchen, um ihr verletztes Selbstwertgefühl wieder herzustellen.“ Wenn die einzig akzeptable Rolle, die eine Frau spielen kann, sexuell-romantisch ist und der Wert einer Frau auf ihrer sexuellen Attraktivität beruht, verwundert es nicht, dass Frauen, die glaubten, es stimme etwas mit ihnen sexuell nicht, sich in erheblichem Maß sozial verunsichert fühlten. Dieser Wandel vom Nichtsexuellsein zum Abnormalsein, war fraglos einer der maßgeblichen Faktoren, bei der Entscheidung vieler Frauen, ihre Sexualität letztlich selbst zu bestimmen und ihre sexuellen Bedürfnisse so zu beurteilen, wie die Männer das nie getan hatten, bezogen auf Unabhängigkeit und Selbstwert. Das wiederum veranlasste einige Frauen, ihre Sexualität ein wenig voreingenommen zu betrachten, als einen Schlüssel zur Persönlichkeit nämlich und zur persönlichen Befreiung. Das diente höchstwahrscheinlich in den 60er Jahren als Ansporn für die Frauenbewegung, die versuchte, die verworrenen weiblichen Erfahrungen aus der sexuellen Revolution der 60er Jahre einzuordnen.

Ich bin eben auf die Diplomarbeit von Eugene Faust (Frau) gestoßen, die sich mit der Arbeit der amerikanischen Psychiaterin Mary Jane Sherfey und der weiblichen Sexualität beschäftigt. Mary Jane Sherfey vertritt einige interessante Thesen:

Die Potenz der Frau: Mary Jane Sherfey, eine amerikanische Psychiaterin, entwickelte die Entdeckungen der amerikanischen Sexualforscher Masters und Johnson konsequent weiter und veröffentlichte 1972 ihr sexualwissenschaftliches Buch „Die Potenz der Frau“ (deutsch 1974). Sie bereicherte die Theorien über die weibliche Sexualität um ethnologische, vergleichende embryologische Forschungen und Erkenntnisse auf dem Gebiet der Gynäkologie, der Evolutionsbiologie und der Endokrinologie. Ihr Forschungsinteresse galt vier ungeklärten Erscheinungen, die praktisch nur bei der menschlichen Frau vorkommen: Das prämenstruelle Spannungssyndrom; der „stille“ Eisprung, der nicht in einer periodisch auftretenden Brunst vorkommt; der weibliche Orgasmus und das Klimakterium, denn die meisten weiblichen Tiere höherer Ordnung behalten ihre Fruchtbarkeit. Sie ging von der Annahme aus, dass „nichts die genetische Struktur des Menschen enger mit seiner Kultur verknüpft, als sein Fortpflanzungsapparat.“

Frauen sind sexuell ungesättigt (unersättlich): Sherfey zog aus ihren Analysen den Schluss, dass die weibliche Sexualität von ihrer Anlage her unersättlich sei. Jedem Orgasmus folgt ein neues Sichanfüllen der Schwellkörper; Ausdehnung erzeugt wiederum Stauung und Ödematisierung, die ihrerseits weitere Gewebsspannung zur Folge hat usw., Blutzufuhr und Ödematisierung (Schwellung, durch Einlagerung von Blut) der Beckenregion sind unerschöpflich.

„Daraus folgt, je mehr Orgasmen die Frau erlebt, desto stärker werden sie, je mehr Orgasmen sie erlebt, desto mehr kann sie erleben. Also ist die Frau angesichts eines Höchstmaßes an sexueller Sättigung sexuell ungesättigt.“ (Hervorhebungen durch Sherfey)

Primatenforschung: (Die Primatenforschung umfasst die Erforschung der Primaten, wozu einerseits die Affen, aber auch der Mensch gehört) Die These einer universellen und physisch bedingten Unfähigkeit der Frau, selbst bei intensiven und wiederholten orgastischen Erlebnissen gänzliche sexuelle Befriedigung, beziehungsweise Sättigung zu erlangen, erhärtete Sherfey durch Beobachtungen aus der Primatenforschung. Primaten stellen für sie enge Verwandte des Menschen ohne kulturelle Restriktionen dar. Weibliche Schimpansen täten fast alles, um in der Woche höchster Brunst möglichst viele Paarungen zu erreichen. Manchmal seien sie am Ende dieser Perioden völlig erschöpft und mit Wunden bedeckt, die ihnen verausgabte, abweisende Männchen zugefügt haben. „Ich möchte meinen, dass, hielte die Zivilisation sie nicht zurück, ein nicht unähnliches Verhalten von der Frau zu erwarten wäre.“ Das Verhalten der Primatenweibchen macht insofern Sinn, dass sie nach dieser Paarungszeit ziemlich sicher Nachwuchs bekommen. Wie uns Evolutionsbiologe Robin Baker in seinem Buch „Krieg der Spermien“ (1999) wissen lässt, hat sich dabei außerdem intravaginal das überlegene Sperma durchgesetzt.

Krieg der Spermien: Baker suchte nicht bei den Primaten, sondern beim Menschen nach Hinweisen und ist davon überzeugt, dass auch das Menschenweib eine ähnliche Sexualstrategie verfolgt. Umfragen zufolge sei eines von zehn britischen Kindern nicht von dem Mann gezeugt, der glaubt, der leibliche Vater zu sein. Im Südosten Englands fanden Ärzte sogar 30% solcher „Kuckuckskinder“. In einer US-amerikanischen Studie entdeckten Forscher, dass eines von 70 weißen und eines von 10 schwarzen Kindern mit dem Vater nicht genetisch verwandt war. Solche Daten sind allerdings von sozialen Schichten, Ländern und Untersuchungsmethoden abhängig und bisher noch nicht unabhängig überprüft worden. Aber auch seriöse Fachblätter wie die „Zeitschrift für das gesamte Familien-Recht“ operieren mit Schätzungen, nach denen „etwa 10 Prozent der Kinder in Deutschland sogenannte Kuckuckskinder“ sind. (zit. n. BÖLSCHE, 2004, Spiegel-online)

Kulturelles Dilemma: Das Wesen weiblicher Sexualität mit der ungewöhnlichen orgastischen Potenz war nach Sherfey nicht für monogame, sesshafte Kulturen gedacht. Die weibliche unersättliche Sexualität musste also unterdrückt werden. Die Stärke des zu unterdrückenden Triebes bestimme dabei die Kraft, die notwendig sei, um ihn zu unterdrücken. Auch die Anthropologin Hrdy ist davon überzeugt, dass sexuelle Zurückhaltung, Diskretion und die Sorge um den Ruf vieler Frauen, nicht, wie der britische Evolutionsforscher Charles Darwin annahm, dem vormenschlichen „alten Erbe“ entstammt. Diese Schamhaftigkeit lasse sich auch erklären als „gelernte Anpassung von Frauen, die den Bestrafungen entfliehen wollten“, welche das Patriarchat für „ungebärdige Partnerinnen und Töchter“ ausgedacht hat. Die meisten Kenner sind sich einig, dass die Bedeutung der gesicherten Vaterschaft seit dem 17. Jahrhundert auch auf dem „patrilinearen (Vaterfolge, Abstammung vom Vater) Erbschaftssystem“ beruht, das den Erstgeborenen bevorzugt. Daher waren sexuelle Abenteuer des Mannes auch entschuldbar, bei der Frau jedoch „verbrecherisch“.

Das große Bestreben der sexuellen Revolution in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, galt dem weiblichen Orgasmus und der Frage, wie man ihn erreicht. In vieler Hinsicht engte das die bereits einschränkende Betrachtungsweise des Liebens weiter ein. Der Orgasmus wurde die Hauptsorge nicht nur der Frauen, sondern auch der Männer. Die Folge ist, dass man den Verlust der weniger zielgerichteten Tage beklagt. So antwortete eine Frau im Fragebogen der Sexualwissenschaftlerin Shere Hite, die 1996 die deutsche Staatsangehörigkeit annahm: „Wenn in der Sexualität besonders viel Wärme und Vertrautheit gebraucht wurden, war der Orgasmus unnötig. Auch bevor ich lernte, wie man einen Orgasmus bekommt, war die Sexualität ein Akt der Vertrautheit mit meinem Partner.“ Die Anthropologin (Anthropologie = die Wissenschaft vom Menschen) Margaret Mead beobachtete, dass der weibliche Orgasmus bei den meisten primitiven Völkern kein Problem darstellt, weil die Männer gelernt haben, die Frau zum Orgasmus zu bringen. In unserer Zivilisation dagegen wurde der weibliche Orgasmus noch bis vor kurzem als selten, geheimnisvoll und schwer erreichbar hingestellt, der im Übrigen große Anstrengung und Konzentration verlange. Der männliche Orgasmus jedoch galt als unentbehrlich. Heute wird der Frau geraten, selbst die Verantwortung für ihren Orgasmus zu übernehmen.

Waren die Frauen bisher damit zufrieden, die Sexualität mit oder ohne Orgasmus zu genießen, so hat man auch ihnen, zusammen mit den Männern, inzwischen beigebracht, im Orgasmus das Ziel des Liebens zu sehen. Da sie sich nach den Sexualgewohnheiten der Männer richten, glauben einige Frauen heute, dass sie das verdienen, was sie ihrerseits gewähren. In extremen Situationen ist der Orgasmus sogar zu einer politischen Frage geworden: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ oder „Ein Orgasmus für einen Orgasmus“. Dieses Verhalten lässt sich auf die Entbehrungen zurückführen, die viele Frauen in unbefriedigenden sexuellen Beziehungen erlebt haben. Es dient jedoch auch dazu, die Sexualität der Frau in den begrenzten Rahmen zu zwängen, in der auch die Sexualität des Mannes gepresst ist, was ein tiefer empfundenes und reicheres Erleben ausschließt.

Glücklicherweise haben die meisten Frauen angefangen zu erkennen, wie sehr die am Orgasmus ausgerichtete Liebe einengt, und offenbaren, woran sie wirklich Vergnügen haben, selbst wenn das bedeutet, einige der sogenannten „Fortschritte“, die sie erzielt haben, wieder zurückzunehmen. „Frauen lieben Sex“, schreibt Shere Hite, „mehr wegen der dabei zum Ausdruck kommenden Gefühle, als der rein körperlichen Empfindungen des Geschlechtsaktes an sich.“ Ihr Überblick hat gezeigt, dass Sex wegen der Vertrautheit und Nähe, die er zu einem anderen Menschen herstellt, für die Frau als wichtiger erachtet wird, als eine Möglichkeit, die tiefsten Empfindungen zu enthüllen. Daher mögen Frauen auch besonders den Geschlechtsakt, wegen des körperlichen Ausdrucks von Liebe und nicht unbedingt wegen der Sexualität (Orgasmus). Sex gilt außerdem als wichtig, weil Frauen in ihm einen Weg sehen, ihre Gefühle der Sicherheit und des Begehrtseins zu festigen und die Einschätzung der eigenen Person bestätigt zu bekommen. Sex ist auch eine Gelegenheit, einem Partner Lust zu schenken, eine Gelegenheit des Vertrauens und der Hingabe in Liebe.

Man hat festgestellt, dass die Reaktion der Frau auf sexuelle Aktivität darauf beruht, was sie über Sexualität gelernt hat. Für die Frau ist die Sexualität ebenso wie für den Mann, eine erlernte Reaktion, auch wenn Neugelerntes an die Stelle des alten tritt. Wenn einer Frau lernt, dass Sex in Form eines Vorspiels, des Geschlechtsaktes und der Ejakulation des Mannes erfolgt, wird sie das für Sex halten und bei jedem anderen Ablauf oder anderen Aktivitäten ein „falsches“ Gefühl haben. Lernt eine Frau dagegen, den Geschlechtsverkehr oder das Fortpflanzungsdenken in der Sexualität als Ausbeutung zu betrachten und den weiblichen Orgasmus als den einzigen gerechtfertigten Grund, sich auf eine sexuelle Betätigung einzulassen, wird sie das als Sex und alles andere als nicht richtig ansehen.

Frauen über 30 neigen verstärkt zu sexuellen Wünschen. Dieses erotische Empfinden soll sich steigern und bis in die Wechseljahre und darüber hinaus, bis ungefähr zum 65. Lebensjahr, andauern, wo das sexuelle Interesse dann langsam wieder abzuflachen beginnt. Die Sexualtherapeutin Dr. Helen Kaplan erklärte dazu: „Während einige Frauen in den Wechseljahren über ein Nachlassen der sexuellen Wünsche berichten, verspüren andere Frauen ein gesteigertes erotisches Verlangen. Rein physiologisch müsste die Libido in den Wechseljahren theoretisch zunehmen, weil die Wirkung der Androgene der Frau (Androgene sind Vorläufer aller Östrogene, der weiblichen Sexualhormone. Das hauptsächliche und bekannteste Androgen ist Testosteron.) jetzt kein Östrogen mehr entgegensteht.“ Auch Dr. Mary Jane Sherfey bemerkte, dass Frauen mit zunehmendem Alter sexueller werden, was vielleicht daran liegt, dass sich im Genitalbereich ein umfangreiches Venensystem herausbildet. Es hat demnach den Anschein, dass ältere Frauen trotz der nicht mehr vorhandenen Fähigkeit, Kinder zu bekommen, mehr denn je in der Lage sind, sexuelle Lust zu erleben. Die Sexualwissenschaftlerin Shere Hite schreibt, die Frauen sollten ihren Körper als lebenslang zur Sexualität fähig betrachten. Nur die Möglichkeit der Fortpflanzung sei auf eine bestimmte Anzahl von Jahren in der Lebensmitte begrenzt.

Eine ältere Frau berichtete Shere Hite:

„Ich glaube, dass die Männer zu der Annahme gedrängt werden, die Sexualität nehme bei ihnen im Alter ab. Ich glaube nicht, dass sie bei irgendjemand drastisch zurückgeht, vor allem nicht bei den Frauen. Meine schönsten sexuellen Erlebnisse haben ihren Ursprung in der Reife und im Selbstvertrauen.“

Geht man von der Tatsache aus, dass ältere Frauen mit sexuellen Wünschen sind, und wie die Männer, ihr ganzes Leben zur Sexualität fähig, dann stößt man auf eine ähnliche Verwirrung. Wie die älteren Männer, werden auch die älteren Frauen in unserer Gesellschaft, in eine äußerst schwierige Situation gebracht. Einerseits zerstören die älteren Frauen die Legende, dass die ältere Frau nicht mehr zur Sexualität fähig sei, dadurch, dass sie bis in ihre siebziger und achtziger Jahre sexuell leben. Andererseits beginnen die Frauen eine gewisse soziale Verpflichtung zu spüren, in einem Abschnitt ihres Lebens sexuell aktiv zu sein, in welchem andere Erlebnisse sie vielleicht stärker interessieren. Der gesellschaftliche Druck, die sexuelle Aktivität im fortgeschrittenen Alter aufrecht zu erhalten, ist für Frauen kein so gravierendes Problem wie für die Männer, vor allem weil die Sexualität bei älteren Frauen viele Jahrhunderte lang unerwünscht war. Doch sie ist im Vormarsch begriffen.

Eigenartigerweise setzen Schriftstellerinnen wie Shere Hite bei dem Versuch, den älteren Frauen gerecht zu werden, diese offenbar einem höheren Druck aus, sich sexuell frei zu fühlen, als die jüngeren Frauen. Aber es scheint so, dass die Würde und Erfahrung des Alters den älteren Frauen und Männern gestattet, sich zumindest von der Engstirnigkeit der sexuell untermauerten gesellschaftlichen Billigung zu lösen. Die ältere Frau hat die Wahl, ob sie sexuell aktiv oder enthaltsam leben möchte, was nicht davon abhängt, was sie hinsichtlich ihres Sexuallebens haben „sollte“, sondern davon, was ihrer tatsächlichen Neigung entspricht. Denn unter der Voraussetzung, dass die körperlichen Möglichkeiten gegeben sind, kann sich jede Frau in jedem Alter sexuell betätigen, aber nicht alle Frauen möchten das. Vielleicht hat eine Frau das Bedürfnis, weiterhin unter Beweis zu stellen, dass sie sexuell anziehend ist, ob sie nun Sex haben möchte oder nicht, aber diese Entscheidung muss sie selber treffen. Nicht alle Frauen brauchen eine Rückversicherung. Vielen Frauen mangelt es an Gelegenheit, sich sexuell zu betätigen, insbesondere wenn sie geschieden oder verwitwet sind. In die Lage versetzt zu werden, eine Entbehrung zu erdulden, weil man kein vollgültiges Sexualleben führt, ist eine psychologische Bürde, die sich die meisten älteren Frauen ersparen könnten. Der wirkliche Sinn von Wert und Erfüllung, kann sich ohnehin niemals vom Sex herleiten. Die ältere Frau verkennt den Wert ihrer Entwicklung, wenn sie es mit 70 Jahren immer noch zulässt, durch ihr Sexualleben verkörpert zu werden. Natürlich hat sie sexuelle Empfindungen und Wünsche, die haben fünfjährige Mädchen auch. Aber es ist besser, nicht in jedem Alter, diesen Weg zum Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, fälschlicherweise für die große Kraft des Frauseins zu halten.

Frauen haben größtenteils gelernt, ihre Sexualität der jeweiligen Situation anzupassen. Das bewirkt zweierlei: zum einen müssen Frauen nicht erst davon überzeugt werden, dass sie Sex haben sollten. So erklärte eine Frau:

„Der Grund warum die sogenannten Verführungskünste wirken, liegt darin, dass die Frau an sich ein erotisches Wesen ist, und bei angemessener Aufmerksamkeit und entsprechender Anregung kommt sie an den Punkt, an dem sie den Sex allem anderen vorzieht.“

Zum anderen haben die meisten Frauen keine regelmäßigen sexuellen Gelüste. Shere Hite fand heraus, dass „die Lust auf Sex mit einem anderen Menschen nur in Verbindung mit dem Verlangen nach einer bestimmten Person wirklich stark zum Ausdruck kommt.“ Viele der befragten Frauen berichteten, dass sie, wenn Sex nicht möglich war, wenn sie keine besondere Bindung eingegangen waren, dahin tendierten, auf Sex zu verzichten. Sie kamen zu dem Schluss: „Je weniger man davon hat, desto weniger will man.“ Erst in jüngster Zeit haben die Frauen damit begonnen, die eigene Sexualität im Licht der eignen Wünsche und Ziele zu betrachten. Bisher hatte man den Frauen gesagt, wie sie über die Sexualität denken sollten. Einige Frauen haben festgestellt, dass man ihnen vor der sexuellen Revolution der 60er geraten hat, nur mäßig Sexualität zu betreiben, man ihnen aber heute rät, es regelmäßig zu tun.

Es ist offensichtlich, dass Frauen heute nicht so stark am Sex interessiert sind, wie sie ihrer Meinung nach sein müssten. Worauf die Frauen offenbar den größten Wert legen, ist Erfüllung in der Beziehung und die persönliche Entfaltung. Das aber ist durch die sexuelle Revolution nicht sonderlich gefördert worden. Die Frauen entdecken, „dass guter Sex und davon reichlich“ nicht die Erfüllung bringt, die sie suchen. Als Folge der neuen Gewohnheiten wissen die Frauen, dass sie einen Orgasmus haben können, dass man jetzt aber auch von ihnen erwartet, dass sie ihn bekommen und mehr genießen, als jeden anderen Genuss ihres Lebens. Der Druck, sexuell aktiv zu sein, Orgasmen zu haben und zu erklären, man genieße es, hat bei den Frauen neue Besorgnisse wachgerufen, die die Probleme, denen sie vor der Revolution gegenüberstanden, offenbar nur ersetzen, nicht aber beseitigen.

„Wenn ich lange ohne Sex bin, lässt mein Verlangen komischerweise nach, was mich beunruhigt. Ich beginne mich zu fragen, ob irgendetwas mit mir nicht stimmt, weshalb ich mich verpflichtet fühle, mich sexuell zu betätigen.“

Das schwierigste soziale Dilemma, dem sich die meisten Frauen heute gegenüberstehen, ist der gesellschaftliche Zwang zur Sexualität, selbst wenn sie kein Verlangen danach haben. Dieser Zwang geht nicht nur von den interessierten Männern aus, sondern auch von den „Experten“, die über das „normale“ Leben befinden, aber auch von anderen Frauen, die sich Unterstützung für die eigenen sexuellen Aktivitäten erhoffen. So wie es für eine Frau gesellschaftlich beinahe eine Unmöglichkeit war, ja zu sagen, als die sexuelle Revolution die Sexualität idealisierte, steht sie heute vor der genau umgekehrten Situation. Diese Verwirrung wird noch, durch die Unsicherheiten hinsichtlich der gesellschaftlichen Rolle, die den Frauen heute eingeräumt wird, verstärkt. Trotz des neuen Wissens möchten die meisten Frauen die Liebe zu den Männern nicht verlieren und glauben, dass die Sexualität der einzige Weg ist, Liebe zu bekommen. Erschwert wird diese Situation noch durch den Zwang, sich nicht nur ausgiebig sexuell zu betätigen, sondern auch jedes Mal einen Orgasmus zu bekommen. Nein, sagen zu lernen, ist für die meisten Frauen gar nicht so einfach, aber wenn sie sich dafür entscheiden, bauen sie allmählich nicht nur soziale, sondern auch persönliche Grenzen ab. Die Psychoanalytikerin June Singer erklärte: Durch den Prozess, sich zu behaupten und zum ersten Mal „Nein“ zu sagen, kann eine Frau sehr viel lernen. Wenn sie sich genügend darum bemüht, ihr Bewusstseins-Niveau zu heben, entdeckt sie vielleicht, dass nicht aller Widerstand nur von außen kommt, von den Männern, von der Gesellschaft. Sehr viel davon hat ihren Ursprung im Innern der Frau selber. Die Frau ist gebunden und das zumindest zum Teil deshalb, weil sie sich binden lässt, oft im Namen der „Liebe“. Das ist ein Stadium, dass alle schöpferischen Frauen durchlaufen müssen. Nach Beobachtungen von Masters und Johnson, „kann eine Frau nicht sexuell emanzipiert sein, bevor sie nicht selbst emanzipiert ist“.

Die meisten Frauen leben über weite Strecken ihres Lebens ohne Sexualität, sei es als junges Mädchen, alleinstehende Frau, Geschiedene, Witwe oder vielleicht sogar während der Ehe. Aber viele Frauen neigen dazu, diese Periode unbeachtet und nur die Zeiten der Sexualität als wertvoll gelten zu lassen. Im Hite Report, der umfangreichsten Studie zum Thema Orgasmus aus den 70er Jahren, betrachtete sich weniger als ein Prozent alles Frauen, als sexuell enthaltsam, obwohl die meisten von ihnen erklärten, häufige Perioden der Enthaltsamkeit erlebt zu haben. Viele glaubten ohne Schwierigkeiten auf Sexualität verzichten zu können. Viele Frauen, so scheint es, können nicht erkennen, dass die Ehelosigkeit (Enthaltsamkeit) einen ebenso hohen gesellschaftlichen Wert für ihr Leben haben kann. Deshalb würden sie sich nicht darauf einlassen.

Ein berühmter Mann, der im Zölibat lebte, berichtete in einer amerikanischen Fernsehshow, dass mindestens 75 Prozent aller Frauen, die er kannte und die ihm bereitwillig von ihrem Sexualleben erzählten, gerne sexuell enthaltsam leben würden, aber den Eindruck hätten, es nicht zu können, weil die meisten Männer von einer Frau erwarten, dass sie sexuell aktiv sind. Diese Einstellung wird verständlich, wenn man sie geschichtlich sieht. Man kann mit Sicherheit sagen, dass die Mehrzahl der Frauen lieber aus freien Stücken enthaltsam leben würde, als auf Kommando sexuell aktiv zu sein. In den meisten Untersuchungen über Frauen wird berichtet, dass die Frauen, sobald sie sich einmal ihrer Gewohnheiten, Abhängigkeiten und ihres geringen Selbstwertgefühls bewusst werden, beginnen, sexuelle Beziehungen abzulehnen, die ihnen wertlos erscheinen. Sie erkennen, wie Männer und Frauen in Verhaltenszwänge geraten können, die beide Seiten einengen. Sie versuchen, völlig neue Arten der Beziehungen aufzubauen. Vielen Frauen, bietet sich in einer zeitweiligen oder dauerhaften Ehelosigkeit eine Möglichkeit, ihre eigenen Wünsche stärker zum Ausdruck zu bringen.

Anmerkung: Sexualität auf Kommando

Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die Forderung des Mannes an die Frau, gewissermaßen auf Kommando sexuell präsent zu sein, zum Hass der Frauen gegenüber den Männern führt, denn im Grunde genommen betrachtet der Mann die Frau nicht als seine Geliebte, die er glücklich machen möchte, sondern als eine ihm untertane Sklavin, die seine sexuellen Wünsche zu befriedigen hat. Frauen der unteren sozialen Schichten, werden dieses Verhältnis eher als „normal“ betrachten, der sie sich unterzuordnen haben. Schließlich sieht das Sexualleben der meisten Frauen, die sie kennen, nicht sehr viel anders aus. Außerdem sind sie vom Mann finanziell anhängig und jeder Versuch, die Wünsche des Mannes zu missachten, könnte irgendwann zu einer Scheidung führen, der meist mit einem sozialen Abstieg (Sozialhilfe) für die meisten Frauen und ihren Kindern verbunden ist. Frauen, die sich aber ein klein wenig emanzipiert haben, die ein klein wenig Selbstbewusstsein entwickelt haben und sich nicht mehr in diese unterwürfige Rolle der sexuellen Sklavin einfügen wollen, beginnen darüber nachzudenken, wie sie sich dieser Erniedrigung, die ihre eigenen Wünsche vollkommen außer Acht lässt, entziehen können.

Ende Anmerkung

Eine Zeitlang enthaltsam zu sein, bedeutet kein sich abkapseln, sondern vielmehr ein sich öffnen. Es ermöglicht der Frau, alte Verhaltensmuster, Abhängigkeiten und Beschränkungen zu durchbrechen. Die Frauen entdecken, dass ein enthaltsames Leben sie in die Lage versetzt, ein größeres Maß an Freiheit und Unabhängigkeit zu erleben, und ihnen gleichzeitig die Gelegenheit bietet, ihre Beziehung neu zu überdenken. Es kann eine Zeit sein, die eine Frau vom ungestümen Drang sexueller Aktivität und deren engen Blickwinkel befreit. Es kann eine Zeit werden, sich ohne die Maske des Sex, über die Gefühle zu einem bestimmten Partner klar zu werden, oder die Vertiefung einer Liebesbeziehung, in eine freiere, gleichberechtigtere Partnerschaft zu ermöglichen. Frauen, die sexuell enthaltsam leben, haben Erfahrungen, die von einem guten Gefühl, endlich „die Verantwortung für den eigenen Körper selbst übernommen zu haben“, bis zum Erlebnis gesteigerter Energie in allen Lebensbereichen reichen. Sie erleben Gefühle der Friedfertigkeit, des Gefestigtseins, des Zentriertseins, sowie den Wachstum hin zu einem geistig-spirituellen Leben.


Zölibatäre Frauen

Alexandra 42 Jahre, Beraterin

Ich lebe seit 4 Jahren enthaltsam. Als ich zum ersten Mal an ein zölibatäres Leben dachte, wusste ich nicht einmal, was der Ausdruck Zölibat bedeutet. Ich bin vorher viel ausgegangen, war sexuell aktiv, kam mir ausgelaugt, verbraucht, wirr vor, so als würde ich mich verzetteln. Die Geschlechtsakte selbst waren gut, befriedigten mich, aber die Erlebnisse erfüllten mich kaum mit neuer Kraft. Ich war zweimal verheiratet und bin vor fünf Jahren von meinem zweiten Mann geschieden worden. Unser Sexualleben war relativ gut, aber wenn der Orgasmus vorüber war, hatte ich immer das Gefühl, nicht ganz zu sein. Mein mangelndes Interesse am Sex war einer der strittigsten Punkte in unserer Ehe. Zur Zeit der Scheidung hatte diese Frage größere Bedeutung erlangt, aber ich glaube, dass die wirklichen Probleme unserer Ehe durch den Sex nur zugedeckt wurden. Ich halte den Sex weder für gut noch für schlecht. Sex war noch nie im meinem Leben das, was mich am meisten fesselte. Allerdings hatte die Sexualität immer einen herausragenden Platz in meinem Bewusstsein. Meine sexuelle Chronologie beginnt früh. Mit acht Jahren bekam ich die Regel. Körperlich bin ich seit der fünften Klasse kaum noch gewachsen. Meinen ersten Sex mit Jungen hatte ich, als ich in die High-School kam. Aber in den sechs Jahren davor war ich in der sexuellen Entwicklung ziemlich auf mich allein gestellt und züchtete hinsichtlich des Sex eine Menge Erwartungen und Wunschbilder. Ich beobachtete, wie sich mein Körper und meine Empfindungen veränderten. Es überrascht nicht, dass meine ersten sexuellen Erlebnisse ziemlich enttäuschend waren. Doch sie wurden besser, und ich habe ein sehr befriedigendes Sexualleben geführt. Aber heute komme ich mir vor, als hätte ich den ganzen Kreislauf der Sexualität schon hinter mir. Und ich spüre deutlich, dass es eine große Belastung für mein weiteres Leben wäre, mein Sexualleben bis in die Sechziger- oder Siebzigerjahre weiter zu führen.

Seitdem ich enthaltsam lebe, bewahre ich meine sexuellen Empfindungen, anstatt sie zu verschenken. Ich beobachte die Empfindungen, lebe mit ihnen. Ich liebe es auf diese Stille Art zu fühlen. Ich versuche nicht, sexuellen Gefühlen auszuweichen, ich spiele vielmehr mit ihnen. Aber ich lasse nicht zu, dass sie mich beherrschen. Ich mag überhaupt nicht, von irgendetwas getrieben zu werden, schon gar nicht von körperlichen Gefühlen. Den meisten Leuten geht es ebenso. Doch wenn sie sexuell erregt sind, überlassen sie sich dem Gefühl bis zu dem Punkt, an dem sie den sexuellen Höhepunkt erleben. Wo viele, durch ihre sexuelle Aktivität, vor ihren sexuellen Gefühlen davonzulaufen scheinen, spüre ich meine sexuellen Gefühle, ohne dass ich bestrebt bin, sie zu reduzieren, indem ich mich sexuell betätige. Ich habe die sexuelle Aktivität manchmal als ein Leck in meiner Energieleitung betrachtet. Dichtet man es ab, fließt die Energie gleichmäßig und verliert sich nicht in einem verschwenderischen Strom. Aus diesem Grunde onaniere ich auch nicht, weil mir meine Energie zu kostbar ist. Ich bin der Meinung, dass jemand keine Angst vor seiner Sexualität haben sollte, bevor er sich für die Enthaltsamkeit entscheidet. Andernfalls fühlt der oder die Betreffende sich vielleicht gespalten. Ich habe eine Freundin, die ebenfalls sexuell enthaltsam lebt, die ich in ihrem Vorhaben bekräftige.

Ich habe aus der Enthaltsamkeit so manchen bemerkenswerten Nutzen gezogen. In den ersten sechs Monaten habe ich 40 Pfund abgenommen. Als ich noch sexuell aktiv war, kam ich mir rundlich vor. Ständig hielt ich Ausschau nach Bemutterung durch Sex. Als ich dann enthaltsam lebte, konzentrierte ich mich auf mich selber, mein Körper wurde immer stärker und aufrechter. Das Gewicht fiel einfach ab. Weiter habe ich erlebt, dass ich jetzt imstande bin, körperlich mit anderen zusammenzusein. Ich bin sehr viel gegenwärtiger in meinen Erlebnissen und warte nicht mehr auf den nächsten Schritt. Ich fühle mich nicht mehr so beengt, so bedroht, ungezwungener. Ich fühle mich reiner, vollständiger, ehrlicher mir selbst gegenüber und weit fähiger zu tiefer Liebe. Meine sexuelle Kraft strömt offenbar ohne weiteres über in meine Liebesempfindungen. Ich gebe gerne, denn anders als beim Sex gibt es kein Ende, und es ist nicht notwendig, gegeneinander aufzurechnen. Sexuell und sozial habe ich mich bisher mit meiner Energie nach außen gewandt. Jetzt wende ich mich nach innen, und daher kommt es, dass sich meine Fähigkeit zu lieben, erhöht hat.

Enthaltsam zu leben, heißt nicht, nicht mehr mit Männern zusammen zu sein. Ganz im Gegenteil. Ich treffe zwar kaum Verabredungen, habe aber sehr viele Freunde, darunter einen besonders guten. Kürzlich brachte er mich nach einem gemeinsamen Kinobesuch nach Hause, ging mit mir nach oben, zog mich aus und massierte meinen ganzen Körper. Danach sagte er: „Jetzt fühle ich mich dir näher, als wenn wir zusammen geschlafen hätten.“ Für uns beide war das eine sehr innige Liebesbeziehung. Fast alle die ich kenne, orientieren sich an der Sexualität, doch die meisten Männer respektieren offenbar meinen Wunsch, mich sexuell zu enthalten. Im allgemeinen sage ich es ihnen, wenn sie mich einladen. Entweder macht es ihnen nichts aus, sie sind verwirrt oder fühlen sich herausgefordert. Ist letzteres der Fall, geht jeder seine Wege. Das negativste Echo zum Thema Zölibat kommt offenbar von anderen Frauen. Ich habe den Eindruck, dass jede Frau von Zeit zu Zeit sexuell enthaltsam leben möchte, dass aber nur wenige stark genug sind, dem gesellschaftlichem Druck zu widerstehen. Aus eben diesem Grund besteht viel Abneigung gegen die Enthaltsamkeit. Ich glaube, man muss bereit sein zum Zölibat, wie man bereit sein muss zur Sexualität. Doch muss man in der Lage sein, eine eigene Wahl treffen zu können, der die eigenen Bedürfnisse zugrunde liegen. ich kann das Zölibat nicht jedem empfehlen.

Roxanne: 54 Jahre, Mode-Koordinatorin

Roxana war dreimal verheiratet, zum ersten Mal mit 20 Jahren. Sie hat eine Tochter und ist seit 12 Jahren geschieden. Wie sie sagt, hatte sie in ihrem Leben sieben ernsthafte Verhältnisse, aber nur eins seit ihrer letzten Scheidung.

dass ich enthaltsam lebe, ist bei jedem Mann, den ich kennenlerne, eine neue Wahl. Ich kann einfach nicht so ins Bett hüpfen, denn ich bin sehr wählerisch. Ich bin durchaus für Sexualität, doch muss sie Teil eines größeren Ganzen sein. Sex allein bedeutet nicht viel. Die Bindung muss eine gewisse Grundlage haben. Seit meiner letzten Scheidung, vor 12 Jahren, hatte ich ein sexuelles Verhältnis. Ich dachte, es wäre „gut für mich“, das sagt jeder. Aber es hatte keinen Zweck. Ich brauche diese tiefe Bindung. Deshalb enthalte ich mich sexuell. Offenbar unterscheide ich mich von anderen Frauen, vor allem von den jüngeren, die dazu neigen, den Sex beiläufiger und um seiner selbst willen zu betreiben. Die Enthaltsamkeit verkörpert, glaube ich, zum Teil meine Selbsteinschätzung. Ich lebe ehelos, weil ich mehr als Sex möchte und keine Kompromisse schließen möchte. Ich glaube, ich bin stärker geworden.

Ich habe den Sex immer sehr genossen. Er bereitete mir große Lust. Ich besitze auch sehr viel sexuelle Energie. Daher habe ich gelernt, sie auf nichtsexuelle Art zu nutzen. Anstatt mir Sorgen darüber zu machen, was ich tun soll, weil ich sexuelle Empfindungen habe, setze ich meine sexuelle Energie ein, damit etwas geschieht. Ich betrachte sie als einen nützlichen Kraftstrom, der ganz mir zur Verfügung steht. Ich kann ihn zu jedem Körperteil dirigieren. Ich gebrauche ihn in den Armen und Beinen zum Heben oder Laufen. Ich lenke ihn zum Kopf, wenn ich spreche und lerne. Für mich bedeutet daher die sexuelle Enthaltsamkeit nicht eine Blockade meiner Sexualität. Ich benutze sie und sie hält mich stark, dynamisch, jugendlich. Ich glaube, der Sex hält den Menschen jung, aber man muss seine Sexualität nicht auf nur eine Art ausdrücken. Man kann ihn gebrauchen, wie man will. Viele Frauen in meinem Alter interessieren sich nicht sonderlich für Sex, vor allem nicht in der Ehe. Er hat seinen Reiz verloren. Aber sie sind der Meinung, sie sollten sexuell aktiv sein, und so fühlen sie sich schuldig, wenn sie nicht „mitmachen“. Sie sind sexuell aktiv, können ihrer Sexualität aber keine Freude abgewinnen. Sie erbringen eine Leistung, sind aber gehemmt. Ich lebe enthaltsam und gebrauche und genieße meine Sexualität, ohne gehemmt zu sein. Es ist ein lustiges Paradoxon.

Ich bin Künstlerin, und meine schöpferische Entfaltung ist für mich von großer Bedeutung. Ich habe festgestellt, dass die Perioden stärkster Entfaltung jeweils in die Zeit meiner sexuellen Enthaltsamkeit gefallen sind. Es ist eine sehr direkte Entfaltung, die mein Alltagsleben beeinflusst. Als alleinstehende Frau komme ich für meine Bedürfnisse selbst auf. Liebe und Zuneigung muss ich aus vielen Quellen schöpfen. Wenn ich nicht ernsthaft gebunden bin, empfinde ich Liebe durch die Musik, durch die bildenden Künste, das habe ich gelernt. Ich lebe auf durch die Lektüre eines Buches, durch den Gedankenaustausch. Offenbar habe ich mit zunehmendem Alter eine Ebene hohen Bewusstseins und tiefer Liebe erreicht, die angeregt werden muss, damit ich mich weiter entfalten kann. Wenn ein Verhältnis mich nicht wirklich berührt, befriedigt es mich weniger als ein Buch, das mich sehr anspricht. Ich lebe sexuell enthaltsam, weil ich nach dieser Ebene in einem Verhältnis suche.

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