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Artikel von Sukadev Bretz und Ergänzungen

Sukadev Bretz ist der Gründer und Leiter von Yoga Vidya, Seminar- und Ausbildungsleiter und Autor.

Von Jugend an war er von den Möglichkeiten des menschlichen Geistes fasziniert. Autodidaktisch brachte er sich das Schnelllesen bei und absolvierte Kurse in Konzentrations- und Gedächtnistraining. Mit 20 Jahren erwarb er an der Universität München den Titel eines Diplomkaufmanns.

Als Nebenfach studierte er Psychologie. In den Sivananda Yoga Zentren wurde er 1981 zum Yogalehrer ausgebildet. Swami Vishnu Devananda gab ihm den Titel „Acharya“ (Yoga-Meister), beauftragte ihn mit dem Aufbau vieler Yoga-Zentren sowie der Ausbildung von Yogalehrern und erwählte ihn zu einem seiner Nachfolger.

1992 gründete er das erste Yoga Vidya Center, um einen lebensnahen Yoga zu lehren. Seine Kurse und Ausbildungen verbinden Theorie und Praxis zu einer ganzheitlichen Entwicklungserfahrung für Körper, Geist und Seele.

Sukadev Volker Bretz lehrt in der Tradition von Swami Sivananda und Swami Vishnudevananda, begründete aber auch den Yoga Vidya Stil als eigenen Yoga Stil.


Inhaltsverzeichnis

Einführung

Erstes Kapitel:: Samadhi Pada – Theorie des Geistes
Zweites Kapitel: Sadhana Pada – Spirituelle Praxis
Drittes Kapitel: Vibhuti Pada – Außergewöhnliche Kräfte
Viertes Kapitel: Kaivalya Pada – Befreiung
Anhang: Wichtige indische Schriften und Philosophiesysteme

Raja Yoga


Einführung

Wichtige indische Schriften
Sutras
Aufbau der Raja Yoga Sutras

Kommentar von Sukadev Volker Bretz zu den Raja Yoga Sutras von Patanjali

Grundlage/Quellentexte: „Meditation und Mantras“ von Swami Vishnudevananda, herausgegeben vom Sivananda Yoga Vedanta Zentrum, München, ISBN 3-930716-003, und „Die Wissenschaft des Yoga“ von I.K. Taimni, F. Hirthammer Verlag, ISBN 3-921288-80-0

Wichtige indische Schriften
    

Die Yoga Sutras von Patanjali gelten als wichtigste der Yogaschriften. Die vier bedeutendsten Yogaschriften sind

  • die Upanishaden, die den Jnana Yoga (Yoga des Wissens) betreffen
  • die Bhagavad Gita, die alle Yogawege umfasst, vor allem aber Karma und Bhakti Yoga (Hingabe, Liebe zu Gott)
  • die Hatha Yoga Pradipika, die den Hatha und Kundalini Yoga behandelt
  • die Yoga Sutras über den Raja Yoga, den Yoga der Geisteskontrolle.

Patanjali selbst spricht übrigens nicht von Raja Yoga, sondern von Yoga allgemein. Der Ausdruck Raja Yoga stammt eigentlich aus der Hatha Yoga Pradipika (eine der wichtigsten klassischen Hatha Yoga Schriften). Dort heißt es: „Wir üben Hatha Yoga (körperorientierte Teil des Yoga), um Raja Yoga (ganzheitliches Yoga) zu erlangen.“ Denn es ist sehr schwer, nur durch geistig-psychologische Techniken Kontrolle über den Geist zu bekommen. Asanas (Yogastellungen) und Pranayama (Atemübungen) können uns dabei helfen. So haben eigentlich die Hatha Yoga-Schriften den Ausdruck Raja Yoga für die Sutras (Satz mit Aussage) von Patanjali populär gemacht. Raja heißt wörtlich „Herrscher“; durch Raja Yoga werden wir zum Herrscher über unseren Geist und unser Leben.

Die Raja Yoga Sutras wurden von einem Weisen namens Patanjali geschrieben. Über seine Person und sein Leben ist fast nichts bekannt, nicht einmal mythologische Geschichten, was sehr außergewöhnlich ist, denn die Inder lieben es, Legenden zu erzählen. Möglicherweise hat er sich als Mensch bewusst im Hintergrund gehalten in der Vorstellung, nicht er als Person sei wichtig, sondern das Yogasystem, das dahintersteht und das er weitergibt. Patanjali ist nicht der Erfinder dieses Systems, sondern er hat altes, längst vorhandenes Wissen zusammen gefasst und geordnet. Die Raja Yoga Sutras sind etwa zwischen 600 vor und 500 nach Christus anzusiedeln. Da Patanjalis System mit dem Buddhismus große Ähnlichkeiten aufweist, nimmt man an, dass entweder Patanjali von der buddhistischen Tradition beeinflusst wurde oder umgekehrt Buddha von Patanjali. (Buddha: geboren 560 v. Chr. gestorben um 480 v. Chr.). Die Meinungen, ob Patanjali vor oder nach Buddha gelebt hat, gehen auseinander.

Sutras    

Es gibt verschiedene Formen indischer Schriften. Sutras sind die kürzeste und prägnanteste Weise, etwas zu sagen – nicht nur im Yoga, sondern auf allen Gebieten. Es gibt zum Beispiel die Nadya Sutras über indischen Tanz, es gibt Sutras über Politik usw. Für den Jnana Yoga (Yoga des Wissens) sind zum Beispiel die Brahma Sutras sehr bedeutend. Aber es gibt nur dann eine Sutra, wenn die Tradition schon einige hundert Jahre alt und reif dafür ist, in Sutraform komprimiert zu werden. Sutra bedeutet wörtlich „Schnur“ oder „Faden“, was durchaus auch in unserer Kultur als „Leitfaden“ zu finden ist.

Ein Sutra ist kein Lehrbuch, das man liest und anschließend hat man alles verstanden. Es ist vielmehr als Leitfaden gedacht für den Lehrer, um dem Schüler den Raja Yoga beizubringen, indem er eben Sutra für Sutra durchgeht. Und es ist ein Leitfaden für den Schüler. In früheren Zeiten war es üblich, dass die Schüler die Sutras vollständig auswendig lernten, bevor der Lehrer irgendwelche Kommentare dazu abgegeben hat. Erst wenn der Schüler sie auswendig konnte, wurde er für fähig gehalten, im Raja Yoga unterwiesen zu werden. Sie sind übrigens nicht so schwer auswendig zu lernen, denn sie sind in Versen abgefasst, die inhaltlich wie eine Schnur, eine Kette, aufeinander folgen. Man kann aus dem letzten Wort des vorhergehenden Verses jeweils fast schon den Anfang des folgenden Verses erraten.

Der Sinn des Auswendiglernens ist auch, dass der Text im Geist dann immer parat ist. Denn in früheren Zeiten gab es kaum Bücher. Die Inder haben auf Palmblätter geschrieben. Palmblätter sind schwierig zu präparieren und zu beschreiben und halten auch nur einige Generationen lang. Dann müssen sie neu abgeschrieben werden. Einer der Gründe, warum man in Indien so große Schwierigkeiten hat zu bestimmen, von wann eine Schrift stammt, ist, dass man auf kein Original mehr zurückgreifen kann, sondern nur auf wiederholte Abschriften. Man kann also nicht beurteilen, ob eine Schrift nun schon Tausende oder „nur“ Hunderte von Jahren alt ist. Die Sutras wurden vorgelesen, vom Lehrer erklärt und von den Schülern gelernt. Dadurch lernten die Schüler auch ihren Geist und seine Arbeitsweise kennen.

Yoga Sutras lernt man nur wegen ihres Inhalts, man rezitiert sie nicht wie zum Beispiel die Bhagavad Gita oder die Upanishaden, die gleichzeitig Mantracharakter haben und durch ihre Klangschwingung wirken. Auch heute noch findet man es in Indien relativ häufig, dass die Bhagavad Gita rezitiert wird– nicht so die Yoga Sutras.

Aufbau der Raja Yoga Sutras    

Die Raja Yoga Sutras bestehen aus vier Teilen, den sogenannten Padas. Pada bedeutet wörtlich „Fuß“ oder eben im übertragenen Sinn Kapitel. Jedes Kapitel ist in Verse unterteilt, die als Aphorismen oder Sutras bezeichnet werden. Das Wort Sutra bezieht sich sowohl auf das Gesamtwerk wie auch auf jeden einzelnen Aphorismus. Die vier Füße, Kapitel, auf denen die Sutras stehen sind:

  • Samadhi Pada  = Theorie des Geistes (z. B. welche Arten von Samadhi es gibt)
  • Sadhana Pada  = Spirituelle Praxis (z. B. Die 8 Stufen des Yoga)
  • Vibhuti Pada     = Höhere Stufen des Raja Yoga (Konzentration, Meditation, übersinnliche Kräfte)
  • Kaivalya Pada  = Befreiung

Samadhi Pada wird oft auch als „Theorie des Geistes“ betitelt. Im ersten Kapitel beschreibt Patanjali, welche Stufen des Bewusstseins und welche Arten von Samadhi es gibt und wie der Geist funktioniert, bzw. was er ist. Er behandelt der Reihe nach, was Yoga ist, dann die verschiedenen Gedanken im Geist, die verschiedenen Weisen, wie man den Geist beherrschen kann, die verschiedenen Samadhi-Stufen (Savitarka, Nirvitarka, Savichara, Nirvichara, Sananda und Sasmita) als Formen von Sarvikalpa Samadhi, und schließlich Nirvikalpa Samadhi. Weiterhin schreibt er über die Hindernisse auf dem Weg, Hinweise zu deren Überwindung und schließlich nochmals über Samadhi und die Folgen von Samadhi.

Das zweite Kapitel hat als Hauptthema Sadhana, die spirituelle Praxis. Patanjali beschreibt dort zunächst den sogenannten Kriya Yoga, auf den wir noch zurückkommen werden, dann die Kleshas, die Ursachen des Leidens, was Karma ist und Teile der Raja Yoga-Philosophie, die letztlich aus dem Samkhya-System stammt. Dabei geht es um die Fragen: Was ist diese Welt, warum bin ich überhaupt in dieser Identifikation, was ist der Sinn des Ganzen, was ist Bindung und was ist Befreiung? Der bekannteste Teil der Raja Yoga Sutras, die acht Stufen des Yoga, findet sich ebenfalls im zweiten Kapitel. Speziell die ersten fünf Stufen – Yama, Nyama, Asana, Pranayama, Pratyahara – sowie ihre Wirkungen, wenn wir sie üben, sind hier beschrieben.

Die Kapitel sind nicht so systematisch, wie die Überschriften dies vermuten lassen, eben weil es Sutra–Stil ist und als Leitfaden zur Unterweisung und für die Praxis dient. Es würde unter diesem Gesichtspunkt keinen Sinn machen, das erste Viertel nur mit Theorie zu füllen, das zweite nur mit Praxis. Im ersten Teil überwiegt zwar die Theorie und im zweiten die Praxis, aber gleichzeitig findet sich im ersten Kapitel auch Praxis und im zweiten auch Theorie. Trotzdem ist das Hauptthema des ersten Kapitels Theorie des Geistes und des zweiten Kapitels spirituelle Übung. Letzteres umfasst sowohl die eigentlichen Praktiken (Yama, Nyama, Asana, Pranayama, Pratyahara) als auch die Lebenseinstellung des Yogis, was dann wieder in die Philosophie und die Theorie des Karmas hineingeht.

Das dritte Kapitel beschreibt die höheren Stufen des Raja Yoga, nämlich Dharana, Dhyana und Samadhi, also Konzentration, Meditation und Überbewusstsein und deren Auswirkungen. Der größte Teil des 3. Kapitels behandelt die Auswirkungen, die es hat, wenn man in der Lage ist, den Geist ganz auf etwas zu konzentrieren. Wenn wir zu einer großen Konzentration fähig sind, entstehen außergewöhnliche Fähigkeiten. Daher ist das 3. Kapitel ganz faszinierend. Es wird in den Kommentaren oft vernachlässigt in der Vorstellung, das alles sei nur für sehr weit entwickelte Menschen oder die Siddhis (übersinnliche Fähigkeiten), die dabei entstehen, seien doch nur Hindernisse auf dem spirituellen Weg, mit denen man sich als Aspirant gar nicht so sehr abgeben solle. Aber da Patanjali ein Viertel seines ganzen Werkes diesem Thema widmet, kann es wohl doch nicht ganz so sein.

Swami Vishnu hat einige Aphorismen davon erläutert und gezeigt, dass sie nicht nur Siddhas (Meistern im Besitz übernatürlicher Kräfte) vorbehalten sind, sondern auf jeder Entwicklungsstufe ganz praktisch anwendbar sind, um bestimmte Probleme zu lösen und Hindernisse im Geist wegzuräumen. Indem wir lernen, uns zu konzentrieren, kommen alle möglichen Fähigkeiten. Patanjali sagt im Grunde genommen, dass Konzentration alles ist. Und das gilt auf allen Stufen der Entwicklung. Konzentrationstechniken sind nicht nur für Menschen, die tatsächlich Samadhi erreichen, sondern auch für spirituelle Aspiranten, die ernsthaft auf dem Weg sind und Konzentration üben wollen. Swami Vishnu sagte immer: „Für einen Yogi mit Konzentration ist nichts unmöglich“ oder „Konzentration ist der erste Schritt der Meditation“, „Ein zerstreuter Geist ist unfähig zu meditieren“. Dazu gehört auch, im Alltag, im ganz Banalen, konzentriert zu sein. Diese Konzentration können wir im täglichen Leben mit Hilfe der anstehenden Aufgaben entwickeln. Umgekehrt können wir auch die Schwierigkeiten des täglichen Lebens besser bewältigen, wenn wir konzentriert sind.

Swami Nidyananda pflegte zu sagen: „Concentrate, just concentrate“ – nicht auf etwas konzentrieren, sondern einfach nur konzentrieren, immer ganz konzentriert sein, dann kommt alles andere von selbst.

Wenn wir eine so starke Konzentration entwickeln, entsteht Macht, und Macht korrumpiert. Patanjali beschreibt hier ganz großartige Dinge, wie wir zum Beispiel den Geist anderer Menschen kennen lernen und beeinflussen, Vergangenheit und Zukunft sehen, unsere früheren Leben erfahren, größer, kleiner, unsichtbar, schwer, leicht usw. werden können – was sowohl wörtlich zu verstehen ist als auch im übertragenen Sinn. Wir werden es hier mehr im übertragenen Sinn interpretieren: Wie diese Techniken uns schwergewichtig machen, so dass wir wahrgenommen werden, wenn wir etwas zu sagen haben, oder wie sie uns unsichtbar machen, so dass wir von anderen Menschen in einer bestimmten Situation nicht wahrgenommen werden. Es ist aber auch durchaus wörtlich zu nehmen. Ich selbst habe mehrmals erlebt, wie Swami Vishnu in die Zukunft sehen konnte, dass er hellseherische Fähigkeiten hatte und Ereignisse, die eigentlich unmöglich waren, möglich gemacht hat. Wenn er eine Vision hatte, spielte es keine Rolle, ob es äußerlich möglich war oder nicht – es hat sich einfach manifestiert.

Die Gefahr dabei ist, dass das Ego sich aufbläst. Daher sagt auch Patanjali, die Siddhis (übersinnliche Kräfte), die sich dabei entwickeln, sind Hindernisse, denn sie verstärken das Ego. Je fortgeschrittener wir sind, desto weniger werden wir unsere geistigen Kräfte benutzen. Allerdings für den, der fortgeschritten, aber noch nicht so sehr fortgeschritten ist, ist es gut, diese Techniken zu üben, um die Konzentration weiterzuentwickeln und seinen Geist zum Instrument Gottes werden zu lassen.

Bei all dem müssen wir Hingabe zu Gott üben, uns bewusst sein, auch wenn wir unsere Konzentrationsfähigkeit benutzen, sind wir Diener Gottes und stellen all unsere Fähigkeiten, unser Prana (Lebensenergie), als Instrument Gottes zur Verfügung. Vor diesem Hintergrund spricht nichts dagegen. Wir entwickeln dann diese Fähigkeiten, um ein besserer Diener Gottes zu werden und nicht, um ein dickes Ego zu bekommen. Nicht „Das habe ich toll gemacht“, sondern: „Gott wirkt durch mich hindurch“. Man muss sich immer als Kanal Gottes sehen und alles, was man an Fähigkeiten bekommt und erreicht, als Gnade Gottes empfinden.

Das vierte Kapitel ist Kaivalya, die Befreiung. Es enthält zwar tatsächlich einiges über Befreiung, aber relativ unzusammenhängend auch über alle möglichen anderen Themen. Es gab auch eine Theorie, nach der das vierte Kapitel nicht von Patanjali sein könne, weil hier ein Aphorismus auf den anderen folgt, ohne dass sie miteinander etwas zu tun hätten. Laut der modernen Kommentatoren soll es aber trotzdem von Patanjali sein. Er hat eben in dieses vierte Kapitel alles hineingebracht, was nicht in die Logik und Aufeinanderfolge von Versen der ersten drei Kapiteln hinein gepasst hat, aber trotzdem wichtig ist. Er spricht zum Beispiel nochmals über Siddhis, die übernatürlichen Kräfte und deren mögliche Ursachen. Er geht erneut auf Karma ein, auf den Unterschied zwischen Chitta und Atman (Geist und Selbst), auf das Wesen des Gedankens, die Philosophie der Wahrnehmung und er endet natürlich mit Kaivalya, der Befreiung.


Erstes Kapitel: Samadhi Pada – Theorie des Geistes

1. Atha
2. Yogash
3. Tadâ drashtuh swarûpe ‘vasthânam
4. Vritti sârûpyam itaratra
5. Vrittayah pañchatayyah klistâklistâh
6. Pramâna–viparyaya–vikalpa–nidrâ–smritayah
7. Pratyakshânumânâgamâh pramânâni
8. Viparyayo mithyâ–jñânam atad–rûpa–pratishtham
9. Shabda–jñânânupâtî–vastu–shûnyo–vikalpah
10. Abhâva–pratyayâlambanâ vrittir nidrâ
11. Anubhûta–visayâsampramoshah smritih
12. Abhyâsa–vairâgyâbhyâm tan–nirodhah
13. Tatra
14. Sa tu
15. Drishtâ
16. Tat param
17. Vitarka
18. Virâma–pratyayâbhyâsa–pûrvah
19. Bhava–pratyayo videha–prakrtilayânâm
20. Shraddhâ–vîrya–smriti–samâdhi–prajnâpûrvaka
21. Tîvra–samvegânâm âsannah
22. Mridu–madhyâdhimâtratvât tato’pi visheshah
23. Îshwara–pranidhânâd vâ
24. Klesha-karma-vipâsakâshayair aparâmrishtah
25. Tatra niratishayam Sarvajna–bîjam
26. Sa pûrveshâm api guruh kâlenânavacchedât
27. Tasya vâchakah pranavah
28. Tajjapas tad–artha–bhâvanam
29. Tatah pratyak–chetanâdhigamo ’py
30. yâdhi–styâna–samshaya–pramâdâlasyâ–virati–bhrânti–
darshanâ–labdhabhûmi–katvânavasthitatvâni chitta–vikshepâs te `ntarâyâh

31. Duhkha-daurmanasyângamejayatva-shvâsa-prashvâsâ vikshepa-sahabhuvah
32. Tat–pratishedhârtham eka–tattvâbhyâsah
33. Maitrî–karunâ–muditopeksânam
34. Pracchardana–vidharanabyam va pranasya
35. Visayavati va pravrttir utpanna manasah
36. Vishokâ vâ jyotishmatî
37. Vîta-râga-vishayam vâ chittam
38. Svapna-nidrâ-jnânâlambanam vâ
39. Yathâbhimata–dhyânâd vâ
40. Paramânu-parama-mahattvânto `sya vashikârah
41. Kshîna-vritter abhijâtasyeva maner
42. Tatra shabdârtha-jnâna-vikalpaih samkîrnâ
43. Smriti-parishuddhau
44. Etayaiva savichârâ nirvichârâ cha
45. Sûkshma-vishayatvam châlinga-paryavasânam
46. Tâ eva sabîjah samâdhih
47. Nirvichâra–vaishâradye ’dhyâtma–prasâdah
48. Ritambharâ tatra prajnâ
49. Shrutânumâna-prajnâbhyâm anya-vishayâ
50. Taj-jah samskâro ’nya-samskâra-prati-bandhî
51. Tasyâpi nirodhe sarva-nirodhân nirbîjah

1. Atha yogânushâsanam    

atha = jetzt, nun; Yoga = Yoga; Einheit, Vereinigung; anusasanam = Lehre, Auslegung

Nun wird Yoga erklärt.

Wenn wir dazu neigen, alles immer zu verschieben, müssen wir atha (jetzt) sagen: Jetzt, nicht morgen. Jetzt wird Yoga erklärt und praktiziert.

2. Yogash chitta–vritti–nirodhah    

Yogash = Yoga ist; chitta = Geist, Verstand; vritti = Gedanken(wellen), nirodhah = Zur–Ruhe–Bringen, Aufhören

Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Gedanken im Geist.

Der Geist ist wie das Wasser in einem See, auf dessen Grund ein Schatz ruht. Wenn das Wasser sich bewegt, entstehen Wellen, und wir können nicht auf den Grund schauen, um diesen Schatz zu sehen.

Nirodhah ist also das Zur-Ruhe-Kommen des Geistes, was als einer der fünf Grundzustände des Geistes gilt.

Um es mit dem Seevergleich auszudrücken:

Im Mudha-Zustand (vergesslicher Geist) ist das Wasser völlig verschmutzt. Man sieht gar nichts von dem Schatz, der unten liegt. Wir sind gar nicht bei unserem Selbst, sondern sehr weit davon entfernt. Das führt zu Traurigkeit, Verzweiflung, Depression. Es dominieren Gedanken und Gefühle wie „Ich kann nicht“, „Ich will nicht“, „Keiner mag mich“, „Alles hat keinen Sinn“,. Man hat nur noch den Wunsch, sich in ein Mauseloch zu verkriechen, entweder für alle Ewigkeit oder mindestens solange, bis es wieder besser wird. Das ist Mudha.

Kshipta, der zerstreute Zustand, ist, wenn wir ständig an etwas anderes denken und alles vergessen, was wichtig ist. Man möchte dann zum Beispiel gleichzeitig Wäsche aufhängen, mit dem Kind spielen, Yoga praktizieren, dazwischen nach dem Essen schauen, lesen, fernsehen, jemanden anrufen… und inzwischen springt die Katze in die Wäsche, und das Kind schreit.

Vikshipta ist das Bemühen um Konzentration. Nehmen wir als Beispiel diesen Vortrag. Folgt man ihm gar nicht, ist es Mudha, der vergessliche Geist. Denkt man dabei dauernd an alles mögliche andere, dann ist es Kshipta, der zerstreute Zustand. Bemühen wir uns, dem Vortrag zu folgen und es taucht nur ab und zu ein anderer Gedanken auf, dann ist es Vikshipta.

Und wenn man vollkommen konzentriert ist, ohne irgendeinen anderen Gedanken zu haben und ohne sich selbst noch zu spüren, einfach nur folgt, dann ist es Ekagrata, Einpünktigkeit, das, was die humanistische Psychologie heute als „Flow“-Erfahrung bezeichnet. Man ist voll konzentriert, man fließt mit, es fließt einfach, das Ego spielt keine Rolle. Es ist mir bei Swami Vishnus Vorträgen öfter so gegangen, dass ich sie inhaltlich einfach aufgenommen habe, die einzelnen Worte waren ganz unwichtig, es kam einfach so. Das kann bei allen möglichen Tätigkeiten passieren, zum Beispiel beim Singen. Nicht mehr ich singe, sondern es geschieht einfach. Manche erleben es am Computer, Handwerker bei der Arbeit, Köche beim Kochen. Ekagrata tritt immer dann ein, wenn es kein Bemühen um Konzentration gibt, sondern wenn sie einfach geschieht.

Schließlich folgt Nirodhah, wo es gar keinen Gedanken mehr gibt.

Das erste Kapitel spricht dann noch verschiedene Stufen von Ekagrata, Einpünktigkeit, an, also wie wir uns voll konzentrieren können und welche Erfahrungen dabei kommen. Im täglichen Leben ist Ekagrata eine Folge von Vikshipta, des Bemühens um Konzentration. Und zwar führt entspanntes, streßfreies Vikshipta zu Ekagrata. Wenn man ganz losgelöst ist, wird man plötzlich ganz konzentriert.

Dieses Modell hilft, sich mit gewissen Gemütszuständen weniger zu identifizieren. Wenn man zum Beispiel sagt: „Ach, ich bin heute so kaputt!“ oder „Ich bin so deprimiert!“, „Mir geht es wieder so schlecht!“, dann klingt das schon sehr vernichtend. Schon allein der Gedanke macht einen noch deprimierter oder lässt es einem noch schlechter gehen. Sagt man aber „Mein Chitta (Geist) ist in Kshipta (zerstreut)“, dann ist das nicht so tragisch. Nicht „Ich bin deprimiert“, sondern „Mein Chitta ist in Mudha (vergesslich)“ – und dann kann ich ja etwas daran ändern, kann überlegen, was mir hilft, aus diesem Mudha-Zustand heraus in Kshipta (zerstreut) zu kommen und aus Kshipta in Vikshipta (Bemühens um Konzentration). Um das zu trainieren und sich bewusst zu machen, ist es auch gut, eine oder zwei Wochen lang ein Tagebuch zu führen, in dem man zum Beispiel aufschreibt: Wie lange war ich jeden Tag in Mudha, wie lange in Kshipta, in Vikshipta usw.? Wer oder was hat die Übergänge erzeugt?

Frage: Wie kann man sich von einem Zustand in den anderen versetzen?

Das ist individuell und je nach Situation verschieden. Manchmal geschieht es automatisch durch äußere Einflüsse. Angenommen, man fühlt sich schlecht, und jemand klopft einem plötzlich auf die Schulter, während er sagt: „Was du da gestern gemacht hast, das war ja richtig toll!“, dann wird man meist aus Mudha (vergesslich) herausgehoben. Manchmal ist man aber so tief verstrickt, dass selbst das nichts nützt. Manchmal führt auch äußerer Druck aus Mudha heraus, zum Beispiel, wenn man sehr viel zu tun hat und keine Zeit bleibt, sich selbst zu bemitleiden.

Es gibt drei Ursachen, warum man sich schlecht fühlen kann oder in den Mudha–Zustand hineinkommt: Es kann ein äußerer Grund sein, ein innerer Rhythmus oder es geschieht einfach ohne erkennbaren Anlass.

Eine wichtige Aufgabe eines Aspiranten (Yogaschüler, jemand, der auf dem spirituellen Weg ist) ist es, dafür zu sorgen, nicht zu lange in Mudha (vergesslich) und Kshipta (zerstreut) zu bleiben. Das hängt von einer gewissen Grundzusammensetzung unseres Unterbewusstseins ab. Wenn viel Tamas (Trägheit, Dunkelheit) im Unterbewusstsein ist, sind wir relativ viel in Mudha. Herrscht Rajas (Aktivität) vor, sind wir relativ viel in Kshipta. Wenn Sattwa (Reinheit) überwiegt, sind wir eher in Vikshipta (Bemühens um Konzentration) und auch in Ekagrata (Einpüktigkeit). Wenn man sich nicht bemüht und an sich arbeitet, bleibt der Grundzustand im Leben relativ konstant. Menschen haben unabhängig von äußeren Veränderungen einen gewissen Glückslevel; das hat auch die moderne Psychologie festgestellt.

Bei einer vollkommenen Veränderung im Leben wird man ein paar Monate lang durcheinandergeschüttelt, dann pendelt sich der innere Gemütszustand wie vorher ein. Die Vorstellung, durch die Veränderung äußerer Umstände glücklich zu werden, stimmt also nicht so ganz. Äußere Veränderungen können eine Hilfe sein, damit wir besser an der inneren Transformation arbeiten können. Das kann dann auch sehr schnell gehen, denn wir arbeiten im Yoga auf mehreren Ebenen, um auch innerlich etwas zu verändern. Auch die verschiedenen Asana- (spirituelle Praktiken) und Pranayamapraktiken (Yogaatmung) erhöhen Sattwa (Reinheit) in uns. Ist mehr Sattwa und mehr Energie da, fällt es leichter, in Vikshipta (Bemühens um Konzentration) oder Ekagrata (Einpüktigkeit) zu kommen und zu bleiben. Auch Meditieren und Mantrasingen sind Gelegenheiten, mehr Sattwa zu schaffen.

Wenn wir in einer depressiven Stimmung sind, können wir überlegen, was wir konkret tun können. Je nach Situation kann die Antwort heißen, dass man einfach mal entspannen oder sich mit etwas Bestimmtem beschäftigen, sich reinigen, ein paar Runden Pranayama machen kann. Manchmal reicht es auch aus, dem Geist zu sagen: „Das ist jetzt eine Depression, die will ich nicht“ um den Geist davon abzubringen, das heißt also, Nicht-Identifikation und Umschalten.

Oder wenn man zerstreut ist, wenn der Geist unruhig ist und vieles gleichzeitig machen will, dann hilft es manchmal, aufzuschreiben, was alles zu tun ist, Prioritäten zu setzen und dann eins nach dem anderen zu erledigen.

Es gibt verschiedene Gründe, warum der See in Bewegung kommen kann:

Der Wind, der bläst und das Chitta (Geist) durcheinanderbringt, ist letztlich unser Prana (Lebensenergie). Ist das Prana unruhig, wird auch das Chitta unruhig.

Der zweite Grund sind Boote auf dem See, also äußere Ereignisse, die Unruhe erzeugen.

Fische bewegen sich von unten herauf, das sind Eindrücke aus dem Unterbewusstsein, die an die Oberfläche kommen und den See aufwühlen.

Wenn wir die Gründe für die Bewegung ausschalten, also nicht mehr so leicht auf äußere Ereignisse reagieren, wenn wir unser Unterbewusstsein langsam reinigen – das ist ein langanhaltender Prozess –, und unser Prana harmonischer machen, wird der See langsam ruhiger. Dann kommen wir öfter zu Vikshipta (Bemühens um Konzentration) und Ekagrata (Einpünktigkeit), dann allmählich zu Nirodhah (keine Gedanken mehr) und schließlich auch zu „Tadâ drashtuh swarûpe ´vasthânam“, wo „der Seher in seinem wahren Wesen ruht“. – Aber bis dahin dauert es eine Weile!

3. Tadâ drashtuh swarûpe ‘vasthânam    

tadâ = dann; drastuh = Seher; swarûpe = eigene Natur; avasthânam = Niederlassung

Dann ruht der Wahrnehmende (Seher) in seiner wahren Natur.

Sind die Gedanken, die Vrittis, ruhig, dann ruhen wir in unserem wahren Wesen, in unserer eigentlichen Natur. Wir sind nicht der Geist, wir sind nicht die Gedanken, wir sind reines Bewusstsein, Bewusstsein jenseits der Gedanken, was auch als Sat-Chid-Ananda, Sein-Wissen-Glückseligkeit, erfahrbar ist.

4. Vritti sârûpyam itaratra    

vritti = Gedankenwellen, Verhaltensweisen; sârûpyam = Identifizierung; itaratra = in anderen Zuständen

In anderen Zuständen (wenn der Geist nicht konzentriert ist), identifiziert sich der Wahrnehmende mit seinen Gedanken.

In allen anderen Gemütszuständen außer Nirodhah (keine Gedanken mehr vorhanden) identifiziert sich der Sehende mit seinen Vrittis (Gedanken). Und je mehr wir uns mit den Gedanken identifizieren, umso stärker werden sie. Wenn wir uns weniger auf die Gedanken einlassen, verschwinden sie auch leichter wieder. Wenn ein Gedanke kommt und man wenig mit ihm anfangen kann, dann ist er schnell wieder weg. Wenn aber ein Gedanke auftaucht, mit dem man sich sofort identifiziert, dann wird er sehr stark. Trotzdem sagt Patanjali, eine gewisse Identifikation sei immer da, sowie wir anfangen zu denken. Ohne Identifikation gäbe es keine Gedanken und ohne Gedanken keine Identifikation.

Bis jetzt hat Patanjali darüber gesprochen, was Yoga ist und welche Konsequenzen es hat, wenn wir nicht in Nirodhah (keine Gedanken mehr vorhanden) sind. Im Folgenden beschreibt er die verschiedenen Formen von Vrittis   (Gedankenwellen).

5. Vrittayah pañchatayyah klistâklistâh    

vrittayah (Mehrzahl von vritti) = Gedankenwellen; pañcatayyah = fünffältig; klistâ = schmerzlich; aklistâh = nicht schmerzlich

Es gibt fünf Arten von Gedankenwellen, von denen einige schmerzvoll sind und einige nicht.

Alle Gedanken sind entweder klistâh, schmerzvoll, oder aklistâh, nicht schmerzlich. Es gibt also keine freudvollen Gedanken. Freude, Ananda, ist nur im Selbst. Die Gedanken an sich sind nicht freudvoll. Wenn Patanjali von Gedanken spricht, beinhaltet das immer auch die Emotion. Vritti ist Gedanke plus Worte, Bilder und Gefühle. Gedanken und Emotionen sind zwei Aspekte von Vritti, die eigentlich nicht so unterschiedlich sind, wie es in der westlichen Psychologie angenommen wird.

Wenn ich zum Beispiel „Baum“ sage oder denke, ist das mit bestimmten Gefühlen verbunden. Wenn ich „Panzer“ sage, fühlt sich das ganz anders an, und „Maikäfer“ gibt wieder einen ganz anderen Eindruck. Es gibt also eigentlich keine Gedanken, die gänzlich vom Gefühl losgelöst sind. Mit Worten und Gedanken kann man Gefühle hervorrufen, die man nicht in Worte fassen kann, aber grundsätzlich sind immer alle drei Aspekte vorhanden. Manchmal weiß man nicht, was zuerst da ist. Man kann Worte sagen oder denken, beispielsweise Affirmationen (Bejahungen, Bestätigungen), das kann zu Bildern und Gefühlen führen. Oder ein Gefühl kommt auf, das bestimmte Bilder erzeugt, die wiederum mit Worten verbunden sind.

Man unterscheidet hier auch verschiedene Menschentypen. Es gibt Menschen, bei denen Worte überwiegen, bei manchen Bilder, für wieder andere sind Gefühle besonders wichtig. Je nachdem fällt es einem leicht, Affirmationen zu wiederholen, logisch nachzudenken (Worte), etwas zu visualisieren (Bilder) oder man kann sich leicht auf das Herz bzw. eine andere Körperregion konzentrieren (Fühlen). Dies merkt man auch im Sprachgebrauch: „Das fühle ich halt, ich kann es nicht in Worte fassen.“, „Siehst du das denn nicht ein?“ „Das klingt gut, oder?“ Bei manchen Menschen haben alle drei Anteile gleiches Gewicht oder auch nur zwei davon.

Alle Meditations-, Entspannungs- und Energielenkungstechniken arbeiten mit diesen drei Anteilen, so dass sie auf alle Menschen wirken. Es gibt zum Beispiel Entspannungstechniken, die mehr über Worte funktionieren („Ich entspanne meine Füße …“), über Bilder (Traumreisen) oder rein über das Fühlen (in die verschiedenen Körperteile hineinfühlen). Die verschiedenen Meditationstechniken arbeiten mit Worten (vor allem Mantras), Bildern-*, sich Shiva, Krishna, das Symbol für Om (unten einige besonders schöne Om-Symbole) oder Yantras (Bilder, Symbole) vorstellen und dem Gespür ins Herz oder in den Punkt zwischen den Augenbrauen hineinfühlen. Meistens macht man Kombinationen, um den Geist als Ganzes anzusprechen.

raja-yoga - konzentration und meditation

All das ist gemeint, wenn man von Vrittis (Gedanken, Worte, Gefühle) spricht. Und weil eben die Gefühle mit eingeschlossen sind, kann man sagen, Gedanken sind entweder schmerzvoll oder nicht. Wenn der Gedanke die Freude des Selbst nicht widerspiegelt, kann er schmerzhaft sein. Ist ein Gedanke schön, erhaben, freudvoll, dann ist er Spiegel unseres eigenen Selbst.

Nagt ein Hund an einem Knochen, der nicht ganz glatt ist, verletzt er sich die Zunge und blutet. Da er Blut liebt, leckt er noch mehr und je länger er leckt, desto besser schmeckt es ihm, weil er immer mehr Blut bekommt. Er denkt, es ist der Knochen, der ihm schmeckt, aber in Wirklichkeit kommt sein Genuss von seiner eigenen Zunge. Ähnlich ist es bei uns. Wir denken, wir erhalten Freude von äußeren Objekten, aber in Wahrheit kommt die Freude nur aus uns selbst heraus.

Ein anderes Beispiel ist die Geschichte von der Frau, die einen wertvollen Ring von ihrem Mann geschenkt bekommt, den sie sich schon lange gewünscht hat und der ihr immer besonders gut gefallen hat. Warum ist die Frau in dem Moment glücklich, wo sie das Geschenk auspackt und den Ring sieht? Nicht wegen des Rings an sich – sonst bräuchte sie künftig nur noch den Ring zu tragen und ihn anzuschauen, um immer glücklich zu sein.

Auch nicht, weil der Mann, an sie gedacht hat („Er liebt mich doch…!“), denn sonst bräuchte sie ja nur immer mit ihm zusammenzusein. Natürlich ist sie auch darüber glücklich, denn es nimmt ihre Ängste und befriedigt ihr Bedürfnis nach Liebe. Aber das allein ist es nicht. In Wirklichkeit ist sie glücklich, weil ihr Wunsch erfüllt ist. Und weil ein großer Wunsch erfüllt ist, sind im Moment keine anderen Wünsche da und sie kommt zur Ruhe. Die anderen Vrittis kommen weitgehend zum Stillstand, so dass die Freude des wahren Selbst durchscheinen kann. Weil wenig Gedanken da sind, strahlt das Glück des Selbst heraus. Und das Selbst ist Sat-Chit-Ananda, Sein, Wissen und Glückseligkeit, wobei in Ananda (Wonne) immer auch Prema (Liebe) enthalten ist.

Man kommt mit einer gewissen Zusammensetzung der Vrittis, mit einem bestimmten Temperament, zur Welt, aber man kann daran arbeiten, das zu verändern. Das Grundtemperament kann man schon beim Baby erkennen. Gewisse Dinge sind angeboren und vieles wird durch Erziehung und Erfahrung geprägt. Und nicht nur dieses Leben, sondern auch frühere Leben haben uns geprägt. Aber im Raja Yoga wollen wir etwas verändern. Man muss nur wissen, dass bestimmte Veränderungen länger dauern. Manches geht sehr schnell, wenn im früheren Leben schon etwas in dieser Richtung vorhanden war und nur noch Karma aus früheren Leben abzuarbeiten war. Diese Phase kann durchaus auch Jahrzehnte dauern. Kommt man dann wieder ins Yoga hinein, können Veränderungen sehr schnell und sehr gründlich eintreten. Oder der Fortschritt ist etwas bedächtiger, nicht in so großen Schritten, je nachdem, was man im früheren Leben war und gemacht hat.

6. Pramâna–viparyaya–vikalpa–nidrâ–smritayah    

pramâna = rechtes Wissen; viparyaya = falsches Wissen; vikalpa = Einbildung, falsche Vorstellung, „Wortirrtum“; nidrâ = Schlaf; smritayah = Erinnerung

Die fünf Arten von Gedankenwellen sind korrektes Wissen, irriges Verstehen, Wortirrtum, Schlaf und Erinnerung.

Jetzt spricht er über die fünf Arten von Gedankenwellen, die es gibt, eben das richtige Wissen, falsches Wissen, Einbildung oder Wortirrtum, Schlaf und Erinnerung.

Wortirrtum bedeutet, dass der Geist beispielsweise Lob, Tadel und einfache Affirmationen (Bestätigungen), die in der Wirklichkeit gar keine Korrelate haben, ernst nimmt.

Aus der Erinnerung kommen Gedanken und auch der Schlaf gilt als Gedankenwelle. Wenn das nicht so wäre, wären wir im Schlaf in Nirodhah, im gedankenlosen Zustand der Selbstverwirklichung. Aber das würde nicht viel bringen, denn nachdem wir geschlafen haben, fühlen wir uns zwar ausgeruht, aber wir wissen genauso wenig wie vorher. Durch Schlafen selbst erreichen wir keine Befreiung, keine Erlösung.

7. Pratyakshânumânâgamâh pramânâni    

pratyaksha = direkte Kenntnis; anumâna = Folgerung; âgama = Zeugnis; pramânâni = bezeugte Tatsachen

Direkte Wahrnehmung, Folgerung und kompetente Zeugenaussage sind Beweise korrekten Wissens.

Schauen wir zuerst das korrekte Wissen an. Dazu will ich zuerst nochmals auf die Theorie des Geistes in seinen vier verschiedenen Aspekten eingehen.

Der Geist als Ganzes wird als Antarkarana bezeichnet, als inneres Instrument. (Karana = Werkzeug, Instrument, Ursache; Antar = innen), im Unterschied zum Bahirkarana, dem äußeren Instrument. Das ist der Körper. Beide sind nicht unser Selbst, sondern nur Instrumente – sehr wertvolle Instrumente, aber eben nur Instrumente; wir sind nicht der Körper und nicht der Geist. Das muss man sich immer wieder vor Augen führen im täglichen Leben. Körper und Geist sind meine Instrumente, um mich auszudrücken, um Erfahrung zu sammeln, um die göttliche Energie durchzulassen und zu erfahren.

Das Antarkarana (der Geist, das innere Instrument) besteht aus vier verschiedenen Teilen:

1. Chitta im engeren Sinne bezieht sich nur auf das Unterbewusstsein. In einem weiteren Sinn ist Chitta der ganze Geist, entspricht also dem Antarkarana. In „Yogash Chitta Vritti Nirodhah“ = „Yoga ist das Zur-Ruhe-Kommen der Gedanken im Geist“ ist mit Chitta der gesamte Geistkomplex gemeint. Aber im Zusammenhang mit dem Antarkarana-Modell steht Chitta nur für das Unterbewusstsein.

2. Manas ist das Denkprinzip an sich.

3. Buddhi ist sehr schwer zu übersetzen, am ehesten mit Vernunft.

4. Ahamkara ist das Ego, die Ursache des „Ich bin“, der Identifikation.

Unser normales Wissen ist geprägt durch diese vier Bestandteile des Geistes.

Die Sinnesorgane oder Organe des Wissens, die Jnana Indriyas, wirken durch Sinneswahrnehmungen auf Manas ein.

Man sieht etwas, Schwingungen kommen auf die Augen, die Pupille dreht alles um, verkleinert es, projiziert es auf die Netzhaut, in der Netzhaut wird es umgewandelt, dann im Manas in elektrische Ströme umgesetzt, diese werden durch den Sehnerv auf das Gehirn projiziert, dann entstehen im Sehnerv nochmals andere elektrische Ströme, die im Manas in ein Bild umgewandelt werden. Wie der Prozess, durch den diese elektrischen Impulse als Bild wahrgenommen werden, genau abläuft, kann die moderne Wahrnehmungspsychologie bis heute nicht erklären. Yogis würden sagen, das geschieht auch nicht mehr im physischen Körper, sondern im Astralkörper, denn Bilder spielen sich auf der Astralebene ab.

Anschließend geht Manas ins Unterbewusstsein und fragt: „Was ist das?“ Chitta, das Unterbewusstsein bringt alle möglichen Vorstellungen hoch, die dem Gesehenen entsprechen könnten. Dann tritt Buddhi (Vernunft) in Aktion und sagt: „Ja, das ist dieses oder jenes bzw. dies könnte es sein.“ oder „Nicht genügend Information.“ Dann kommt das Ahamkara, das Ego und sagt: „Ich weiß, das ist DAS“. Man identifiziert sich damit und wenn wir darin bestätigt werden, sind wir erfreut.

Es kann aber auch falsch sein, denn die Sinne können uns täuschen, wie wir das zum Beispiel von optischen Täuschungen her kennen:

Der rechte Strich sieht jetzt länger aus. Da wir aber wissen, dass die Striche genau gleich lang sind, wird unser Buddhi, die Vernunft, in diesem Fall sagen, das kann nicht sein, beide Striche müssen gleich lang sein. Ein anderes Beispiel ist die Perspektive in der Malerei.

Unser Wissen kann uns täuschen, nicht nur durch die Sinneswahrnehmungen, sondern auch durch die Interpretationen, die wir hineinlegen. Menschen interpretieren ununterbrochen. Wenn zum Beispiel jemand einmal nachdenklich ist und deshalb nicht grüßt, denkt man sofort: „Er hat etwas gegen mich, was habe ich falsch gemacht?“ usw. Oder jemand hat sich über irgendetwas geärgert und viele Menschen beziehen das sofort auf sich, interpretieren den Gesichtsausdruck, den Ton etc.

Jemand ist vielleicht gestresst und daher im Moment für unsere Begriffe nicht freundlich genug und sofort haben wir das Gefühl, er spiele Machtspielchen oder so ähnlich. Das kommt, wenn man alles auf sich selbst bezieht und hängt auch mit dem eigenen Selbstbewusstsein, dem Selbstwertgefühl und dem eigenen Gemütszustand zusammen. Das Ego braucht Bestätigung. Wenn es sehr schwach ist, sucht es ständig im Äußeren Bestätigung. Wenn es diese Bestätigung nicht findet, fühlt es sich unsicher. Man kann jetzt natürlich daran arbeiten, sein Selbstwertgefühl zu stärken. Eine andere Möglichkeit ist weiterzugehen und zu versuchen, die Verbindung zu Gott oder zum eigenen Selbst aufzubauen. Dann können wir lernen, gleichmütig zu bleiben, auch wenn die Dinge äußerlich gerade nicht so schön sind oder nicht optimal laufen. Gott ist immer gleich und beständig.

Wir müssen uns immer bewusst machen, dass unser Geist uns täuscht. Swami Vishnu hat gerne gesagt: „Never trust your mind“ (Traue nie deinem Geist!) oder „Mind your mind“ (Achte auf deinen Geist!). Oft hält man einen auftauchenden Gedanken zu schnell für richtig. Von vielen Menschen in der spirituellen Szene hört man häufig, man müsse auf die innere Stimme hören – was in der Tat sehr wichtig ist. Aber man muss aufpassen, denn diese innere Stimme kann einen auch täuschen. Wenn sie rein ist, ist sie das Richtige. Sie kann jedoch auch falsch interpretiert oder mit einer Emotion verwechselt werden. Das ist nicht so leicht auseinander zu halten.

Beim korrekten Wissen können wir drei verschiedene Formen unterscheiden:

Die direkte Wahrnehmung durch die Jnana Indriyas, die Sinnes- und Wahrnehmungsorgane, Schlussfolgerung über den Intellekt und kompetente Zeugenaussage; das heißt, wir erfahren bzw. lernen etwas von jemand anderem.

Aus welcher dieser drei Quellen stammt wohl der größte Teil unseres Wissens?

Der größte Teil unseres Wissens stammt aus Zeugenaussagen, die man zwar noch nachzuvollziehen versucht, aber vieles übernimmt man aus zweiter Hand, ohne es selbst wirklich nachzuprüfen oder auch nachprüfen zu können. Woher wissen wir zum Beispiel, dass die Erde rund ist, wie viel Einwohner unser Wohnort oder unser Land hat, wie der Körper funktioniert, wie das Herz genau arbeitet usw.? Wir haben es irgendwo gehört oder gelesen, versucht, es durch Wahrnehmung und logische Schlussfolgerung nachzuvollziehen, aber selbst um die Erde geflogen sind wir nicht und haben auch nicht selbst den Brustkorb aufgeschnitten und versucht, das Herz zu untersuchen – und selbst wenn, wäre die Erkenntnis wahrscheinlich nicht sehr brauchbar.

Zeugenaussagen können natürlich auch eine Quelle inkorrekten Wissens sein. Ebenso kann unsere Schlussfolgerung falsch sein. Man kann auf falsche Weise intellektuelle Schlüsse ziehen oder man kann jemandem trauen, der etwas Unwahres sagt.

Und gerade auf dem spirituellen Weg erfahren wir vor allem Anfang das meiste durch Zeugen, also von spirituellen Meistern, deren Schülern oder aus Büchern. Aus logischer Schlussfolgerung oder direkter Wahrnehmung herauszubekommen, wie die Asanas (Yogastellungen) gehen, ist nicht möglich. Dazu müsste man schon selbstverwirklicht sein, so dass sie von alleine aus einem herauskommen. Aber im Normalfall geht man in eine Yogastunde und bekommt die Asanas erklärt, in welcher Reihenfolge sie zu üben, wie lange sie zu halten sind und worauf zu achten ist – und das ist zunächst einmal eine Zeugenaussage und Beobachtung. Dann übt man selbst und das führt natürlich zu eigener Erfahrung, so dass eine direkte Wahrnehmung hinzukommt. Man stellt fest: „Das tut mir gut“. Und dann kommt vielleicht noch die Schlussfolgerung dazu: „Das tut mir gut, also muss der Yogalehrer irgendwie Recht haben und in Ordnung sein“.

Den größten Teil des Wissens auf dem spirituellen Weg bekommen wir von großen Meistern und manchmal auch von weniger großen Meistern, also über kompetente Zeugenaussagen. Dabei muss man besonders aufpassen, wem man traut. Das ist einer der Gründe, warum Spiritualität manchmal in die Kategorie von Sekten gebracht wird. Es gibt genügend Leute, die das Vertrauen der Schüler ausnutzen und missbrauchen – man denke zum Beispiel an die Massenselbstmorde einiger Gemeinschaften in Amerika oder die Giftgas-Anschläge auf die Bevölkerung in Japan in jüngster Vergangenheit. Diese Leute sind von ihren Ideen überzeugt.

Ob der Meister jeweils davon überzeugt ist, weiß man nicht. Er kann bewusst verführen oder eine Wahrnehmungsverzerrung haben. Und weil es schon immer Pseudomeister gegeben hat, geben die Yogis Kriterien an, die man prüfen und beachten muss, bevor man einen Meister annimmt. Und je höher der Anspruch des Meisters – also wenn er von sich sagt, er sei selbstverwirklicht –, desto höher muss man die Messlatte anlegen. Umgekehrt, wenn ein Meister die Selbstverwirklichung erreicht hat, dann verlangt er von seinen Schülern mit Recht bedingungslosen Gehorsam. Wenn er sich dagegen selbst auch nur als einfacher Aspirant auf dem Weg bezeichnet, kann man ihm einige Fehler durchgehen lassen. Dabei muss der Schüler auch immer überlegen, was von dem Gesagten tatsächlich Weisheit und was auf Unvollkommenheit und menschlichen Irrtum des Lehrers zurückzuführen ist.

In jedem Fall, auch bei den großen Meistern, muss man die Prüfungen anwenden. Bei einem selbstverwirklichten Meister muss man zuerst überlegen, ob er tatsächlich selbstverwirklicht ist. Man weiß es zwar nie ganz genau, denn es heißt „It takes one to know one“, man muss also selbst verwirklicht sein, um zu erkennen, ob jemand anderes dies ebenfalls ist. Trotzdem gibt es einige Indizien, an denen man erkennen kann, ob jemand weiterentwickelt ist oder nicht. Das ist Aufgabe der Buddhi (Vernunft). Man darf das Herz nicht zu früh sprechen lassen, sondern muss erst ein paar kritische Fragen stellen:

Erstens, der Lehrer muss sich auf alte Schriften beziehen, die man auch selbst nachlesen kann – nicht irgendwelche obskuren Schriften, die er angeblich irgendwo in einer Höhle gefunden hat und die leider niemandem zugänglich sind. Viele der Bestseller auf dem spirituellen Markt in letzter Zeit haben solche Hintergründe. Die „Fünf Tibeter“ zum Beispiel sind gute, wirkungsvolle Übungen, aber der Hintergrund ist mysteriös und beruht höchstwahrscheinlich nicht auf alten Quellen. Oder die „Prophezeiungen der Celestine“, von denen der Autor von sich aus sagt, sie seien frei erfunden.

Aber es sind schöne Geschichten und manche Menschen werden dadurch auf den spirituellen Weg gebracht oder fangen an, ein bisschen tiefer zu gehen. Aber wenn jemand nicht nur solche Bücher schreibt, sondern uns direkt leiten will, dann müsste er konkreter werden. Wenn ein Lehrer sagt: „Gestern ist mir Krishna erschienen und hat gesagt, die Bhagavad Gita und die Upanishaden waren nur für das frühere Zeitalter, er verkündet jetzt das neue Evangelium“ – dann rennt lieber weg!

Also, man muss prüfen, auf welche Schriften sich das Ganze bezieht. Denn es gibt eigentlich nichts Neues auf dieser Erde. Der Fortschrittsglaube, der Gedanke, wir seien sehr viel klüger als unsere Eltern, die Eltern wieder klüger als unsere Großeltern und die Großeltern wieder erheblich klüger als die Urgroßeltern, ist einer der Irrtümer unserer westlichen Zivilisation. Die westliche Psychologie hat vielleicht noch ein paar Sachen entdeckt, die uns die Grundlagen der Spiritualität etwas erklären können, aber sobald es zu tiefer Spiritualität kommt, hat sie gegenüber Patanjali, Buddha, den Upanishaden oder den altchristlichen Meistern nichts Neues zu bieten.

Die zweite Prüfung bezieht sich auf das ethische Verhalten. Wenn ein Meister toleriert, dass jemand umgebracht wird, dann sollte man ihm nicht trauen! Man sollte sein ethisches Verhalten, die Einhaltung von Yamas (Yamas =  1. Gewaltlosigkeit, 2. Ehrlichkeit, 3. Nicht-Stehlen, 4. Keuschheit 5. Nicht-Begehren) und Nyamas (Nyamas  = 1. innere und äußere Reinheit, 2. Zufriedenheit, 3. Meditation, 4. Studium der Schriften 5. Hingabe an den Herrn), Nichtverletzen, Achtung der  Menschenwürde und Menschenrechte prüfen.

Jemandem, der oder die beispielsweise behauptet, man könne nur von Energie leben und deshalb die Menschen anleitet, wochenlang nichts zu essen und zu trinken und niemanden um Rat zu fragen, sollte man meines Erachtens nicht folgen. Ich spreche selten gegen jemanden, aber solche Lehren halte ich für sehr gefährlich. Es gibt viele Menschen, die diesem Programm gefolgt sind und bleibende Nieren- und andere gesundheitliche Schäden davongetragen haben. Natürlich fasziniert eine solche Botschaft die Menschen, gerade in unserer essgestörten Gesellschaft, wo man sich entweder überisst oder versucht abzunehmen. Die Hälfte aller Titelgeschichten in Zeitschriften handelt vom Essverhalten bzw. vom Abnehmen!

Es gibt natürlich auch Menschen, die unter ärztlicher Aufsicht länger nichts gegessen haben, zum Beispiel Theresa von Konnersreut, die zwei Jahre lang nur eine Hostie am Tag gegessen hat. Davon kann man eigentlich nicht leben. Solche Dinge gibt es durchaus, aber sie sind auf dem spirituellen Weg nicht übermäßig wichtig. Viele Menschen finden solche Sachen viel zu toll. Ob man jetzt isst oder nicht, was hat das für eine Bedeutung für den spirituellen Weg? Das ist wie mit den Siddhis, den übernatürlichen Kräften. Jemand, der wirklich weit fortgeschritten ist, wird kein echtes Interesse an ihnen haben.

Einiges geschieht dann einfach von selbst. Aber es geht nur darum, dass wir uns mit unserem Selbst identifizieren und nicht mit dem Körper, dass wir unser Instrument reinigen, es zum Werkzeug des Göttlichen machen und im Normalfall essen wir. Ramakrishna wurde einmal von einem Mönch berichtet, der irgendwo auf einem Gletscher ohne Kleidung hause und allein über seine Körperwärme die Umgebung zum Schmelzen bringe, sich so sein Wasser beschaffe usw.

Ramakrishna meinte dazu: „Was für eine Verschwendung! Wenn er weiter unten leben und seine Energie in die Meditation stecken würde, statt Gletscher zu schmelzen, dann könnte er schon verwirklicht sein!“ Auch von Anandamahi Ma heißt es, sie habe ein halbes Jahr nichts gegessen. Sie hat auch nicht abgenommen dabei – so steht es mindestens in ihrer Biographie. Das hatte sich mehr oder weniger zufällig ergeben. Sie hat sich halt einfach nicht ums Essen gekümmert, es war niemand da, der ihr Essen gemacht hätte, und so geschah es, dass sie eine Weile nichts gegessen hat. Bis es irgendwann einmal jemandem aufgefallen ist, dass sie nicht isst. Dann hat man ihr etwas gegeben und sie hat eben wieder angefangen zu essen.

Das dritte Kriterium ist, ob der Meister selbst praktiziert, was er predigt. Manchmal üben Meister andere Praktiken als die Schüler, aber sie sollten für sich selbst nicht zu viele Ausnahmen machen.

Viertens, er sollte grundsätzlich ein einfaches Leben führen. Wenn der Meister in Luxus lebt und die Schüler am Hungertuch nagen, dann stimmt auch irgendetwas nicht dabei.

Und schließlich ist die kompetente Zeugenaussage wichtig. Der Lehrer muss dem Schüler klar sagen, dass er nicht die Arbeit für ihn tun kann, sondern dass er selbst praktizieren muss. Ein Lehrer, der sagt: „Ich mache alles für dich, du brauchst nichts zu tun.“, ist unglaubwürdig. Es gibt Lehrer, die behaupten: „Du brauchst nur bei mir zu sein, ich erwecke dir die Kundalini, alles andere geschieht von selbst.“ Allerdings darf man hier auch nicht nur nach dem ersten Eindruck urteilen, sondern muss unterscheiden, was zunächst einmal plakativ gesagt wird. Um Menschen ansprechen zu können, muss man letztlich vereinfachen, man kann nicht alles in die erste Information hineinschreiben. Jeder kann selbst beurteilen, wie sich die Leute entwickelt haben, die eine Weile bei einer Organisation oder einem Meister gewesen sind und kann sich überlegen, ob das die Richtung ist, in die er sich selbst auch entwickeln möchte

Swami Sivananda hat humorvoll den „SB 40“–Test empfohlen, um einen selbstverwirklichten Meister zu prüfen. „SB“ für „shoe beating“ und „40“ für 40 Mal. Wenn jemand von sich sagt, „Ich bin ein großer Meister“, dann soll man einen alten Schuh nehmen und ihn 40 Mal damit schlagen – nicht zu stark, aber schon merkbar! Wenn er dann immer noch lächelt und sagt, „Ich bin ein selbstverwirklichter Meister“, dann ist er es tatsächlich.

Swami Vishnu hat immer, wenn er uns das erzählte, hinzugefügt: „Aber ich bin kein selbstverwirklichter Meister!“. Aber bei Swami Sivananda sind solche Dinge passiert, wie die Geschichte, dass jemand ihn im Ashram beinahe mit einer Axt ermordet hätte. Das erste, was er sagte, war: „Vishnu Swami, mäßige deinen Zorn!“ Seine erste Sorge war also, dass dem, der ihn fast umgebracht hätte, kein Leid geschieht und dass Swami Vishnu sich beherrschen sollte. Und das ist tatsächlich eine ganz natürliche Reaktion für einen selbstverwirklichten Meister, weil das Bewusstsein sich bereits so verändert hat. Man spürt dann wirklich das ganze Selbst überall und wenn jemand versucht, einen umzubringen, dann empfindet man das nicht als weiter tragisch. Wichtig ist, dass dem anderen Menschen kein Leid zugefügt wird. Und auf solche Indizien muss man eben achten; dann kann man sicher sein, eine kompetente Zeugenaussage zu erhalten.

All das muss man beachten und prüfen, weil eben auf dem spirituellen Weg vor allem am Anfang viel auf Vertrauen basiert. Je niedriger der Anspruch, desto mehr kann man durchgehen lassen, aber man muss immer noch darauf achten, dass es authentisch ist.

Eine andere Quelle des Wissens ist die direkte Wahrnehmung. Es gibt drei Arten der direkten Wahrnehmung:

· Die sinnliche Wahrnehmung über die Jnana Indriyas, die Sinnesorgane: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen. Sie können zu Sinnestäuschungen führen oder auch zu Fehlinterpretationen.

· Die unterbewusste oder instinktive Intuition, d. h., irgendwelche Ahnungen oder Gefühle.

Diese Ahnungen und Gefühle können echt sein, sie können aber auch täuschen, wenn sie gefärbt oder gefiltert sind.

In einer unserer Yogalehrer-Ausbildungen hatte zum Beispiel einmal eine Teilnehmerin das Gefühl, ihre Kinder, die mit dem Vater in den Ferien waren, bräuchten sie dringend. Daraufhin hat sie die Ausbildung abgebrochen und ist zu der Familie in die Ferien gefahren. Die Kinder waren total enttäuscht, weil die Mutter nun wieder wie eine Glucke auftauchte, während sie gerade dabei waren, endlich einmal eine direkte, unkomplizierte Beziehung zum Vater aufzubauen!

Auf der Ebene des Unterbewusstseins sind wir nicht auf die sinnliche Wahrnehmung angewiesen. Wir können Gedanken wahrnehmen, in die Vergangenheit und in die Zukunft gehen.

· Daneben gibt es auch noch eine höhere Form der Intuition, nämlich die überbewusste Intuition, die wirklich aus dem Atman, dem Selbst, kommt.

Sie kann auch vom Guru kommen oder in Form einer Vision von einem großen Meister, der einem klar sagt, was zu tun ist. Vielleicht hat man auch die Vision einer Manifestation Gottes wie Jesus, Krishna oder Shiva. Oder man spürt einfach: Das ist meine Aufgabe, so ist es.

Diese überbewusste Intuition kommt dann, wenn Buddhi (Vernunft) und Ahamkara (Ego) zur Ruhe kommen. Eine überbewusste Intuition erkennen wir im Gegensatz zu einer Ahnung daran, dass sie uns zu unserem eigenen Selbst bringt, uns für unser eigenes Selbst öffnet. Und das Selbst, der Atman, ist Sat-Chit-Ananda, Sein, Wissen und Glückseligkeit.

Überbewusste Intuition ist immer verbunden 1. mit einem Gefühl der Ausdehnung, der Unendlichkeit und der Verbundenheit als einem Aspekt des reinen Seins (Sat), 2. mit reinem Wissen (Chit), das man vorher nicht hatte und das kein intellektuelles, sondern intuitives, direktes Wissen ist, und 3. schließlich mit Wonne, Liebe, Licht, auch mit Kraft und Energie (Ananda).

Es kann sein, dass das eine oder andere Gefühl stärker ausgeprägt ist, aber im Prinzip sollte von allen dreien etwas dabei sein; dann ist es umso weniger vom Unterbewusstsein gefiltert. Wenn nur ein Aspekt stark fühlbar ist, dann ist es vielleicht schon gefiltert und nicht ganz klar. Dann ist es eher eine instinktive Intuition. Wenn wir eine solche überbewusste Intuition haben, sollten wir ihr folgen. Wir müssen nur aufpassen, wie wir sie interpretieren. Auch wenn wir wissen, was wir machen sollen, ist noch längst nicht klar, auf welche Weise. Und es heißt auch nicht, dass diese Intuition dann alles für uns macht. Um sie umzusetzen, muss man anschließend seinen Verstand und seine Fähigkeiten benutzen.

Als ich zum Beispiel vor etwa neun Jahren gerade die Sivananda Yoga Zentren verlassen hatte und mich im Sivananda-Ashram in Rishikesh aufhielt, wusste ich nicht so recht, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen sollte. Ich hatte dann eine Vision von Swami Sivananda, in der er mir klar gesagt hat, ich solle nach Deutschland zurückkehren, in Frankfurt ein Yogazentrum eröffnen, in fünf Jahren werde es einen Ashram geben und dann würde sich auch noch einiges anderes entwickeln.

Ich war vorher jahrelang in Amerika gewesen und wollte eigentlich nicht mehr nach Deutschland zurück. Aber nach dieser Vision hatte ich keine Wahl. Wenn Swami Sivananda mir das sagt, dann mache ich es natürlich. Gut, die Vision war klar. Aber als ich dann nach Frankfurt kam, war es bei weitem nicht so, dass alles von selbst gegangen wäre.

Man musste mit Maklern Kontakt aufnehmen, verschiedene Objekte anschauen, Mietverträge abschließen, nach einem halben Jahr waren alle Finanzreserven erschöpft. Aber Schritt für Schritt ging es dann doch voran und etwa fünf Jahre später entstand dann tatsächlich der Ashram hier. Aber auch das kam nicht von selbst, sondern es kam auch wieder diese Intuition, jetzt ist es Zeit, sich um einen Ashram zu kümmern. Dann muss wieder der Intellekt arbeiten und alles in die Wege leiten. Es reicht nicht aus, nur eine solche Wahrnehmung zu haben, sondern es müssen Taten folgen. Aber man kann loslassen, beten und bekommt dann Führung auch bei der praktischen Umsetzung.

Temple, der in Amerika die alten Mythen durch eine eigene, sehr populäre Fernsehsendung wieder salonfähig gemacht hat, sagt: „Follow your bliss“, also, folge dem, was ein Gefühl der Freude und Wonne in dir auslöst.

Wenn wir auf dem Weg fortschreiten, nimmt diese höhere Intuition irgendwann den Hauptstellenwert ein, wie wir Entscheidungen treffen. Swami Vishnu hatte sehr viele solcher Eingebungen und hat danach gehandelt. Manchmal kam es dabei auch zu Fehlschlägen. Also selbst bei jemand wie ihm ist das nicht immer ganz sicher. Wobei man nicht sagen kann, ob er wirklich danebengelegen hat oder ob es ihn nur zu einer bestimmten Erfahrung führen sollte und uns alle damit auch. Aber er hatte auch keine Schwierigkeiten, sofort loszulassen, wenn er gemerkt hat, dass etwas nicht geht. Und dann kam bald die nächste Geschichte! Aber er hat eben dadurch, dass er der Intuition gefolgt ist und ihr vertraut hat, immer mehr Zugang zum Göttlichen bekommen.

Die direkte Wahrnehmung umfasst also die sinnliche Wahrnehmung, die instinktive (unterbewusste) und die überbewusste Intuition. An späterer Stelle, im 3. Kapitel der Yoga Sutras, sagt Patanjali, nur die unmittelbare Wahrnehmung aus der Intuition heraus ohne den Umweg über die Sinne ist die eigentliche, richtige direkte Wahrnehmung. Jede Sinneswahrnehmung ist eigentlich irriges Verstehen, birgt Fehlerquellen in sich. Wir können die Wahrheit nicht über Sinne wahrnehmen, auch nicht über das Denken. Selbst wenn uns Meister davon erzählen, verstehen wir es immer noch nicht. Es braucht die direkte Wahrnehmung, Pratyaksha, und die eigene, unmittelbare Erfahrung der Wahrheit. Wahrnehmung im überbewussten Zustand, in Sarvikalpa Samadhi, unter Ausschaltung der Sinne und Gedanken, lässt uns die Wirklichkeit direkt wahrnehmen.

In Manas (Denkprinzip) werden die einfachen Gedanken widergespiegelt. Intuition kommt dann, wenn Ahamkara (Egoismus) und Buddhi (Vernunft) durchlässig sind. Ein Ziel muss also sein, unser Ego auszudünnen. Und auch unser Intellekt muss mal Ruhe geben, denn im Grunde genommen steht er uns im Weg – wie auch das Chitta (Unterbewusstsein) – , wenn wir zu Atman, unserem Selbst, kommen wollen. Nur dann kann wahrhafte Intuition oder direkte Wahrnehmung der Wirklichkeit entstehen.

Aber die Buddhi (Vernunft) hat auch wichtige Funktionen.

Als niedrige Buddhi hilft uns der praktische Intellekt bei der Bewältigung unserer Alltagsaufgaben. Wenn wir zum Beispiel ein Bild aufhängen wollen, müssen wir überlegen, wie wir das am besten machen: Aus was für einem Material besteht die Wand, kann ich einfach einen Nagel einschlagen oder brauche ich eine Bohrmaschine oder Spezialnägel, wen könnte ich fragen, wo bekomme ich die nötigen Werkzeuge und Hilfsmittel usw. Man benutzt also das logische Denken, um etwas zu erreichen. Die meisten Menschen benutzen ihren Intellekt nur dafür. Wenn sie etwas haben wollen, wird der Intellekt in Bewegung gesetzt, um es zu bekommen.

Aber der höhere Intellekt ist ein anderer, nämlich Viveka, die Unterscheidungskraft. Sie ist sehr wichtig auf dem spirituellen Weg. Viveka gibt es auf verschiedenen Ebenen: zum einen die grundlegende Unterscheidungkraft zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen, dem Ewigen und dem Vergänglichen, zwischen dem, was uns glücklich macht und dem, was uns Leid bringt. Was ist wirklich wichtig angesichts der Tatsache, dass wir irgendwann diesen physischen Körper verlassen? Was macht mich wirklich glücklich? Manche Menschen laufen ihr Leben lang hinter dem Glück her, ohne nachzudenken. Ein Yogi denkt zuerst nach und begibt sich dann auf die Suche. Dazu benutzen wir die Unterscheidungskraft der Buddhi (Vernunft). Sie ist auch dazu da, die anderen Quellen der Wahrnehmung zu überprüfen. Und, wie bereits erwähnt, setzen wir die Unterscheidungskraft ein, ehe wir uns einem Meister anvertrauen.

Wenn wir schließlich einen Meister gefunden haben, der vollkommen ist, müssen wir bei allem, was er sagt, überlegen und unterscheiden lernen, was es überhaupt bedeutet. Manchmal interpretiert man auch zu viel in eine Aussage oder eine Handlung hinein. Swami Vishnu hat gerne die Geschichte erzählt, wo ein Meister zum Baden an den Fluss ging. Um seine Kleider vor den vielen Affen, die dort waren, zu schützen, machte er einen Sandhügel darüber. Kurz danach kamen seine Schüler ebenfalls zum Fluss. Sie hatten nicht gesehen, dass der Meister seine Kleider vergraben hatte. Sie sahen nur den Sandhügel und hielten dies für eine besondere rituelle Handlung. Also gingen auch sie alle hin und bauten Sandhügel. Als der Meister nach seinem Bad aus dem Fluss kam, dauerte es eine ganze Weile, bis er den richtigen Hügel mit seinen Kleidern wiedergefunden hatte ….

Ist der Meister nicht ganz so perfekt, müssen wir unsere Unterscheidungskraft einsetzen, um zu beurteilen, was von dem, was er tut und lehrt, tatsächlich eine Manifestation von Weisheit ist und was einfach nur menschliche Unzulänglichkeiten sind, die er noch hat.

Auch bei einer höheren Erfahrung, einer Intuition, Inspiration oder Vision, müssen wir mit unserer Unterscheidungskraft nochmals überlegen, ist es tatsächlich eine Intuition oder einfach nur eine Emotion, was hat es zu bedeuten und wie setze ich es im richtigen Sinn am besten um.

Der Intellekt spielt also immer eine große Rolle. Er kann uns aber auch in die Irre führen.

Wie zum Beispiel im 2. Kapitel der Bhagavad Gita, wo Arjuna Krishna genau erklärt, warum er nicht kämpfen sollte und nicht kämpfen will. Gleichzeitig ist er aber trotzdem nicht sicher und sagt zu Krishna: „Oh Krishna, bitte, ich weiß nicht, was richtig und was meine Pflicht ist. Nimm mich an, der ich mich dir hingebe. Nimm mich als Schüler an, ich nehme zu dir Zuflucht.“ Aber nachdem er so darum gebeten hat, belehrt und geführt zu werden, sagt er paradoxerweise: „Ich will nicht kämpfen“. Der Schüler geht zum Meister: „Bitte sage mir, was ich tun soll, aber ich mache lieber das …“ – Und Krishna lächelt brutalerweise. Das machen Meister oft. Man kommt ganz verzweifelt zu ihnen und sie lächeln einfach und erzählen einem irgendetwas, aber sie geben in den wenigsten Fällen eine eindeutige Antwort.

Ich kann mich noch an eine große, vielleicht die erste große spirituelle Krise erinnern, die ich hatte. Ich hatte ja recht früh, mit 16 Jahren, angefangen zu meditieren. Mit 17 entdeckte ich das Yoga und habe dann viel praktiziert, die vier Wochen Intensiv-Yogalehrer-Ausbildung gemacht und bin dann in München in das Sivananda Yoga Zentrum eingezogen. Dort habe ich jeden Morgen meditiert, bin meistens schon um vier oder früher aufgestanden und habe vor der Meditation schon zwei Stunden Pranayama gemacht, nach der Meditation nochmals Asanas und Pranayama, tagsüber studiert und Karma Yoga im Zentrum gemacht, d. h., bei Arbeiten im Zentrum mitgeholfen, und abends wieder meditiert.

Es ging mir auch ganz gut, aber irgendwann sagten mir die anderen im Zentrum, ich solle doch mal ein bisschen lockerer werden. Ich bin auch nie mit den anderen zusammen Eis und Pizza essen gegangen – das große Laster in den Sivananda-Zentren. Irgendwann fing ich auch an, zu denken: Ich mache so viel, aber die Selbstverwirklichung lässt auf sich warten und ich spüre weder die Kundalini noch mache ich tiefe Meditationserfahrungen, während andere oft von ihren wunderbaren Erfahrungen erzählten. Vor allem fehlte mir auch die Fähigkeit, meinen Geist zu konzentrieren. Das war für mich ein ganz großes Problem. Schließlich begann ich auch langsam zu zweifeln, ob die Leiterin des Zentrums mich wirklich richtig anleitete und ob das überhaupt der richtige Weg sei, ob ich nicht woanders hingehen sollte, ob ich doch den falschen Meister oder die falsche Richtung gewählt hatte. Im Jahr zuvor war ich bei einem anderen Meister gewesen – das war eigentlich auch ganz schön gewesen. Durgananda, die Leiterin des Zentrums, wusste von meinen Zweifeln und sagte, dass ich Swami Vishnu fragen müsse.

Gut, irgendwann kam dann Swami Vishnu nach München. Er wohnte im Hotel, da das Zentrum voll war, denn wenn er kam, wollten ihn auch sehr viele andere Leute sehen und im Zentrum übernachten, so dass dort kein Platz mehr für ihn war. Es war dann immer so, dass alle zu ihm ins Hotelzimmer gingen und um ihn herumsaßen. Es wurde Satsang (Zusammensein mit Weisen, mit Gleichgesinnten auf dem spirituellen Weg) gehalten, gemeinsam meditiert und gesungen und anschließend fing er an, mit den Teilnehmern zu reden. Da sagte Durgananda zu mir: „So, und jetzt fragst Du ihn!“ Ich war damals ziemlich schüchtern, mein Englisch war auch nicht so überwältigend und ich wagte eigentlich kaum mit Swami Vishnu zu reden – na, ja, jedenfalls habe ich ihm dann meine Probleme in Kurzform geschildert.

Da hat er zuerst einmal gelacht und zu den anderen gesagt: „Hier ist ein Junge, der keinen inneren Frieden findet. Was machen normalerweise Jungen in seinem Alter, wenn sie keinen Frieden finden? Sie gehen in die Disko, rauchen, betrinken sich oder nehmen Drogen (alles Sachen, die ich nie im Leben gemacht habe!), aber er sucht die Lösung im Yoga.“ Zuerst war ich leicht irritiert und habe mich ausgelacht und nicht ernst genommen gefühlt.

Aber dann hat er mir noch gesagt: „Was du machst, ist richtig. Dein Sadhana (spirituelle Praxis) ist ok. Du musst nur Geduld üben“. Dann hat er die Geschichte vom Mangobaum erzählt, der viele Jahre braucht, bis er Früchte trägt und den man nicht zwingen kann, schneller zu wachsen. Aber ich solle alle Praktiken so fortsetzen wie bisher. Vielleicht könnte ich ja einmal in der Woche einen Morgenspaziergang machen statt zu meditieren. Am nächsten Morgen ging ich natürlich gleich hinaus. Es regnete in Strömen, aber dieser Spaziergang, wo ich eine Stunde lang ganz meditativ an der Münchener Pinakothek usw. vorbeigegangen bin, ist mir als ein wunderbares Erlebnis in Erinnerung geblieben!

Das ist eben auch die Kunst, wenn Schüler einen um Rat fragen – und wenn man länger unterrichtet, wird man öfter um Rat gefragt –, dass man zwar Mitgefühl zeigt, aber trotzdem versucht, das Ganze von einer höheren Warte aus zu sehen, um einen übergeordneten Ratschlag geben zu können. Dem anderen ist nicht gedient, wenn man selbst vor lauter Mitgefühl auch traurig und niedergeschlagen wird.

Und so sagt Krishna im 11. Vers des 2. Kapitels der Bhagavad Gita zu Arjuna: „Weise Worte sprichst du, oh Arjuna, doch nicht zu Beklagende beklagst du. Die Weisen klagen nicht um Leben oder Tod der Wesen, denn in Wahrheit waren weder du noch ich noch diese Fürsten jemals nicht, noch werden wir jemals nicht sein in dem, was hierauf folgt.“ Er holt Arjuna aus seiner Froschperspektive heraus, in der er nur die engen Wände des Froschbrunnens sieht. Natürlich sagt er ihm nicht nur: Es ist egal was du machst, es spielt keine Rolle, sondern er erklärt ihm anschließend 16 Kapitel lang, nach welchen Grundsätzen und wie er handeln kann, ohne Verhaftung und ohne Ego. Und ganz zum Schluss sagt er: Es spielt in Wirklichkeit doch keine Rolle, was du machst. Opfere einfach alles nur Gott:

Sarva Dharman Parityajya
Mam Ekam Sharanam Vraja
Aham Tva Sarvapapebhyo
Mokshayishyami Ma Succha

„Gib alle Vorstellungen von Pflichten, von Recht und Unrecht auf.
Nimm bei mir allein Zuflucht.
Ich werde dich von all deinen Sünden (Papa), Fehlern und Schuld befreien.
Sorge dich nicht, ich werde dich zur Befreiung (Moksha) führen.“

Eigentlich ist das ja eine anarchistische Aussage: Du kannst machen was Du willst, es spielt keine Rolle. Opfere einfach alles Gott. Gott wird Dich von allem befreien. Deshalb macht Krishna anschließend sofort die Einschränkung: „Gib das niemandem weiter, dem es nicht darum geht, zu Gott zu kommen, erzähle dies niemandem, der sich nicht bemüht, zur Vollkommenheit zu gelangen und erzähle es niemandem, der sich nicht selbst beherrscht.“ Das gilt nur für Menschen, die sich um Vollkommenheit, Selbstbeherrschung und Hingabe an Gott bemühen. Diese drei Kriterien müssen erfüllt sein, dann können wir irgendwann loslassen, die Entscheidung Gott überlassen und unserem Intellekt eine Pause gönnen.

Bei allen drei Arten der Wissensgewinnung müssen wir aufpassen. Unser Geist führt uns in die Irre. Auch unser logisches Denken kann uns in die Irre führen.

Viele Menschen benutzen ihr logisches Denken nicht, um tatsächlich zu Schlüssen zu kommen, sondern um ihre emotional bedingten Haltungen und Einstellungen zu rechtfertigen. Ein typisches Beispiel sind hypnotische Experimente. Jemand führt eine Handlung aus, die ihm unter Hypnose suggeriert wurde und findet dann im Nachhinein eine logische, rationale Erklärung dafür, warum er das tut. Unser Geist ist oft nicht wirklich rational. Wir benutzen unser logisches Nachdenken selten dazu, wirklich die Wahrheit über die Dinge herauszufinden, sondern eher, um etwas irgendwie rational erscheinen zu lassen, das eigentlich nicht rational ist.

Da wir jetzt einiges über korrektes Wissen gelernt haben, wissen wir natürlich auch das Gegenteil, nämlich was inkorrektes Wissen ist.

8. Viparyayo mithyâ–jñânam atad–rûpa–pratishtham    

viparya = irrtümlicher Eindruck; mithyâ = falsch, täuschend; jñânam = Wissen, Auffassung; atad = nicht seiner eigenen; rûpa = wirkliche Form; pratishtham = besitzend, beruhend

Verstehen ist eine falsche Vorstellung einer Idee oder eines Gegenstandes, deren wirkliche Natur nicht zu dieser Vorstellung passt.

9. Shabda–jñânânupâtî–vastu–shûnyo–vikalpah    

Shâbda = Wort; jñâna = Wissen; anupâtî = darauffolgend; vastu–shûnyah = ohne Substanz, ohne Bezug zur Wirklichkeit; vikalpah = Einbildung

Wörtliche Täuschung wird verursacht durch Identifikation mit Worten, die in Wirklichkeit keine Grundlage haben.

Vikalpah, wörtliche Täuschung oder Wortirrtum, wie es meist übersetzt wird, ist also neben richtigem und irrigem Verstehen die dritte Form der Gedankenwellen. Eigentlich ist es schwer zu übersetzen. Vikalpah ist etwas, was dem Menschen ganz eigen ist, denn nur der Mensch hat Worte und wird durch Worte sehr stark beeinflusst.

Vikalpah bezieht sich sowohl auf Affirmationen (Bejahung, Bestätigung), Suggestionen, als auch auf Lob und Tadel. Wenn zum Beispiel jemand zu euch sagt: „Du Esel!“, dann hat dies in der Wirklichkeit keine Korrelation. Ihr habt deswegen weder längere Ohren noch ein graues Fell. Ihr könntet jetzt darüber stehen und einfach denken, derjenige, der das sagt, hat seinerseits ein irriges Verständnis. Aber trotzdem beeinflusst es einen irgendwie.

Oder wenn einem jemand sagt: „Das ist nicht richtig gemacht“, dann reagieren wir unsererseits nicht nur mit der neutralen Feststellung: „Aha, der hat gesagt, das ist nicht richtig gemacht“ – denn seine Aussage kann ja entweder korrektes oder irriges Wissen widerspiegeln. Für uns ist es gleichzeitig noch etwas anderes, nämlich Lob oder Tadel. Man ärgert sich darüber oder fühlt sich in Frage gestellt, getadelt – nicht unbedingt in jeder Situation, aber ab und zu passiert es einem schon. Das ist Vikalpah. Wir identifizieren uns mit den Worten. Wir nehmen nicht nur die Worte als solche und überprüfen den Wahrheitsgehalt, sondern wir identifizieren uns mit der Aussage, wir beziehen die Worte auf uns selbst, denn das Ego hat den Wunsch nach Bestätigung.

Es kommt natürlich auch darauf an, wer etwas sagt. Als ich zum Beispiel früher Yoga unterrichtete habe, meinte einmal ein anderer Yogalehrer, die Art und Weise, wie ich die Stunde gebe, sei nicht ganz richtig. Das hat mir wenig ausgemacht. Ich hatte das Gefühl, ich habe mehr Erfahrung, die richtige Lehrerausbildung und er hat nicht bei einem indischen Meister gelernt. Wenn aber die Leiterin des Yoga Zentrums gesagt hat: „Das hast du nicht richtig unterrichtet, so kann man das nicht machen.“, dann war das für mich wie ein Stich ins Herz. Und als mich Swami Vishnu einmal kritisiert hat, da war es wie ein Stich ins Herz und das Messer noch einmal herumgedreht.

Man muss nicht nur von Tadel, sondern auch von Lob unabhängig werden.

Kennt ihr das Gabelstaplerprinzip?  Einen Menschen hochheben, um ihn dahin zu bringen, wo man ihn haben will. Wenn ihr jemanden zu etwas motivieren wollt, ist die beste Methode, ihn mehrmals zu loben. Das kann man als positive Bestätigung auch durchaus benutzen, aber man sollte es nicht zur Manipulation einsetzen.

Ich habe das einmal im Sivananda-Yoga-Zentrum in Amerika erlebt. In Amerika spielen Kreditkarten im bargeldlosen Zahlungsverkehr eine große Rolle, so wie hier zum Beispiel die Einzugsermächtigung. Um Kreditkarten als Zahlungsmittel annehmen zu können, braucht man dort die Genehmigung seiner Bank, denn letztlich haftet sie dafür, wenn beispielsweise ein Unternehmen in Konkurs geht, aber vorher ein paar Tausend Dollar zu viel von Kreditkarten eingezogen hat.

Ich ging zu unserer Bank, um diese Genehmigung zu beantragen. Die Bank lehnte ab. Ich führte Verhandlungen mit ihnen, sie prüften es noch einmal und lehnten wieder ab. Ich erzählte die Sache einem Yogalehrer im Zentrum, der von Beruf Rechtsanwalt war. Er sagte: „Ich zeige dir, wie man so etwas macht.“ Zuerst hat er Informationen gesammelt und erfahren, dass die Bank einen neuen Direktor bekommen hatte. Dann hat er die Bank angerufen und dem Chef erst einmal Honig um den Mund geschmiert, indem er ihm gesagt hat, er habe gehört, dass dieser jetzt der neue Direktor der Bank sei, die Leute sprächen ja so positiv von ihm, alles sei so viel besser als vorher, der Vorgänger sei ja nicht so gut gewesen, alle hätten sich auf ihn gefreut usw.

Ich bin vor Scham fast in den Boden versunken. Dann hat er so ganz beiläufig erwähnt, dass vor kurzem ein kleiner Irrtum mit der Genehmigung der Kreditkarten für das Yogazentrum passiert sei – das ging aber fast am Rande. Zwei Tage später hatten wir die Bestätigung, dass wir künftig Kreditkarten annehmen können. Anstatt also der natürlichen Reaktion nachzugeben, d. h. zu schimpfen, zu drohen, die Bank zu wechseln etc., erreicht man das Gewünschte ganz leicht durch Loben. Trotzdem habe ich dem Anwalt gesagt: Es ist gut, andere zu loben, aber als Yogi sollte man trotzdem bei der Wahrheit bleiben.

Wenn man für andere etwas zum Guten bewirken will, kann man diese Methode durchaus auch benutzen. Es ist sicher besser, jemanden zu loben und zu versuchen, ihn auf diese Weise in eine bessere Richtung zu bringen, als ihn anzubrüllen oder mit Machtkämpfen zum Ziel zu kommen. Aber wir sollten andere nicht manipulieren und wir sollten auch selbst aufpassen, dass uns niemand manipuliert.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Wir können unser Selbstwertgefühl aufbauen, dann brauchen wir weniger Lob und werden von Tadel unabhängiger. Oder wir können versuchen, uns immer mehr als Instrument Gottes zu fühlen, dann brauchen wir keine Selbstbestätigung von außen mehr. Wir geben uns Gott hin und spüren, nicht ich handle, sondern Gott handelt durch mich. Das macht einen unabhängiger und ist meiner Meinung nach der einfachere Weg. Das ist ein Aspekt von Vikalpah, Wortirrtum oder Einbildung.

Der zweite Aspekt von Vikalpah ist, dass wir nicht nur in der einfachen Dimension von Lob und Tadel sehr stark durch Worte beeinflusst werden, sondern ganz generell durch alles, was Menschen sagen. Dieses Phänomen macht sich auch die Werbung zunutze. Werbung ist ja nicht logisch, sondern suggestiv; zum Beispiel „Der Geschmack von Freiheit und Abenteuer“ in einer Zigarettenwerbung – was für ein Irrsinn! Da wird jemand zum Sklaven eines Glimmstengels, verpestet die Umwelt und seine eigene Luft, ruiniert seine Lungen, macht sich unfähig zu sportlicher Leistung und das Ganze soll Freiheit und Abenteuer sein! Trotzdem assoziieren die Menschen diese Zigarette mit Freiheit und Abenteuer. Eigentlich ist die Zigarette ja ein Pubertätsritual. Nach dem 20. Lebensjahr wird fast niemand mehr süchtig, sondern vorher. Kinder wollen erwachsen werden und ihr Symbol dafür ist die Zigarette. Das Dumme dabei ist nur, dass sie süchtig werden und nicht mehr davon loskommen. Und dann werden sie 60 und sind immer noch an ihrem Pubertätsritual hängen geblieben – das ist sicher ein Aspekt des Rauchens.

Was andere Menschen sagen, beeinflusst uns also. Nicht nur, weil es logisch ist, sondern weil Worte eine Wirkung haben.

Die tiefe Wirkung von Worten habe ich bei einem Schlüsselerlebnis mit Swami Vishnu erfahren, das ich als meine eigentliche Einweihung ansehe. Ich habe zwar auch eine Mantra-Einweihung, eine Brahmacharya- und eine Swami-Einweihung – ich war ja auch einige Jahre ein Swami mit Mönchsgelübde und allem, was dazu gehört; später hat mich Swami Vishnu auf meinen Wunsch davon entbunden – aber dieses Erlebnis war für mein Gefühl meine eigentliche Einweihung.

Es war das zweite Mal, dass ich eine längere Yogalehrer-Ausbildung übersetzt und für die deutsche Gruppe die Asana-Unterrichtstechniken und die Bhagavad Gita unterrichtet hatte. Am Ende des Kurses war es üblich, dass der Lehrer einer Sprachgruppe – meist waren es vier oder fünf, eine englische, französische, deutsche, italienische usw. – mit seiner Gruppe zu Swami Vishnu ging, der dann einige aufbauende, inspirierende Worte zum Abschied sagte.

Irgendwie fühlte ich mich am Ende des Kurses recht ausgelaugt und hatte keine Lust, mit der Gruppe zu Swami Vishnu zu gehen. Ich wollte ihn allein sehen. Also habe ich angefragt, ob ich kommen könne – er hatte dort eine kleine Hütte – und seine Assistentin sagte: „Ja, du kannst runterkommen, er liegt gerade in seiner Hängematte“. Ich dachte: „Oh, was mache ich denn jetzt, wenn er in seiner Hängematte liegt?!“ Jedenfalls ging ich dann langsam hinunter, mein Herz klopfte immer heftiger, denn bis dahin hatte ich eigentlich nur wenig persönliche Worte mit Swami Vishnu gewechselt, obgleich ich ihn schon ein paar Jahre kannte.

Natürlich habe ich ihn ab und zu nach Pranayama-Praktiken und ähnlichem gefragt, aber jetzt hatte ich ja eigentlich keine Frage, ich wollte ihn einfach zum Schluss noch einmal sehen, bevor ich nach Wien abreiste, um dort das Zentrum zu übernehmen. Swami Vishnu sah oder hörte mich kommen, setzte sich auf seine Hängematte und fragte mich, was ich jetzt mache. Ich erzählte ihm, dass ich nach Wien ginge und er antwortete, das sei gut, aber jetzt solle ich mich erst mal dort an den Wasserfall setzen. Es gab dort eine Statue von Swami Sivananda und einen Shiva, aus dessen Kopf heraus ein Wasserfall floß – Swami Vishnu hatte ein großes Faible für Landschaftsarchitektur und Schönheit, daher gab es dort diese Anlage mit den Statuen und dem Wasserfall.

Dorthin sollte ich mich also setzen, um den Segen der Meister zu erbitten. Dabei hatte ich eine meiner tiefsten spirituellen Erfahrungen. Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß, aber der Anzahl von Insektenstichen nach muss es ziemlich lange gewesen sein. Schließlich kam ich aus der Meditation heraus und verneigte mich nochmals vor Swami Vishnu. Er legte mir seine Hand auf die Stirn, rezitierte das Om Tryambakam (Heil- und Schutzmantra) und sagte: „And when you come to Vienna teach a lot of classes, make a lot of money and turn Vienna topsyturvy“ („Wenn du nach Wien kommst, gib viele Yogastunden, sorge dafür, dass Geld hereinkommt – denn das Zentrum war hoffnungslos verschuldet und stand eigentlich kurz vor dem Bankrott – und stelle Wien auf den Kopf!“).

Diese Worte haben mich beflügelt und gründlich verändert. Vorher war ich eigentlich ein schüchterner Mensch und habe mich selten getraut, den Mund aufzumachen. Worte von großen Meistern haben natürlich eine besonders starke Wirkung, aber auch Worte von anderen Menschen haben eine Wirkung und unsere eigenen Worte auch. Die westliche Psychologie spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten inneren Dialog. Wie spreche ich mit mir selbst? Manche Menschen sprechen oft und ständig destruktiv zu sich selbst: „Du Esel, was hast du da wieder gemacht? Du taugst ja gar nichts! Du bringst nie etwas fertig!“ Dadurch wird man beeinflusst. Man muss darauf achten, wie man selbst zu sich spricht, wie andere zu einem sprechen und wie man selbst zu anderen spricht. Welche Suggestionen gebe ich den anderen? Worte haben Kraft.

Es gibt eine einfache Technik, die Patanjali im zweiten Kapitel ausführt: Wenn wir merken, dass wir zu uns selbst Worte sprechen, die nicht positiv sind, müssen wir uns gegenteilig programmieren. Denkt man also zum Beispiel: „Das packe ich nie“, muss sofort die Gegensuggestion kommen: „Durch die Gnade Gottes schaffe ich’s!“ oder „Das ist zu viel!“ oder „Wenn Gott mir Aufgaben gibt, wird er mir auch die Kraft geben, sie zu erfüllen.“

Die Gegensuggestionen müssen nicht so überheblich klingen wie: „Ich schaffe alles!“ Dasselbe Prinzip gilt natürlich auch, wenn andere uns negativ beeinflussen. Es hat eine verheerende Wirkung, wenn man sich etwas vornimmt und jemand sagt: „Das schaffst du nie.“ Eine solche negative Suggestion sollte man nie ohne Gegensuggestion lassen, sonst wirkt sie auf unterbewusste Weise. Das heißt nicht, dass wir sofort auftrumpfen und dem anderen sagen müssen: „Dir werde ich’s zeigen, das schaffe ich schon!“ – das wäre höchstens der Beweis für ein gesundes Ego. Die Reaktion eines ungesunden Ego wäre: „Na ja, vielleicht hat er ja recht, ich versuche es besser erst gar nicht“ Viele Menschen werden so künstlich niedergehalten – im geschäftlichen und sozialen Umfeld, oft sogar vom Partner.

Vikalpah (Wortirrtum) heißt also, wir identifizieren uns mit den Worten, auch wenn sie in der Wirklichkeit keine Grundlage haben. Wir müssen auf unsere Gedanken achten, auf die Worte, die wir zu uns sprechen und auf die Worte, die andere zu uns sprechen. Zusätzlich zu Gegensuggestionen auf negative Äußerungen können wir natürlich auch Affirmationen (Bejahung, Bestätigung) sprechen. Es ist zwar nicht so, dass Affirmationen unbedingt alles bewirken können, aber sie haben eine gewisse Wirksamkeit, die wir ausnutzen können.

10. Abhâva–pratyayâlambanâ vrittir nidrâ    

abhâva = Abwesenheit; pratyayâ = Inhalt der Psyche; âlambanâ = Stütze, Grundlage; vritti = Gedankenwelle, Modifikation; nidrâ = Schlaf

Die Erscheinungsform (vritti) des Geistes, die Abwesenheit irgendeines Inhalts im Geist umfasst, wird Schlaf genannt.

Auch Schlaf ist eine Vritti, ein gedanklicher Zustand, bei dem sonst kein anderer Gedanke im Geist ist. Aber es ist eine Vritti, eine Gedankenwelle – sonst wären wir im Schlaf selbstverwirklicht!

11. Anubhûta–visayâsampramoshah smritih    

anubhûta = (von) Erfahrenem; vishayâ = Gegenstand; asampramoshah = „Nicht–Diebstahl“, nicht loslassen; smritih = Erinnerung

Erinnerung ist das Festhalten an vergangenen Erfahrungen.

Alle vergangenen Erfahrungen kommen im Geist hoch; daher ist auch die Erinnerung eine Vritti, eine der fünf Hauptformen von Gedanken.

12. Abhyâsa–vairâgyâbhyâm tan–nirodhah    

abhyâsa = beharrliche Übung; vairâgyâbhyâm = Nichtanhaften, Wunschlosigkeit; tan–nirodhah = Abstellen, Unterdrücken (der Chitta–Vrittis)

Die Kontrolle der Chitta Vrittis, also der Gedanken im Geist, wird durch Übung (abhyâsa) und
Verhaftungslosigkeit (vairâgyâ) herbeigeführt.

Das ist dasselbe, was Krishna im 6. Kapitel der Bhagavad Gita sagt. Er spricht erst davon, was Meditation ist und dass der Yogi Gleichmut entwickeln soll. Wenn er gleichmütig geworden ist gegenüber Lob und Tadel, Hitze und Kälte, Schmerz und Vergnügen, ist er reif für die Ewigkeit. Arjuna sagt darauf sinngemäß: „Oh Krishna, das schaffe ich nie. Es ist leichter, den Wind mit blossen Händen festzuhalten als den Geist zu beherrschen.“ Krishna gibt ihm die gleiche Antwort wie Patanjali: „Ja, Arjuna, wahrlich ist es schwer, den Geist zu beherrschen, aber durch Übung und Verhaftungslosigkeit, durch Abhyasa (Üben) und Vairagya (Verhaftungslosigkeit), ist der Geist unter Kontrolle zu bringen.“

In den nächsten Aphorismen erfahren wir Näheres darüber.

13. Tatra sthitau yatno `bhyâsah    

Tatra = von jenen (d. h. von Abhyasa und Vairagya); sthitau = um fest gegründet zu sein; yatnoh = Anstrengung, Bemühung; abhyâsah = Übung

Abhyasa (Übung den Geist unter Kontrolle zu bringen) ist die ständige Bemühung, die Einschränkung der Gedankenwellen fest zu begründen.

Alle Anstrengungen, die wir machen, um unsere Gedanken zu beherrschen, sind Abhyasa. Es gibt nicht nur eine oder zwei bestimmte Übungen und auch nicht nur die hier in den Yoga Sutras aufgeführten, sondern alles, was dazu dient, den Geist zu beherrschen, ist Abhyasa. Hierunter fällt auch die ständige Bemühung – wir haben keine Pause! Die Übung beginnt mit dem Aufwachen am Morgen und hört am Abend mit dem Einschlafen auf. Später geht es sogar rund um die Uhr, 24 Stunden lang. Es beginnt mit dem Aufwachen am Morgen und hört morgens beim Aufwachen auf. Das kann so weit gehen, dass man im Traum Mantras singt, Asanas oder Pranayama macht oder selbstlosen Dienst tut.

Im Schlaf kann unser Geist uns alles Mögliche vorgaukeln, alles Mögliche tun. Manchen, die neu auf dem spirituellen Weg sind, passiert es die ersten Jahre noch, dass der Geist im Traum Dinge hervorbringt, die sie im Wachbewusstsein nie tun oder an die sie nie denken würden. Das ist auch ok, so hat der Geist ein bisschen Spielraum. Schlaf und Träume haben eine ausgleichende Funktion.

Swami Vishnu hat gesagt: Angenommen, es gäbe keinen Schlaf und keine Träume, so dass wir immer die gleiche Person sein müssten, 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche, 52 Wochen im Jahr, 80 oder 100 Jahre unseres Lebens – würden wir das aushalten? Im Traum können wir jemand anders sein, im Schlaf vergessen wir alles. Natürlich wäre es etwas anderes, wenn wir statt dessen immer bewusst hier wären und die Selbstverwirklichung erreichen würden! Aber sogar die Selbstverwirklichten schlafen meistens noch zwei oder drei Stunden. Der Schlaf erfüllt seine Funktion. Der Geist braucht einen gewissen Ausgleich. Seien wir deshalb dankbar dafür!

„Ständige Bemühung“ heißt jetzt nicht, dass wir uns dauernd verkrampft anstrengen, sondern wir versuchen, diese Vorstellung Gottes, die Grundhaltung von selbstlosem Dienst und einer positiven Lebenseinstellung den ganzen Tag über aufrechtzuerhalten, ob wir nun Geschirr spülen, meditieren, Asanas machen, spazieren gehen, mit unserem Kind zusammen sind, im Büro arbeiten, ein paar freundliche Worte mit dem Postboten wechseln usw. Wir bemühen uns immer wieder, dieses Bewusstsein des Göttlichen aufrechtzuerhalten oder hervorzurufen und unseren Geist positiv, gleichmütig zu stimmen.

Abhyasa (das Bemühen den Geist unter Kontrolle bringen) heißt nicht, den Geist den ganzen Tag beherrschen zu müssen. Es ist die Bemühung darum. Wir sind viel zu erfolgsorientiert. Das Bemühen ist wichtig, nicht das, was dabei herauskommt. Wir bemühen uns; dann gelingt es manchmal und es gelingt auch manchmal nicht. Viele Menschen haben einen zu großen Perfektionsdrang.

Shanmug, ein langjähriger Yogalehrer, der hier als Gastreferent gelegentlich Seminare gibt, bringt immer einige Elemente aus der Psychologie in seine 20jährige Yogalehrerpraxis ein. Letztes Mal, als er hier war, sprach er darüber, dass es nach den Erkenntnissen der modernen Psychologie einige wenige sinnlose Grundüberzeugungen sind, die viele Menschen unglücklich machen. Eine dieser Grundüberzeugungen ist: „Ich muss alles richtig machen, ich muss vollkommen sein, sonst ist alles schlecht“. Das ist dieser Perfektionismus. Aber kann man wirklich vollkommen sein? Man kann nur vollkommen sein, wenn man seine Ansprüche sehr niedrig ansetzt und nur wenig tut. Dann ist man darin vollkommen. Wenn wir unsere Ansprüche hoch setzen und viel machen wollen, können wir nie vollkommen sein. Unser Ziel ist die Selbstverwirklichung. Bis dahin gibt es unglaublich viel zu tun. Es ist also besser, eher viel zu tun und das weniger perfekt. Das macht auch demütig.

Darin hat uns auch Swami Vishnu geschult. Er hat uns immer mehr Aufgaben gegeben, als wir eigentlich bewältigen konnten. Es war nie möglich, alles zu tun, was er gesagt hat. Es ging einfach nicht. Wir haben uns bemüht und oft ist es auch irgendwie hingekommen, manchmal aber auch nicht. Ich kann mich erinnern, einmal hat er den Auftrag gegeben, in drei Tagen einen Tempel zu bauen. Der Tempel stand dann auch, aber er war weit davon entfernt, perfekt zu sein! Es war kein riesiger kunstfertiger Bau mit Schnitzereien und so, sondern eine einfache Holzhütte, in die eine Krishna-Statue nach einem ausgefeilten alten Ritual hineingestellt wurde und in der eine Einweihungs-Puja gemacht wurde.

Diese Überlegung hilft auch für das Sadhana (spirituelle Praxis). Auch darin können wir nicht vollkommen sein. Trotzdem sollten wir unsere Ideale deswegen nicht senken. Manche Menschen denken: „Ach, ich schaffe die Selbstverwirklichung sowieso nicht. Mir reicht es aus, wenn ich am Tag ein bisschen meditiere, Mantras singe und einigermaßen gesund lebe. Die vollkommene Selbstbeherrschung und die Einheit mit dem Unendlichen – das liegt für mich sowieso nicht im Bereich des Möglichen“. Wenn man sich so programmiert, verliert man das Ziel aus den Augen. Wir können nicht vollkommen sein, aber wir können uns darum bemühen. Die ständige Bemühung, unseren Geist zum Göttlichen zu bringen, ist Abhyasa.

Patanjali sagt in diesem Vers, wir sollen uns bemühen, „die Einschränkung der Gedankenwellen fest zu begründen“. Das muss man sich vor Augen führen. Es heißt also nicht einmal, wir sollen uns ständig bemühen, den Geist zu beherrschen, sondern wir sollen uns ständig bemühen, uns zu bemühen. Er macht es uns in gewisser Hinsicht einfach: Ständige Bemühung, zur Verwirklichung zu kommen, aber ohne Verhaftung. Sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Sich nicht ständig vorwerfen: Das hat nicht geklappt und jenes nicht und was ich da gemacht habe, war auch nicht so gut.

Übrigens, am Rande bemerkt, eine andere Grundüberzeugung vieler Menschen ist die Erwartung, von anderen freundlich behandelt zu werden, sonst fühlen sie sich schlecht. Aber ist es realistisch, dass andere einen immer freundlich behandeln? Manche Menschen werden grundsätzlich und grundlegend aus dem Gleichgewicht gebracht, sowie sie nicht freundlich behandelt werden. Aber in über der Hälfte der Fälle scheint es nur so und der andere meint es eigentlich gut. In der Hälfte der restlichen Fälle hat er es gar nicht böse mit uns gemeint, sondern sich mit etwas ganz anderem beschäftigt. Und in dem Viertel der Fälle, wo er wirklich mit uns ärgerlich war, ist es auch nicht so tragisch. Andere Menschen haben ihre Launen wie wir selbst auch und das alles spielt eigentlich keine so große Rolle. Im Rahmen von Vikalpa, Wortirrtum, haben wir ja schon darüber gesprochen, dass wir uns nicht so abhängig machen sollten von dem, was andere zu uns bzw. über uns sagen oder denken.

Asanas

14. Sa tu dîrgha–kâla–nairantarya–satkârâ sevito dridha–bhûmih    

Sah = das; tu = in der Tat; dîrgha = lang; kâla = Zeit; nairantarya = ununterbroche Aufeinanderfolge; satkârâ = Ernst, voller Hingabe; âsevitah = geübt, befolgt, fortgesetzt; dridha = fest; bhûmih = Grund

Die Übung wird fest begründet, wenn sie über lange Zeit hinweg ohne Unterbrechung und mit aufrichtiger Hingabe fortgesetzt wird.

Was heißt lange? – Bis zur Verwirklichung!

Viele Menschen praktizieren jahrelang Yoga, aber nur ab und zu. Wenn man ohne Unterbrechung 20 Jahre lang Yoga praktiziert, dann ist das Bewusstsein des Göttlichen schon etwas weiter entwickelt. Vom Yoga gibt es keine Pause. Der spirituelle Weg ist so, wie wenn man eine Kugel den Berg hochschiebt. Was passiert, wenn wir eine Pause machen und die Kugel loslassen? – Sie rollt den Berg wieder hinunter, zumindest ein Stück. Es gibt natürlich Ausnahmefälle, wo jemand plötzlich die Selbstverwirklichung erreicht, wenn entsprechende Samskaras (Eindrücke im Unterbewusstsein) aus früheren Leben vorhanden sind. Aber im Normalfall müssen wir die Kugel den Berg hochschieben und dürfen sie nicht wieder loslassen. Wir sollten uns auf dem spirituellen Weg nicht eine Weile ausruhen.

Zwischenfrage: „Was ist das überhaupt, die Selbstverwirklichung?“

Yogash Chitta Vritti nirodhah – im Geist sind keine Gedanken mehr, wir ruhen in unserem wahren Wesen und haben die Einheit erreicht mit dem Unendlichen. Dann sind wir befreit. Kaivalya (Freiheit; reines Bewusstsein) ist erreicht. Es gibt keine Notwendigkeit mehr für uns, dass noch etwas geschieht.

Von den Bhumikas, den sieben Stufen der Erkenntnis (1. Subheccha – Gleichgültigkeit gegenüber Sinnesobjekten, 2. Vicharana – Fragestellen, 3. Tanumanasi – Gleichgültigkeit gegenüber Objekten,  4. Sattwapati – wunschlos, 5. Asamsakti – Nichtverhaftung an die Dinge der Welt, 6. Padartha Bhavana – Erkenntnis der Wahrheit, 7. Turiya – Überbewusstheit), wissen wir, wenn wir die Selbstverwirklichung erreicht haben, sind wir erst in Asamshakti („durch nichts berührt“), wo wir noch das Karma abarbeiten müssen, das für diesen Körper vorgesehen ist.

Aber wir wissen, es sind nicht mehr wir, die handeln, sondern Gott handelt durch uns. Wir sind so lange im vollen Bewusstsein, bis das Karma zu Ende ist. Wenn nur noch wenig Karma da ist, dann läuft es auch ab, ohne dass wir etwas dazutun. Es geschieht einfach, das Karma bringt uns dazu, gewisse Sachen zu tun, die nötig sind, das ist dann die Stufe von Padarthab-havani („sieht Brahman überall“) und schließlich erreicht man Turiya (Überbewusstheit), die endgültige Befreiung, als letzte Bhumika. Wir tun nichts mehr, wir verschmelzen mit dem Absoluten, wir existieren nicht mehr als Persönlichkeit, wir sind eins mit Gott, immer Sat-Chit-Ananda, Sein, Wissen und Glückseligkeit. Es wäre auch völlig unmöglich, noch etwas zu tun.

Deshalb hat ein Jivanmukta (befreiter Weiser) auch ein sogenanntes Doppelbewusstsein. Der Jivanmukta ist der lebendig Befreite, der die Selbstverwirklichung erreicht hat. Zum einen hat er das göttliche Bewusstsein hinter allem, zum anderen hat er aber auch noch ein sattwiges (reines) Ego. Er kann also das ganze Universum im allgemeinen spüren und gleichzeitig parallel diesen seinen besonderen Körper und diesen Geist. Der Jivanmukta macht nichts mehr wirklich aus eigenem Willen, sondern weil das Karma es erfordert. Sein Körper und Astralkörper haben noch ein Karma, das ablaufen muss und dazu ist es notwendig, dass er zwischendurch in sein Ego hineingeht.

Und er weiß, das Karma dieses Körpers läuft ab als Teil des göttlichen Willens. Er spürt den Körper, kann auch Emotionen und alles andere empfinden, aber er weiß, dass dies nur ein Teil von ihm ist. So ähnlich wie wir den ganzen Körper und gleichzeitig auch einen Finger als Teil davon spüren können. Wenn es notwendig ist, den Finger zu bewegen, dann bewege ich den Finger. Ich spüre mich zwar immer noch als der ganze Körper, aber ich bewege halt nur den Finger. Gleichzeitig geht aber auch mein Herzschlag noch weiter, ohne dass ich mich darum zu kümmern brauche, der Atem geht weiter, der Magen erfüllt seine Funktion, usw.

Ähnlich ist es beim Jivanmukta. Er weiß, für diesen Körper hat er eine besondere Aufgabe, aber er ist gleichzeitig auch eins mit allem. Alles läuft ab und ist der göttliche Wille. So wie die Funktionen des Körpers ablaufen, ohne dass man eigentlich etwas davon merkt, so läuft der größte Teil des Lebens, des Universums überhaupt ab.

Einiges kann der Jivanmukti zwar auch beeinflussen, wenn er merkt, dass es notwendig ist oder die göttliche Energie will, dass er etwas von einem übergeordneten Standpunkt aus ausführt. Aber ansonsten bewegt er diesen kleinen Körper, diesen kleinen Geist und handelt durch sie, bis sein Karma abgelaufen ist. Ganz zum Schluss oder kurz vor Schluss verschiebt sich sein Doppelbewusstsein mehr in Richtung auf das kosmische Universum. Dann handelt er tatsächlich nicht mehr aus eigenem Antrieb, sondern muss von außen dazu gebracht werden. Wenn man ihm dann nichts zu essen gibt, isst er nichts mehr. Er merkt auch nichts.

Solange das Karma für den Körper noch da ist, wird er auch nicht sterben. Der Körper braucht dann einfach nichts. Er wird auch keine Vorträge geben, es sei denn, man bittet ihn darum. Wenn man ihn um etwas bittet, macht er es auch. Er ist eigentlich ein Spielball von dem, was Menschen oder das Schicksal von außen an ihn herantragen.

Solche Menschen wirken deshalb manchmal auch verrückt, wie in der Geschichte von Jada Bharata.

Es gab einmal einen großen König namens Bharata, den ersten König in der legendären mythologischen Vorzeit, der Indien als erster geeint haben soll. Nach ihm ist das Land auch benannt, denn die Inder nennen sich selbst Bharatas und ihr Land Bharata, das Land des Bharata. Der Begriff „Indien“ entstand durch die Griechen. Er bedeutet das Land, das hinter dem Indusfluss liegt. Der Fluss heißt bei den Indern eigentlich Sindu. Daraus haben die Griechen Indus gemacht, die Menschen, die um das Industal herum wohnten, als Inder bezeichnet und später wurde dann das ganze Land so genannt.

Als König Bharata alt wurde, überließ er seinem Sohn die Herrschaft und zog sich, entsprechend den vier Ashramas, den vier Lebensaltern, in die Einöde zurück. Er ließ sich an einem Fluss nieder und widmete den Rest seines Lebens der Meditation. Eines Tages, als er sein Bad im Fluss nahm, wurde ein Rehkitz heruntergetrieben, dessen Mutter von Jägern getötet worden war. Er rettete es und zog es auf. Und er, der dem ganzen Königreich entsagt hatte, seinen Kindern, seiner Frau, Luxus, Reichtum, Macht, er entwickelte nun eine Verhaftung an dieses Rehkitz. Immer öfter, wenn er meditierte, dachte er an das Rehkitz, fragte sich, wie es ihm wohl gehe. Es kam auch zu ihm, setzte sich auf seinen Schoß oder lenkte ihn sonst ab, wenn er meditierte – und so erreichte er doch nicht ganz die Selbstverwirklichung. Und im letzten Augenblick seines Lebens dachte er an das Rehkitz statt an das Unendliche oder statt sein Mantra zu wiederholen, was man tun sollte, um zu höheren Ebenen oder gar zur Verwirklichung zu kommen.

Statt dessen dachte er: „Was wird denn jetzt aus meinem Reh? Wer kümmert sich um mein Reh?“ – obwohl es schon längst alt genug war, sich um sich selbst zu kümmern! Aber Verhaftung ist nun einmal so. Und weil er so intensiv an das Reh gedacht hatte, wurde er im nächsten Leben als Reh wiedergeboren. – Man muss also aufpassen, was man denkt! Der letzte Gedanke bestimmt das nächste Leben. Natürlich auch das Karma. Letztlich schafft das, was man denkt, auch Karma. Es ist natürlich nicht unbedingt gesagt, dass man in so einem Fall als Reh wiedergeboren wird. Es könnte auch sein, dass man irgendwo im Wald wiedergeboren wird, wo Rehe eine wichtige Rolle spielen. Manche Menschen denken zum Schluss an ihre Aktien. Das heißt nicht, dass sie als Aktienpaket wiedergeboren werden. Aber sie werden in eine Familie hineingeboren werden, wo Aktien eine wichtige Rolle spielen. Und je nach Karma wird das eine Familie mit großem Aktienbesitz sein oder eine, die sich an der Börse verspekuliert und alles verliert.

Das ist einer der Gründe, warum ich kein Haustier habe. Ich würde mich sofort daran verhaften. Ich hatte schon ein Pferd, eine Katze und einen Hund. Zu der Katze, einem Kater, hatte ich eine ganz besondere Beziehung. Er hat alles gemacht, was ich ihm gesagt habe. Wenn ich auf die Schulter geklopft habe, dann ist er hochgelaufen und hat sich auf meine Schulter gesetzt – zum Entsetzen meiner Mutter, denn er musste natürlich mit den Krallen hochgehen und das tat der Kleidung nicht so gut. Er ist sogar mit mir spazieren gegangen. Und irgendwann wurde er von einem Auto überfahren. Das war eine schwere Sache für mich.

Also, der letzte Gedanke bestimmt das nächste Leben und so wurde der König im nächsten Leben als Reh geboren. Da er aber doch ein sehr fortgeschrittener Aspirant gewesen war, der schon höhere Bewusstseinsebenen erreicht hatte, hatte er die Erinnerung an frühere Leben behalten. Und weil er sich daran erinnerte, hielt er sich abseits von den anderen Rehen. Schließlich starb er als Reh und inkarnierte sich wieder als Mensch. Diesmal entschied er sich, den gleichen Fehler nicht nochmals zu machen.

Er wollte keine Verhaftungen mehr eingehen. Und da er vorher schon viel Karma abgearbeitet hatte – schon als König war er sehr spirituell gewesen, hatte alle vorgeschriebenen Rituale und Verhaltensweisen eingehalten und bereits die Vorstufen der Erleuchtung erreicht –, machte er in seinem neuen Leben schon in der Kindheit rasche Fortschritte. Um also Verhaftungen zu vermeiden und die Selbstverwirklichung zu erreichen, entschied er sich, mit niemandem zu sprechen. Seine Eltern fanden das natürlich nicht übermäßig toll. Sie empfanden ihn als eine große Belastung. Alle anderen ihrer Kinder lernten, er lernte nichts. Sie setzten ihn zwar für einfache Arbeiten ein und er machte das, was ihm gesagt wurde, aber nicht mehr. Wenn man ihm nichts sagte, saß er einfach nur da. Das heißt, er meditierte, aber für seine Eltern war er nur ein Verrückter, mit dem man nichts anfangen konnte.

Eines Tages sagten die Eltern zu ihm: „Du willst ja doch immer nur `rumstehen und nichts tun, also geh` aufs Feld, vertreibe die Krähen und sorge dafür, dass sie die Ernte nicht auffressen!“ Er bekam ein Vogelscheuchenkostüm und stellte sich aufs Feld. Als die Vögel kamen, sah er den Sinn seines Auftrages nicht ein. Warum sollte er die Vögel vertreiben, sie hatten doch Hunger! Also stand er ganz leblos da und meditierte über das Absolute. Am Abend kam sein Vater und sah, dass alle Samen aufgefressen waren. Da schlug er ihn mit dem Stock und befahl ihm, zu verschwinden, er wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben. Gut, ihm wurde gesagt, er solle verschwinden, also ging er seines Weges.

Nun geschah es, dass auf diesem Weg der König in seiner Sänfte getragen wurde. Er war unterwegs zu seinem Guru, um etwas über Brahman, das Absolute, und die Selbstbefreiung zu hören. Einer der Sänftenträger verknackste sich den Fuß, so dass es nur noch drei Träger waren. Ein König braucht nämlich paradoxerweise eine Sänfte, Sänftenträger und einen Kommandanten vor sich und einen hinter sich, auch wenn er zu seinem Guru geht! So beratschlagten nun die Kommandanten, was zu tun sei. Da sahen sie plötzlich den Jada Bharata, wie er jetzt hieß (jada = verrückt, idiotisch; aber er war nicht wirklich verrückt, er schien nur so, er war eigentlich ein großer Weiser,) den Weg entlang kommen. Der Kommandant rief ihn her und machte ihn zum Sänftenträger.

Während sie nun weitergingen, sprang Jada Bharata plötzlich hoch, weil auf dem Weg eine Schnecke war, die er erst im letzten Moment gesehen hatte, als sein Fuß fast schon unten war. Um sie nicht zu zertreten, machte er schnell einen Sprung. Die Sänfte bewegte sich unsanft, der König bekam eine Beule und rief heraus: „Was ist denn los?“ Der Hauptmann sagte: „Entschuldige, König, aber der neue Sänftenträger ist noch nicht so geübt“. Darauf sagte der König: „Dann soll er sich gefälligst ein bisschen bemühen und achtgeben“. Nach einer Weile führte eine Ameisenstraße über den Weg. Jada Bharata sprang wieder hoch, um die Ameisen nicht zu töten. Der König bekam eine zweite Beule, schaute aus der Sänfte heraus, sah, dass das wieder der neue Träger gewesen war und sagte: „Wenn du das noch einmal machst, schlage ich dir den Kopf ab“. Sie gingen weiter, bis eine Kröte auf dem Weg saß, die sich tot gestellt hatte, so dass Jada Bharata sie erst sehr spät bemerkte und wieder einen Sprung machte. Der König sprang aus seiner Sänfte, nahm sein Schwert und sagte: „Weißt du nicht, wer ich bin? Ich bin der Herr über Leben und Tod und du wagst es, das zu tun?“

Nun öffnete Jada Bharata zum ersten Mal in seinem Leben den Mund und sagte: „Oh großer König, du denkst du bist Herr über Leben und Tod und kannst doch noch nicht einmal deinen eigenen Geist beherrschen. Du kannst vielleicht diesen Körper töten, aber das Selbst kannst du nicht töten.“ Plötzlich durchzuckte es den König, er zitterte am ganzen Körper und erkannte, wie dumm er sich benahm. Er befand sich auf dem Weg, um die Erleuchtung zu erlangen – einer seiner Sänftenträger besaß sie offensichtlich bereits und er war gerade dabei, ihm den Kopf abzuschlagen. Und anschließend wollte er die Selbstverwirklichung erreichen! Der König fiel Jada Bharata zu Füßen und bat ihn um Unterweisung. Jada Bharata erzählte ihm von Brahman, dem Absoluten, und zog anschließend seines Weges. Und nur weil der König ihn danach gefragt hatte, kennen wir die Geschichte von Jada Bharata.

Jada Bharata befand sich in Padarthabhavani („sieht Brahman überall“). Er identifizierte sich eigentlich immer mit allem und machte das, was ihm gesagt wurde, ansonsten tat er nichts.

Aber davor brauchen wir keine Angst zu haben. Das wird uns nicht so schnell passieren!

Einen großen Teil der Zeit befindet sich ein Erleuchteter normalerweise in Asamshakti („durch nichts berührt“), wo er noch mit Bewusstsein handelt. Er weiß noch, dass er handelt und er tut aus einem sattwigen (reinen) Ego heraus, was getan werden muss – aber nicht mehr. Er weiß, dass das Göttliche durch ihn hindurch wirkt, auch konkret durch seinen Körper. Autistische Kinder sind da manchmal sehr ähnlich.

Wir denken immer, alle Menschen müssten so sein wie wir, sonst halten wir sie für komisch oder verrückt.  Umgekehrt stehen wir selbst unter Druck, weil wir glauben, wir müssten gleich sein wie alle anderen Menschen. Aber es gibt verschiedene Arten von Karma und daher auch verschiedene Arten von Menschen.

Abhyasa ist also die Bemühung über lange Zeit ohne Unterbrechung – sowohl am Tag als auch bei Nacht. Sicher wird es am Anfang Unterbrechungen geben, ab und zu denkt man an etwas anderes, manchmal muss man sich auch entspannen –, aber grundsätzlich müssen wir jeden Tag meditieren, unsere Praktiken ausführen, über einen langen Zeitraum, ohne ein paar Wochen oder Monate auszusetzen. Es gibt Zeiten, wo wir die Praktiken intensivieren und es gibt Zeiten, wo man weniger Asanas, Pranayama und Meditation übt, dafür mehr im Rahmen des täglichen Lebens. Aber insgesamt sollte man jeden Tag diese Praktiken durchführen und an den Gedanken, an der Bewusstheit des Göttlichen, arbeiten; das ist wichtig. Dann wird es irgendwann tatsächlich vollkommen ohne Unterbrechung, mit aufrichtiger Hingabe und Begeisterung, Satkara, nicht nur mechanisch.

Ist man schon längere Zeit auf dem spirituellen Weg, besteht die Gefahr, dass die Praxis irgendwann einmal mechanisch wird. Praktiziert man jahrelang jeden Tag die Rishikesh-Reihe, muss man ab einem bestimmten Punkt mit Langeweile kämpfen oder man fängt an, während des Übens andere Gedanken zu spinnen. Dann ist es besonders wichtig, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, warum man überhaupt übt, sich zu konzentrieren, bewusst zu atmen, Mantras zu wiederholen, eventuell auch die Praxis etwas zu ändern, damit der Geist wieder neuen Enthusiasmus bekommt. Die Praktik sollte von ganzem Herzen kommen, nicht halbherzig sein.

Bei den meisten Menschen, die regelmäßig üben, gibt es auch Trockenperioden. Und es ist besser, mechanisch zu üben als gar nicht. Es ist besser, nur dazusitzen und in der Meditation über Gott und die Welt nachzudenken – oft mehr über die Welt als über Gott –, als sich gar nicht hinzusetzen. Andere haben Phasen, wo sie in der Meditation zwischendurch einnicken.

Es ist besser, dies durchzustehen als ganz aufzuhören. Man sollte dafür sorgen, dass diese Perioden nicht zu lange dauern. Dazu muss man erst einmal prüfen, ob es einen Grund dafür gibt. Es kann sein, dass man in seinem Eifer den Schlaf zu sehr reduziert hat und man somit einfach mehr Schlaf braucht. Oder man ist aus irgendeinem Grund niedergedrückt. Man kann einen angehenden Diabetes haben, der behandelt werden muss. Unreinheiten können sich im Körper angesammelt haben, so dass man mehr Kriyas (Reinigungsübungen) machen sollte. Es kann aber auch sein, dass der Geist einfach gegen die Monotonie streikt. Wichtig ist, sich immer wieder zu bemühen, sich neu zu motivieren, zu versuchen, neuen Enthusiasmus aufzubringen. Anstelle der normalen Reaktion nachzugeben – die Praxis gefällt einem nicht, also wird aufgehört oder etwas ganz anderes gemacht –, ist es klüger, sich zu überlegen, was man tun könnte, um die Praktiken (wieder) befriedigender zu machen.

Es heißt ja, alle Antworten sind eigentlich in uns. Die Kunst ist, die richtigen Fragen zu stellen, dann kommen die Antworten von selbst. Schon allein dadurch, dass man regelmäßig praktiziert, entsteht im Lauf der Zeit ein immer stärkerer Wunsch danach. Man fühlt sich einfach nicht mehr wohl, wenn man einmal nicht geübt hat. Oft passiert es, dass das Energieniveau sinkt, wenn die Praktiken eine Weile etwas reduziert wurden, weil man einfach weniger Zeit hatte.

Hat man weniger Energie, sinkt auch die Motivation zu praktizieren und so bewegt man sich in einer Abwärtsspirale. Man hat keine Lust, zu praktizieren, sondern eher das Gefühl, sich mal ausruhen und entspannen zu müssen, weil man so hart gearbeitet hat. Gut, das kann man sich auch mal kurze Zeit gönnen. Aber dann muss man Viveka, die Unterscheidungskraft, einschalten und sich klarmachen, dass der Wunsch, weniger zu praktizieren, daher kommt, dass man eine Weile weniger praktiziert hat und infolgedessen das Energieniveau gesunken ist. Und wie bringe ich das Energieniveau wieder hoch? Nicht, indem ich weiterhin nichts mache, sondern indem ich wieder vermehrt praktiziere. Und wenn die eigene Anstrengung nicht ausreicht, sucht man sich eben Hilfe und geht zum Beispiel eine Weile in einen Ashram, an einen Ort, wo die gesamte Energie und Atmosphäre hilfreich unterstützend und aufbauend wirken.

Ich kannte einmal eine Schülerin, die jeden Tag ins Yogazentrum kam, um zu meditieren, eine Yogastunde mitzumachen und auch mitzuhelfen. Aber sie hatte fast eine Stunde Fahrtweg zum Zentrum. Mit der Zeit fand sie es unproduktiv, jeden Tag etwa zwei Stunden mit der Fahrt zur und von der Yogaschule wieder nach Hause zu verbringen. Also beschloss sie, in die Nähe des Zentrums zu ziehen. Sie suchte sich eine Wohnung in der Umgebung, musste die alte Wohnung auflösen und renovieren, die neue herrichten, umziehen usw.; kurz, sie hatte sehr viel zu tun und kam während der ganzen Zeit fast nicht mehr ins Zentrum. Erstaunlicherweise kam sie aber auch nach dem Umzug mehrere Wochen nicht mehr.

Bis sie schließlich doch irgendwann wieder einmal vorbeischaute und da habe ich sie gefragt, ob sie denn jetzt umgezogen sei. Sie sagte, ja, alles sei bestens. Ich fragte: „Was ist denn passiert? Du bist doch umgezogen, um öfter und leichter ins Yogazentrum kommen zu können und jetzt, wo du umgezogen bist, sehe ich dich gar nicht mehr.“ Da sagte sie, ja, irgendwie hätte sie in letzter Zeit das Gefühl, sie bräuchte mal eine Zeit für sich, wo sie etwas zur Ruhe käme und sie hätte da auch etwas anderes entdeckt …. Glücklicherweise war sie offen dafür, was ich ihr anschließend erklärt habe und musste über sich selbst lachen. Von da an ist sie dann auch wieder regelmäßig gekommen. Aber wenn ich ihr das nicht gesagt hätte, wäre ihre starke spirituelle Welle verebbt und sie hätte sich eine ganze Weile mit etwas anderem beschäftigt.

Dieses Phänomen erlebe ich manchmal auch bei Leuten, die sich entschieden haben, ganz in den Ashram zu ziehen. Bevor es soweit ist, müssen sie natürlich eine ganze Menge erledigen, den Haushalt auflösen, Haustiere unterbringen, sich von Menschen verabschieden, usw. Manche denken ein paar Wochen vorher: „ Ich gehe ja sowieso in den Ashram, da macht es jetzt nichts, wenn ich eine Weile lang keine Praktiken mehr mache.“ Sie kommen dann hier an und haben überhaupt keine Lust. Das stundenlange Meditieren und Mantrasingen geht ihnen erst einmal auf den Geist. Aber dann schwingen sie sich trotz allem schnell ein.

Es kann manchmal auch hilfreich sein, wenn man sich sagt: „Jetzt habe ich eine Zeitspanne, wo ich sehr viel Zeit für andere Dinge brauche. Anschließend gehe ich dann in den Ashram, mindestens für ein Wochenende, das gibt mir dann wieder den Anstoß, meine Praktiken zu intensivieren.“ Aber man sollte Patanjalis Worte im Kopf behalten, die Übung sollte nairantarya sein, ohne Unterbrechung.

Swami Sivananda hat  in einem seiner Bücher geschrieben: „Es mag Tage geben im Leben eines Aspiranten, wo er keine Zeit hat zu essen. Es mag Tage geben, wo er keine Zeit hat zu schlafen. Aber es sollte keinen Tag geben, wo er keine Zeit hat zu meditieren. Denn ein Tag ohne Meditation ist wie zwei verlorene Tage.“ Die Kugel, die wir hochschieben, rollt dann ein ganzes Stück wieder hinunter. Yogananda war da noch radikaler. Er sagt, ein Tag ohne Meditation ist eine Woche Rückschritt. Das ist zwar nicht so ganz wörtlich zu nehmen, aber es ist schon sehr wichtig, jeden Tag zu meditieren. Mit den Asanas mal einen Tag auszusetzen, ist nicht ganz so tragisch. Aber die Meditation sollte man wirklich täglich üben – ohne Unterbrechung und mit aufrichtiger Hingabe.

Als Shri Karthikeyan, ein Meister aus dem Sivananda-Ashram in Rishikesh, der uns ein-, zweimal im Jahr besucht und Vorlesungen gibt, das letzte Mal hier war, ist mir nochmals richtig klargeworden, für wie wichtig Satsang, das Zusammensein mit Weisen und anderen spirituellen Menschen, im traditionellen Yoga gehalten wird. Dem Yoga wird oft vorgeworfen, er mache einsam oder sei Nabelschau. Aber im klassischen Yogasystem ist das überhaupt nicht der Fall. Vielen Menschen mit emotionellen und schweren anderen Problemen hat Shri Karthikeyan empfohlen, ein paar Wochen hierher zu kommen. Wenn man eine Weile hier ist, verschwinden die Probleme von selbst. Die Umgebung und der Umgang mit positiven, spirituellen Menschen, in Verbindung mit einem disziplinierten Tagesablauf, heilen sehr stark.

Dabei musste ich daran denken, dass wir hier tatsächlich öfter wirklich verzweifelte Menschen haben. Sie haben eine Trennung oder sonstige psychische Krisen hinter sich bzw. stecken mittendrin, wissen nicht, was sie im Leben wollen oder leiden unter körperlichen oder psychischen Krankheiten. Nach ein paar Wochen kann man dann guten Gewissens sagen, dass sie mit einem ganz neuen Lebensgefühl wieder hinausgehen. Gerade Menschen mit großen psychischen Schwierigkeiten leben in einer spirituellen Umgebung mit positiven Menschen richtig auf.

Auf der psychischen Ebene ist Satsang also etwas sehr Wichtiges. Leider bietet unsere Gesellschaft auf diesem Gebiet nicht sehr viel. Es gibt zwar die stationäre Therapie, aber dort ist die Mehrheit der Menschen psychisch gestört. Alkoholiker sind dann zum Beispiel nur mit Alkoholikern zusammen, so dass es auch eine riesige Rückfallrate gibt. Es ist allein schon nützlich und wohltuend, eine Weile lang aus der gewohnten Umgebung herausgerissen zu werden, um seinen Geist in neue Bahnen zu lenken und zu schulen. Aber eigentlich wäre es gut, wenn es Gemeinschaften von positiven Menschen gäbe, wo Menschen in psychischen und sonstigen Schwierigkeiten einfach dazustoßen und eine Zeitlang mitleben könnten.

Das war früher in Großfamilien durchaus üblich. Wenn es beispielsweise einem Kind nicht gut ging, lebte es ein paar Wochen woanders, vielleicht bei der Großmutter oder wurde von einem anderen Teil der Familie eine Weile aufgenommen, um sich zu erholen und ihm etwas Distanz zu verschaffen. Es wäre schön, wenn es so etwas auch für Erwachsene gäbe – ein positives, erhebendes Umfeld. Das gilt auf der emotionalen und noch mehr auf der spirituellen Ebene. Wenn es einem spirituell nicht so gut geht, sollte man die Gesellschaft anderer spiritueller Menschen suchen. Das erhebt.

15. Drishtânushravika–vishaya–vitrishnasya vashîkâra samjñâ vairâgyam    

Drîshta = gesehen, sichtbar; ânushravika = gehört, verheißen, enthüllt; vishaya = Objekte; vitrishna-sya = von dem, der aufgehört hat zu dürsten; vashîkâra–samjñâ = Bewusstsein vollkommener Beherrschung; vairâgyam = Nichtanhaften, Losgelöstsein

Vairagya, Verhaftungslosigkeit, ist der Bewusstseinszustand, in dem das Verlangen nach sichtbaren und unsichtbaren Objekten durch Meisterung des Willens kontrolliert ist.

16. Tat param purusha–khyâter gunavaitrishnyam    

Tat = das; param = höchste; purusa–khyâteh = durch Gewahrung des Purusa, des Selbst; guna = Eigenschaft der Natur; gunavaitrishnyam = Freiheit von dem geringsten Wunsche nach den Gunas

Der höchste Zustand der Verhaftungslosigkeit stammt vom Bewusstsein des Purusha (Gottes) her; er entsagt sogar den drei Eigenschaften der Natur.

Vairagya (Wunschlosigkeit) ist eines der vier Mittel zur Befreiung, eines der Charakteristika im Subecha–Zustand (Sehnsucht, Suche nach Wahrheit), der ersten Stufe der sieben Bhumikas. Zu Subecha gehören: Viveka, Unterscheidungskraft, Vairagya, Verhaftungslosigkeit oder Wunsch-, bzw. Leidenschaftslosigkeit, Shatsampat, die sechs edlen Tugenden, und Mumukshutwa, tiefes Verlangen nach Befreiung.

Hier greift Patanjali besonders Vairagya heraus. In den vorherigen Versen hat er gesagt, dass die Kontrolle der Vrittis (Gedanken) durch Abhyasa (Übung) und Vairagya (Wunschlosigkeit) herbeigeführt wird. Eigentlich kann man den 15. und 16. Vers so interpretieren: Vairagya wird auf einer Ebene erreicht durch Meisterung des Willens und zum zweiten auf einer tieferen Ebene als Zustand von Verhaftungslosigkeit, der aus dem Bewusstsein des Purusha kommt.

Purusha ist das eine Selbst Gottes. Wenn man in diesem Bewusstsein ist, entsagt man den drei Eigenschaften der Natur. Das zweite fällt uns etwas leichter, auch wenn wir es nicht gleich in den höchsten Zustand überführen. Wenn wir uns tieferer Schichten unserer selbst bewusst sind, wenn das Göttliche in uns hineinstrahlt oder durchschimmert, dann fallen verschiedene Wünsche von selbst weg. Das kennt ihr vielleicht aus eigener Erfahrung. Irgendwann habt ihr mit Yoga angefangen, vielleicht, um gesund zu werden oder zu bleiben, weil es Spaß gemacht hat, um Spannungen loszuwerden, aus Neugier, um einfach etwas gegen Stress zu unternehmen oder weil ihr einfach das Gefühl hattet, es wäre gut, mal einen Yoga-Kurs zu machen.

Den ersten Yogakurs machen Leute aus den verschiedensten Gründen. Manchmal wird man einfach geführt und weiß nicht warum. Manchmal hat man ein konkretes Problem und manchmal schleppt einen ein Freund oder eine Freundin hin. Anschließend hilft einem das Yoga, etwas mehr zu sich selbst zu kommen. Und plötzlich fallen alle möglichen Sachen ab. Es ist zum Beispiel ein verbreitetes Phänomen, dass etwa drei Viertel der Menschen, die Yoga üben, von selbst aufhören zu rauchen, ohne dass sie sich darum bemühen. Es geschieht einfach. Etwas weniger, aber mindestens auch die Hälfte, werden bei regelmäßiger Yogapraxis zum Vegetarier oder Fast-Vegetarier. Der Wunsch, Fleisch zu essen, hört mehr oder weniger von selbst auf. Es geschieht einfach.

Wenn man regelmäßig meditiert, fallen verschiedene andere Verhaftungen von selbst weg. Wenn wir durch Übungen allmählich Zugang zu unserem wahren Wesen bekommen, fallen eine ganze Reihe von Verhaftungen an die drei Gunas (Reinheit, Ruhelosigkeit, Trägheit), die drei Eigenschaften, die allem Existierenden innewohnen, ab. Und beim vollen Bewusstsein Purushas, bei der vollen Selbstverwirklichung, haben wir überhaupt keine Wünsche mehr. Wir werden dann vollkommen wunschlos. Wir handeln nicht mehr, um etwas zu erreichen, sondern als Instrument in den Händen des Kosmischen.

Viele Menschen erwarten, dass auf dem Yogaweg alles so von selbst geschieht. Das stimmt aber nicht. Wir zäumen öfter das Pferd von hinten auf. Denn Patanjali hat den 15. Vers vorangestellt, wo es heißt, Vairagya (Wunschlosigkeit) kommt durch Meisterung des Willens. Wir müssen schon unsere Willenskraft anwenden. Willenskraft ist eine Manifestation von Buddhi (Vernunft). Wie wir schon gesehen haben, ist Unterscheidungskraft, Viveka, ein Ausdruck von Buddhi. Und die Energie hinter der Unterscheidungskraft kommt aus der Willenskraft. Das ist im Deutschen schwierig zu erklären, da hier Wunsch oder Wille mehr oder weniger gleichgesetzt werden.

Der Wille ist die Kraft, mit der wir das umsetzen, was wir für richtig halten; und zwar sowohl das, was wir aufgrund von Viveka (Unterscheidungskraft) für richtig halten, als auch das, was aus einer tieferen Intuition kommt. Manchmal fühlt man irgendwie intuitiv: Das muss ich tun und das muss ich lassen, das sollte ich nicht mehr tun. Die Intuition kommt mehr vom Bewusstsein des Purusha (durch das Selbst Gottes) her. Wenn man beispielsweise feststellt: „Immer wenn ich etwas Bestimmtes esse, geht es mir anschließend schlecht“, kommt die Viveka und sagt: „Also muss ich aufhören, das zu essen.“, woraus man dann dank der Willenskraft Konsequenzen zieht. Das Verlangen muss zuerst einmal bewusst gemeistert werden. Nicht alles fällt von selbst ab.

Man stellt zum Beispiel fest, immer wenn man eine Tafel Schokolade gegessen hat, fühlt man sich anschließend abgeschlafft. Man merkt, dass es einem  tatsächlich nicht gut tut. Also kommt jetzt die bewusste Entscheidung: „Ich sollte keine Schokolade mehr essen – oder höchstens noch an meinem Geburtstag oder am Geburtstag anderer Leute ein kleines Stückchen.“ Man hat diese Entscheidung getroffen. Was passiert anschließend? Natürlich kommt der Wunsch nach Schokolade. Und oft kommt der Wunsch direkt nachdem wir die Entscheidung getroffen haben.

Normalerweise würde man vielleicht nur einmal am Tag den Wunsch nach Schokolade haben oder einmal im Monat. Aber in dem Moment, wo man den Entschluss gefasst hat, keine mehr zu essen, kommt der Wunsch ständig wieder. Hier müssen wir dann unsere Willenskraft einsetzen und sagen: Nein, ich will und werde diese Schokolade nicht essen. Wenn wir den Entschluss dazu gefasst haben und ihn umsetzen, wird es eine Weile Rebellion geben, aber irgendwann wird der Geist ruhig werden und wird wissen, wer Herr im Hause ist. Und das ist etwas, was auf dem Raja Yoga-Weg von entscheidender Bedeutung ist. Auf dem Bhakti Yoga-Weg geschieht mehr über Hingabe, da ist nicht so viel Willenskraft notwendig. Aber beim Raja Yoga ist es von entscheidender Bedeutung, dass man das, was man sich vorgenommen hat, auch durchführt.

Das ist so ähnlich wie bei der Erziehung von Hunden oder Katzen. Wenn wir wollen, dass die Hauskatzen nicht auf den Tisch springen, müssen wir ganz konsequent sein. Keine Katze darf auch nur einen Moment auf dem Tisch sein. Wenn man die Katze einmal auf den Tisch lässt, vielleicht weil sie einen so durchdringend anschaut, und am nächsten Tag nicht, verunsichert man die Katze damit. Sie wird dadurch nicht glücklich, denn sie weiß nicht mehr, was sie tun soll bzw. darf und was nicht.

Genauso ist es bei einem Hund. Manche Hundehalter spielen immer Tauziehen. Damit ist weder dem Hund noch dem Besitzer gedient. Es ist physiologisch nicht gut für den Hund, wenn er ständig am Halsband ziehen muss. Das schadet seinen Hüften, Knien und Sprunggelenken. Außerdem ist es nicht gut für den Menschen, der den Hund hält, denn es geht ihm ins Genick und in den Hals. Für den Hund ist es ein ständiger Kampf: Wer ist der Chef im Rudel, ich oder er? Der Hund fühlt sich erheblich glücklicher, wenn er weiß: Der Mensch ist der Rudelführer. Sowie er „Fuß“ sagt, muss ich neben ihm gehen und ab und zu darf ich auch mal tun, was ich will. Es liegt in der Natur des Hundes, bei Fuß zu gehen. Der Hund ist ein Rudeltier und im Rudel gibt es eine feste Rangordnung. Wenn wir diese Ordnung schaffen und einhalten, ist der Hund glücklich und zufrieden. Er weiß, da ist jemand, der die Verantwortung hat und er hält sich an dessen Anweisungen.

Ähnlich verhält es sich mit dem menschlichen Geist. Der Geist ist zufrieden, wenn er weiß, da gibt es jemanden, der Herr im Hause ist. Aber das muss er erst lernen, so wie wir einem Hund beibringen müssen, bei Fuß zu gehen. Das geschieht typischerweise durch Lob und Tadel. Tadel geht relativ einfach. Wenn der Hund abhaut, gibt man ihm einen kurzen Ruck mit dem Halsband. Das macht man mehrmals immer dann, wenn er weggeht, obwohl man „Fuß“ gesagt hat. Wenn man das zwei bis drei Tage lang konsequent gemacht hat, geht der Hund immer neben einem, wenn man „Fuß“ sagt. Dann muss man vielleicht noch ab und zu einmal einen Ruck geben und irgendwann braucht man gar keine Leine mehr. Aber man muss konsequent sein. Und das können die wenigsten Menschen. Noch nicht einmal gegenüber ihrem eigenen Hund.

So ist es auch mit unserem Geist. Was wir uns vorgenommen haben, tun wir. Weshalb wir uns auch nicht zu viel vornehmen dürfen. Wenn man dem Hund innerhalb einer Woche Fuß, Platz, Sitz, Pfote geben, auf Kommando Stöckchen holen, beibringen will, wird er rebellieren. Er weiß dann gar nicht mehr, was er überhaupt noch machen soll.

Natürlich muss man ihn auch loben, wenn er es richtig gemacht hat. Und Lob muss nicht immer über´s Essen gehen. Das einfachste Lob ist, ihn zu streicheln und zu sagen: „Ja, guter Hund, das hast du gut gemacht.“ Auf diese Weise müssen wir natürlich auch unser Unterbewusstsein loben. Wenn wir uns beispielsweise entschieden haben, eine Woche oder einen Monat keine Schokolade zu essen, darf es keine Ausnahme davon geben. Lieber erst mal etwas Kleines vornehmen, aber das Unterbewusstsein auf jeden Fall daran gewöhnen: Was auch immer ich mir vornehme, das tue ich auch. Das gilt auch für die spirituelle Praxis.

Besser ist es, sich am Anfang eher wenig vorzunehmen, es aber konsequent auszuführen. Wenn man es gemacht hat, darf man sich ruhig mal auf die Schulter klopfen, geistig oder körperlich. Manche Menschen haben Angst, es würde ihr Ego erhöhen, wenn sie zu sich selbst sagen: „Das hast du gut gemacht.“ Es erhöht das Ego nur, wenn man sich damit identifiziert. Man kann seinen Geist loben, indem man ihm sagt: „Danke, liebes Unterbewusstsein, das hast du gut gemacht, du hast jetzt eine Woche lang auf Schokolade verzichtet oder eine Woche lang täglich Asanas gemacht, ich bin zufrieden mit dir.“ Man muss ihn nicht unbedingt dadurch belohnen, dass man ins beste Restaurant oder ins Kino geht. Meistens reicht es aus, wenn man sich einen Moment Zeit nimmt, vielleicht in der Meditation, sich hinsetzt und sagt: „Ja, liebes Unterbewusstsein, ich bin zufrieden mit dir, das ist gut, was du gemacht hast.“ Manche Menschen erlegen sich zu viel auf, wollen zu schnell immer mehr vom Unterbewusstsein. Das ist nicht gut, irgendwann folgt darauf eine totale Gegenreaktion.

Das ist oft so bei spirituellen Aspiranten. Sie machen etwas und das geht gut. Also nehmen sie sich noch mehr vor. Das klappt auch. Sie nehmen sich noch mehr vor. Klappt auch. Noch mehr Asanas, noch mehr Pranayama, noch mehr Meditation, noch weniger Zeit für dieses, noch weniger Zeit für jenes … Und irgendwann rebelliert das Unterbewusstsein, so dass nichts mehr klappt. Und was macht man, wenn nichts mehr klappt? Man geht ins Café und isst Schokoladenkuchen. Jetzt hat das Unterbewusstsein die Lektion gelernt: Wenn ich alles tue, was mein Herr will, dann werde ich bestraft und muss mehr und mehr machen. Tue ich es dagegen nicht, werde ich belohnt. Also, die Lektion ist ganz klar. Es ist so einfach und weil es so einfach ist, denkt man in den wenigsten Fällen daran.

Wir nehmen uns also etwas vor, tun es eine Weile ganz konsequent und belohnen unser Unterbewusstsein dafür. Aber wir nehmen uns nicht zu viel vor. Wir nehmen uns kleine Dinge vor und schauen, wie es geht.

Ich empfehle oft Anfängern, sich zunächst vorzunehmen, jeden Tag drei Minuten zu meditieren. Wenn man Lust hat, kann man ja länger meditieren. Aber drei Minuten macht man auf jeden Fall jeden Tag. Das ist möglich und wenn man konsequent eine Woche lang jeden Tag drei Minuten meditiert hat, weil man es sich vorgenommen hat, stärkt das den Willen ungemein.

Wenn das Verlangen auf diese Weise allmählich kontrolliert wird, verschwindet es manchmal auch ganz. Den meisten Menschen geht es zum Beispiel so, wenn sie eine Weile lang kein Fleisch mehr gegessen haben. Man hat dann keine Lust mehr darauf, das Verlangen danach verschwindet. Auch wenn man radikal auf Süßigkeiten verzichtet, verschwindet der Wunsch danach. Er mag ab und zu vielleicht noch einmal hochkommen, dann verschwindet er ganz. Es ist nicht so, dass man gar keine Süßigkeiten mehr essen darf. Aber man kann sich beweisen, dass es geht und dass man Herr über den Wunsch ist.

Ich habe mal zwei Jahre lang nichts Süßes gegessen und ich muss sagen, ich hatte auch gar keinen Gedanken mehr daran. Der Anlass war, dass ein Candida-Hefepilz meine Darmflora durcheinandergebracht hatte. Diese Pilze können sich ausbreiten, wenn beispielsweise durch eine Antibiotika-Behandlung die natürliche Darmflora gestört wurde.

Ich konnte mich plötzlich nicht mehr konzentrieren, nicht mehr so gut meditieren, bekam regelmäßig Halsweh, ab und zu Kopfschmerzen, Juckerscheinungen und mein Heuschnupfen, der eigentlich weitgehend weg gewesen war, kehrte zurück. Zuerst wusste ich nicht, worauf diese Symptome zurückzuführen waren. Dann entdeckte ich etwas über diese Pilze in einem Buch und konnte mit der Therapie beginnen. Man muss sich so ernähren, dass einerseits die Candida-Hefepilze abgetötet werden und man gleichzeitig mehr Nährstoffe bekommt, denn wenn der Darm nicht richtig aufnehmen kann, braucht man etwas, um die Kräfte zu stärken.

Der radikalste Teil der Behandlung ist, nichts Süßes zu essen. Kein Honig, keine Feigen, keine Datteln, keine Rosinen, nicht einmal Obst. Das habe ich ein halbes Jahr vollkommen strikt durchgezogen und innerhalb kurzer Zeit war das Verlangen nach Süßigkeiten weg. Am Anfang bedurfte es schon einer Willensanstrengung, denn ich mochte diese Fruchtriegel schon, auch Datteln und solche Sachen. Nach drei Monaten waren alle Symptome verschwunden, nach einem halben Jahr habe ich wieder angefangen, Obst zu essen und danach habe ich auch noch lange auf jeglichen Industriezucker verzichtet.

Das interessante Phänomen dabei ist, dass das Verlangen nach einer Weile verschwindet. Das kannte ich schon von früher. Als ich nämlich vor rund 20 Jahren mit Yoga anfing, habe ich auch radikal aufgehört, Süßigkeiten zu essen und auch damals war das Verlangen weg. Auch nachdem ich ins Yogazentrum eingezogen bin, habe ich noch ein oder zwei Jahre jeglichen Schokoladenversuchungen widerstanden. Aber irgendwann habe ich dann doch mal ein Stückchen gegessen. Das Interessante ist, wenn man radikal dabei bleibt, verschwindet das Verlangen nach einer anfänglichen Rebellion. So kann man ab und zu mal prüfen: „Welche Verhaftungen habe ich und auf welche könnte ich verzichten? Welche Verlangen habe ich und welche könnte ich mir abgewöhnen?“ – Zum einen der Gesundheit zuliebe, aber auch, um sich zu beweisen, dass man Herr über seine Wünsche werden kann. Damit es funktioniert, sollte man sich kleine Dinge vornehmen, nicht übertreiben, konsequent sein und das Lob nicht vergessen. Wenn man sich daran hält, hat man eine ganz wichtige Raja-Yoga-Technik gelernt.

Im zweiten Kapitel kommt Patanjali auf dieses Thema nochmals an zwei Stellen zurück: Einmal bei der Behandlung von Tapas, Askese, und zum anderen, wenn er darüber spricht, dass wir das Verlangen nach sichtbaren und unsichtbaren Objekten durch Meisterung des Willens überwinden. Das spielt im Raja Yoga eine große Rolle.

17. Vitarka–vichârânandâsmitânugamât samprajñâtah    

vitarka = urteilen, argumentieren; vichâra = überlegen, nachdenken; ânanda = Glück, Freude; asmitâ = Ich–Sein; Gefühl der Individualität, Gefühl reinen Seins; anugamât = in Verbindung; samprajñâ = Samâdhi mit Prajñâ = Bewusstsein.

Samprajñâta Samâdhi (Samadhi mit Bewusstsein) wird von Denken, Unterscheidung, Wonne und dem Bewusstsein der Individualität begleitet.
Es gibt vier Stufen von Samprajñâta Samâdhi (Samâdhi mit Bewusstsein, „mit Samen“), nämlich Vitarka (urteilen, argumentieren), Vichârana (überlegen, nachdenken), Ânanda (Glück, Freude) und Asmitâ (Ich–Sein).

Das ist eine abstrakte Raja Yoga-Meditationstechnik in vier beziehungsweise sieben Stufen.

Große Meister führt diese Technik sofort zu Samâdhi, aber auch wir können sie ab und zu ausprobieren, selbst wenn wir keine großen Meister sind.

Es gibt verschiedene Interpretationen dieser Samadhi-Zustände (1. Savitarka, 2. Nirvitarka, 3. Savichara, 4. Nirvichara, 5. Sananda,6. Sasmita, 7. Asamprajñâta) und Meditationstechniken. Eine davon, die uns Swami Vishnu erklärt hat, ist:

Samkhya-Philosophie

Vedanta-Philosophie

Asamprajñâta =  reines Sein, ohne Dualität

Nirvikalpa Samâdhi
= ohne Dualität (Selbst&shyverwirklichung)

Sasmita = kosmisches Ego

Isvara = kosmisches Ich + Wonne

Sananda = mit Wonne

Isvara = kosmisches Ich + Wonne

Nirvichara = jenseits aller Veränderungen,
Kosmisches Gemüt als Ganzes

Hiranyagarbha = das kosmische Gemüt

Savichara = Identifikation mit dem kosmischen
Gemüt und seinen Veränderungen

Hiranyagarbha = das kosmische Gemüt

Nirvitarka = Identifikation mit dem physischen
Universum als organisches Ganzes

Viratswarupa = Das ganze Universum ist mein Körper

Savitarka = Identifikation mit dem physischen
Universum in Raum und Zeit

Viratswarupa = Das ganze Universum ist mein Körper

Die unteren sechs Stufen gelten als Samprajnata = mit Bewusstsein

Man wird sich zunächst des Körpers bewusst und des Bewusstseins hinter diesem Körper. Dann geht man dazu über, festzustellen, dass dieser physische Körper nicht im abstrakten Nichts lebt, sondern in ständigem Austausch mit seiner Umwelt. Luft strömt in die Lungen, wird ein Teil des Körpers. Wir atmen Kohlendioxid aus, das in unseren Zellen entsteht. Warum sollten wir uns mit dem Kohlendioxid nur so lange identifizieren können, solange es beispielsweise in unserem Fuß ist? Wir können versuchen, die Luft in uns und draußen zu spüren. Man kann tatsächlich nicht nur den physischen Körper wahrnehmen, sondern auch die Luft darum herum. Ebenso kann man das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Bäume oder des Baches nicht nur hören, sondern sein Bewusstsein darauf ausdehnen.

Die westliche Theorie der Wahrnehmung würde sagen, dass von einem Objekt Klangschwingungen ausgehen, die in die Luft gelangen, sich als Welle bis zum Ohr fortpflanzen und dort die Gehörknöchelchen in Bewegung setzen. Dies führt zu verschiedenen Impulsen, die im Gehirn als Klang interpretiert werden.

Die Samkhya-Theorie sagt, unser Bewusstsein geht zum Objekt hin; dadurch werden wir uns des Objektes bewusst. Auch Sheldrake sagt – ohne sich auf die Samkhya-Philosophie zu beziehen –, dass es bestimmte Phänomene der Wahrnehmung gibt, die wir eigentlich mit unserer normalen westlichen Sichtweise nicht erklären können, sondern damit, dass man sich zu dem Objekt hin ausdehnt. Ich fand es sehr interessant, dass Sheldrake von einer ganz anderen Warte aus zu einer ähnlichen Aussage kommt, nämlich dass es nicht oder nicht allein so ist, dass Klangschwingungen in unser Bewusstsein eindringen, sondern dass unser Bewusstsein mittels der betreffenden Sinneswahrnehmung nach außen geht und wir die Dinge wahrnehmen, weil unser Bewusstsein zu ihnen geht.

Und das können wir ganz gezielt machen: Wir gehen zu den Objekten, die wir sinnlich wahrnehmen: vielleicht die Erde, auf der wir sitzen, die Luft, die wir auf der Haut spüren (besonders wenn sie sehr warm oder kalt ist oder wenn es windig ist) und zu den Dingen, die wir hören. Man kann diese Meditation sogar mit offenen Augen in der Natur machen: sich hinsetzen, Dinge anschauen und versuchen, sie zu spüren, ihr Wesen zu erfassen, in sie hineinzugehen.

Schließlich geht Savitarka (Samadhi-Zustand 1) so weit, dass wir das ganze Universum spüren. Wir spüren, ich bin das ganze Universum und das Unendliche hinter dem Universum.

Der nächste Schritt, Nirvitarka (Samadhi-Zustand 2), ist schwer zu erklären. Nirvitarka ist Identifikation mit dem Universum jenseits von Raum und Zeit, das Erfassen des Prinzips des Körpers beziehungsweise des Universums an sich. Wir identifizieren uns mit dem Bewusstsein hinter der Gesamtheit des Universums.

In Savitarka versuchen wir zwar auch, das physische Universum als organisches Ganzes wahrzunehmen, aber wir nehmen auch seine Veränderungen wahr. Wir konzentrieren uns darauf, das Universum mit allen seinen Veränderungen als ein organisches Ganzes bewusst zu spüren. Bezogen auf den eigenen Körper könnte man sagen, in Savitarka nimmt man seinen eigenen Körper mit all seinen Veränderungen wahr, in Nirvitarka stellt man fest, der Körper ist doch ein Ganzes, jenseits aller Veränderungen.

Diese beiden bewusststeinszustände, Savitarka und Nirvitarka, lassen sich auch in der Vedanta-Philosophie ausdrücken. Die Identifikation mit dem physischen Universum als Ganzes ist Viratswarupa. „Das ganze Universum ist mein Körper“ – das ist die Erfahrung dieser Meditation, darin mündet sie.

Die gleiche Unterscheidung gibt es bei den nächsten beiden Stufen, Savichara (Samadhi-Zustand 3) und Nirvichara (Samadhi-Zustand 4). Savichara, mit Nachdenken, heißt, wir identifizieren uns mit dem Prinzip des Nachdenkens im Universum, also mit dem kosmischen Gemüt.

Nirvichara bedeutet, dass wir jenseits aller Bindungen gehen. Wir spüren das kosmische Gemüt an sich als eine allumfassende Wirklichkeit, die irgendwie eine Einheit bildet.

Der Erfahrung von Savichara und Nirvichara entspricht Hiranyagarbha in der Vedanta, der kosmische Geist („cosmic mind“, nicht das, was man englisch mit „spirit“ bezeichnen würde; die Unterscheidung im Deutschen ist schwierig, da es für beides nur ein Wort gibt, im Sinne von kosmisches Gemüt.

Wenn man den Körper wahrnimmt, nimmt man auch Emotionen und Gedanken wahr. Wir können das eigene Gemüt, das kosmische Gemüt oder die Psyche einschließlich Gedanken und Emotionen wahrnehmen und dabei feststellen, dass unsere Emotionen und Gefühle nicht unabhängig von anderen Emotionen und Gefühlen sind. Dann können wir versuchen, andere Wesen und Objekte zu erfühlen, nicht mehr ihren Körper, sondern ihre Gedanken und Emotionen. Dann gehen wir noch einen Schritt weiter und fühlen: „Ich bin das Bewusstsein hinter allen Gedanken und Gefühlen“. Hinter dem gesamten Universum gibt es nicht nur einen abstrakten Geist, sondern auch ein Gemüt auf der Gefühls- und Prana-Ebene. Dieses Gemüt versuchen wir als Ganzes zu fühlen. Das ist dann der Savichara-Zustand, die Identifikation mit dem kosmischen Gemüt. Wir dehnen unser Bewusstsein aus und fühlen das gesamte Gemüt hinter der Schöpfung. Wir fühlen die kosmischen Gedanken und Emotionen, die kosmische Energie in allen ihren Veränderungen. Wir können nicht jede einzelne Veränderung spüren, aber wir merken: Da ist Veränderung, da ist Rhythmus.

Die nächste Stufe, Sananda (mit Wonne) (Samadhi-Zustand 5), ist eigentlich die Konsequenz aus dem vorhergehenden. Hier gibt es nun kein entsprechendes Begriffspaar wie etwa „Nirwananda“, „ohne Wonne“, sondern es bleibt bei Sananda, mit Wonne. Wenn es uns gelingt, uns als das Gemüt hinter allem, was geschieht, zu fühlen, ist das mit Wonne  und Liebe verbunden. Ananda, Wonne, schließt immer Prema, Liebe, ein und umgekehrt ist Liebe immer auch Wonne. Manchmal fragt man sich bei der abstrakten Vedanta-Philosophie, wo die Liebe hinter dem Ganzen bleibt. Die Liebe ist in Ananda enthalten. Wenn wir uns auf der körperlichen, geistigen und emotionalen Ebene eins fühlen mit allen Wesen, dann entsteht ganz natürlicherweise eine umfassende Liebe und Wonne, ähnlich, wie auch Jesus gesagt hat: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Mein Selbst ist in mir wie auch im Nächsten.

Auf dieser Stufe der Meditation hört man auf, das ganze Wesen, das kosmische Gemüt, zu spüren. Stattdessen nimmt man einfach diese allumfassende Liebe und Wonne wahr.

Das führt zum nächsten Schritt, Sasmita (Samadhi-Zustand 6), der Identifikation mit dem kosmischen „Ich bin“.

Asmitâ (Ich-Sein) werden wir noch im Rahmen des zweiten Kapitels als individuelles Ego kennen lernen. Dort gilt es als Teil der Kleshas, der Ursachen des Leidens.

Aber hier ist Asmitâ nicht als individuelles Ego gemeint, sondern als kosmisches Ego, als das kosmische Gefühl „Ich bin“. Dieses kosmische „Ich bin“-Gefühl mündet schließlich in den letzten Teil, in Asamprajñâta (Samadhi-Zustand 7).

Die unteren sechs Stufen gelten als Samprajnata = mit Bewusstsein. Prajna heißt Erkenntnis, Samprajñâ = mit Erkenntnis. Dabei machen wir konkrete Erkenntnisse.

Asamprajnata heißt ohne Erkenntnisse, ohne Bewusstsein. Wir sind einfach: die Erfahrung reinen Seins. Dies schließt auch weiter Wonne ein, schließt auch weiter das kosmische Ich ein, das reine Selbst, Atman, transzendiert sie aber alle. Das ist der Nirodhah-Zustand oder, wie man im Jnana Yoga in der Vedanta-Philosophie sagen würde, der Zustand von Nirvikalpa Samadhi, die Selbstverwirklichung.

Selbst wenn wir noch keine spirituellen Meister sind, können wir diese Meditationstechnik üben und andeutungsweise ihre Stufen erfühlen, auch wenn sie nicht sofort zu echtem Asamprajnata Samadhi führt. Es ist uns vielleicht möglich, das Bewusstsein auszudehnen, zu merken: „Ich bin das Bewusstsein hinter dem physischen Universum, ich bin das Bewusstsein hinter dem kosmischen Gemüt.“ Vielleicht gelingt es uns nicht gleich auf der ganzen kosmischen Ebene, aber doch so, dass wir mindestens unsere Umgebung und deren Emotionen, Gedanken, Gefühle, Prana erfühlen können. Das können wir immer weiter ausdehnen, bis wir Sananda, die Liebe und Wonne dahinter spüren. Vielleicht gelingt es uns, Sasmita, das Bewusstsein, das „Ich bin“-Gefühl, zu erleben und einen Moment lang im reinen Sein zu verharren.

All diese Schritte sind zunächst nur das Bemühen um Konzentration, Dharana. Es kann uns gelingen, auf jeder Ebene voll zu verschmelzen in Dhyana (Kontemplation) und schließlich wird es wirklich Samadhi (überbewusster Zustand).

Es gibt also die vier Stufen von Samprajnata Samadhi: Vitarka, Vicharana, Ananda, Sasmita, die später noch weiter unterteilt werden in Savitarka und Nirvitarka sowie Savichara und Nirvichara.

Statt sie nun auf dieser kosmischen Ebene zu betrachten, kann man diese Stufen auch als konkrete Meditationsthemen auffassen:

· Vitarka in diesem Sinne ist Meditation über Gegenstände, die wir aus dem physischen Universum kennen, zum Beispiel eine Kerzenflamme, das Meer, einen Klang, also Elemente in Raum und Zeit.

· Vichara ist Meditation über Elemente außerhalb des physischen Universums. Dazu gehören beispielsweise Mantras oder Chakras oder Götter. Shiva zum Beispiel ist eine Gestalt, die es nicht auf der physischen, sondern nur auf der astralen und gedanklichen Ebene gibt.

· Sananda und Sasmita sind dann noch subtiler. Meditationsgegenstand auf der Sananda-Ebene ist Liebe, reine Liebe zu Gott, und Sasmita bedeutet, ganz in das umfassende Gefühl des „Ich bin“ hineinzugehen.

Wir können die Einteilung auch nach Koshas, den Körperhüllen, vornehmen:

  • Die Vitarka-Meditation dreht sich um die Annamaya Kosha (Nahrungshülle) und spielt sich auf der Ebene des Physischen ab.
  • In der Vichara-Meditation sind es Objekte in der Pranamaya Kosha (vitale Hülle, Lebensenergie), Manomaya Kosha (Geisthülle) und Vijnanamaya Kosha (Intellektuelle Hülle). Dazu gehören beispielsweise die Eigenschaftsmeditation, die Energiemeditation oder auch Reflexion, Nachdenken.
  • In Sananda und Sasmita befindet sich die Meditation auf der Anandamaya Kosha-Ebene (Wonnehülle) und ist sehr abstrakt. Dann sind wir in diesem transzendentalen Gefühl von Wonne und reinem Sein. Trotzdem verbleibt dort immer noch ein Rest von „Ich bin“: Ich fühle Wonne, ich fühle Liebe.“ Das heißt, es besteht noch Dualität, Getrenntheit, Zweiheit. Deshalb gehört es noch zu Samprajnata.

Asamprajñâta Samadhi tritt ein, wenn alle geistigen Aktivitäten aufhören. Es gibt kein Gefühl mehr von “Ich“, „Du“ oder „Ich erfahre“. Es bleibt nur reines Sein.

Dies beschreibt Patanjali im 18. Vers.

18. Virâma–pratyayâbhyâsa–pûrvah samskâra–shesh–o`nyah    

virâma = aufhören, fallen lassen; pratyaya = Inhalt des Verstandes (der „Keim“ von Samprajñâta Samâdhi); abhyâsa = Übung; pûrvah = vorausgegangen; samskâra = Eindrücke; sheshah = geblieben; anyah = das andere

Asamprajnata Samadhi ist erreicht, wenn alle geistigen Aktivitäten aufhören und nur unmanifestierte Eindrücke im Geist verbleiben.

Asamprajnata Samadhi ist die Selbstverwirklichung. Es gibt keinen Gedanken mehr.

Wenn wir das wieder auf die sieben Bhumikas beziehen (1. Subheccha – Gleichgültigkeit gegenüber Sinnesobjekten, 2. Vicharana – Fragestellen, 3. Tanumanasi – Gleichgültigkeit gegenüber Objekten,  4. Sattwapati – wunschlos, 5. Asamshakti – Nichtverhaftung an die Dinge der Welt, 6. Padartha Bhavana – Erkenntnis der Wahrheit, 7. Turiya – Überbewusstheit), dann ist der verwirklichte Asamshakti („durch nichts berührt“), er ist ein Jivanmukta (ein lebendig Befreiter). In Asamshakti erreicht der Mensch Asamprajnata Samadhi. Im Padarthabhavana-Zustand („sieht Brahman überall“) handelt er fast nicht mehr und in Turiya (endgültige Befreiung) hört er ganz damit auf.

19. Bhava–pratyayo videha–prakrtilayânâm    

bhava = Geburt; pratyayah = verursacht; videha = die „Körperlosen“; prakrtilayânâm = von den „in Prakriti Verschmolzenen“

Asamprajnata Samadhi durch Geburt kann von denen erreicht werden, die früher Körperlosigkeit oder Verschmelzung mit Prakriti (Natur, Schöpfung) erlangt haben.

Es gibt Menschen, die praktisch mit einem solchen Bewusstsein geboren werden und relativ schnell in diesem Leben ohne größere Anstrengung die Verwirklichung erreichen. Und zwar deshalb, weil sie früher schon sogenannte Körperlosigkeit oder Verschmelzung mit Prakriti erreicht hatten.

Wenn sich ein Mensch auf der vierten Stufe des Wissens befindet, auf Sattwapatti (Reinheit des Geistes), ist er in Samprajnata Samadhi (Selbstverwirklichung mit Bewusstsein). Von dort gelangt er weiter zu Asamshakti („durch nichts berührt“) und erreicht als Jivanmukta (lebendig Befreiter) die Selbstverwirklichung. Oder es besteht die Möglichkeit, nach dem Tod in Videhamukti einzugehen, in den befreiten, körperlosen Zustand. Dann erfährt man die letzten Stufen des Bewusstseins nach dem Tode.

Nun gibt es auch noch eine andere Möglichkeit. Wenn man diese Stufe von Sasmita Samadhi erreicht hat, wo man sich als das Ich hinter dem ganzen Universum identifiziert, kann man sich mit der gesamten Prakriti (Schöpfung) identifizieren, anstatt direkt weiter zu Purusha, zum eigentlichen Selbst, zu gehen. Man fühlt sich als das Bewusstsein hinter dem ganzen Universum und gleichzeitig als das ganze Universum an sich. Dann erreicht man die Selbstverwirklichung in dem Moment, wo das ganze Universum aufhört zu bestehen, am Ende des Schöpfungszyklus. Bis dahin fühlt man sich eins mit dem Universum und hört erst dann auf zu existieren, wenn das Universum aufhört zu bestehen. Es kann aber auch sein, dass man sich eine Weile mit dem ganzen Universum identifiziert, dann aber erkennt, dass man doch lieber die Verwirklichung erreichen will. In diesem Fall nimmt man nochmals einen Körper an, weil das schneller geht als zu warten, bis das Universum aufhört.

Das heißt also, wenn wir in einem früheren Leben schon sehr weit gekommen sind, kann es sein, dass wir die Verwirklichung schrittweise nach dem Tod erreichen, was allerdings sehr lange dauert. Eine andere Möglichkeit ist, dass wir diese höheren Stufen von Körperlosigkeit, Videha oder Prakriti layana, die Verschmelzung mit Prakriti, erreicht haben und uns entscheiden, nochmals auf diese Welt zurückzukehren. Dann erreichen wir die Befreiung relativ zügig.

Der Weise Ramana Maharshi zum Beispiel kam sehr schnell in diesen Zustand. Er war um die sechzehn, als er plötzlich das Gefühl hatte zu sterben. Seine Beine, Arme und Hände wurden gefühllos, sein Atem hörte auf, das Herz stand still. Und trotzdem merkte er, dass er immer noch lebte. Zwar war sein Körper tot, er spürte ihn nicht mehr, aber es waren immer noch Gedanken da. Er dachte: „Wenn ich schon sterbe, dann sterbe ich auch richtig und höre auf zu denken.“

Er brachte die Gedanken zum Stillstand und hatte sofort die Erfahrung von Samadhi. Nach diesem Erlebnis kam er doch wieder ins Leben zurück. Anschließend lief er von zu Hause weg und begab sich in eine Höhle. In der Höhle haben die Ratten ihn angefressen, bis er von jemandem gefunden wurde, der ihn gepflegt hat. Er war sich all dessen nicht bewusst. Schließlich entstand um ihn herum ein Ashram. Manchmal sprach er ein paar Worte, aber nur sehr wenige. Die meisten Schüler, die zu ihm kamen und Fragen hatten, setzten sich einfach zu ihm und ihre Fragen erledigten sich von selbst. Aber Ramana Maharshi hat kein systematisches gründliches Sadhana (spirituelle Praxis) gemacht, um seine Natur zu transformieren, sondern es kam bei ihm ganz spontan und natürlich.

Er war ein mittelmäßiger Schüler, der seine Studien nicht gerade ernst nahm. Aber er war ein gesunder und kräftiger Junge. Seine Schulkameraden und andere Gefährten hatten Angst vor seiner Stärke. Wenn manche von ihnen Streitigkeiten mit ihm hatten, trauten sie sich nur dann, ihm einen Streich zu spielen, wenn er schlief. Was das betraf, war er eher ungewöhnlich: Er wusste von nichts, was mit ihm während des Schlafes geschah. Man trug ihn fort oder schlug ihn sogar, ohne dass er dabei aufwachte.

Den Menschen, die zu ihm kamen, half Ramana Maharshi nicht nur durch sein persönliches Beispiel und durch seine Unterweisungen, sondern schon allein durch sein Schweigen. Er sagte dazu: „Ein Verwirklichter sendet Wellen spiritueller Kraft aus, die viele Menschen anziehen. Er mag dabei in einer Höhle sitzen und schweigen. Wir können uns lange Vorträge über die Wahrheit anhören und doch kaum etwas begreifen; doch wenn wir in Verbindung mit einem Verwirklichten kommen, werden wir sofort begreifen, obgleich er nichts sagt.“ Selbst diejenigen, die seinem Weg nicht folgten, beeindruckte er durch seine innere Stille, seine Einfachheit und Bescheidenheit. Manchmal stellte einer von ihnen Fragen, und manchmal antwortete er ihnen. Es war eine großartige Erfahrung, vor ihm zu sitzen und in seine strahlenden Augen zu schauen. Viele spürten, wie die Zeit zum Stillstand kam und erfuhren eine Stille und einen Frieden jenseits jeder Beschreibung.

Der Engländer F. H. Humphrys beschrieb Ramana Maharshi 1911 in einem Artikel in der Zeitung International Psychic Gazette wie folgt: „Nachdem wir die Höhle erreicht hatten, saßen wir vor ihm, zu seinen Füßen, und sagten nichts. Wir saßen so eine lange Zeit, und ich fühlte mich aus meinem Körper herausgehoben. Eine halbe Stunde lang sah ich in die Augen des Maharshis, welche nie ihren Ausdruck von tiefer Kontemplation veränderten…. Der Maharshi ist ein Mensch jenseits von Beschreibung in seinem Ausdruck von Würde, Güte, Selbstkontrolle und ruhiger Überzeugungsstärke.“ Weiter schrieb er : „Du kannst dir nichts Schöneres vorstellen als sein Lächeln.“ Und wieder: „Es ist seltsam, was es für eine Veränderung in einem bewirkt, wenn man in seiner Gegenwart war!“

Im Jahre 1947 begann seine Gesundheit nachzulassen. Er war noch keine siebzig, doch er sah viel älter aus. Gegen Ende des Jahres 1948 zeigte sich ein kleiner Knoten unter dem Ellenbogen seines linken Armes. Als er wuchs, schnitt ihn der Arzt, der für die Ashram-Apotheke zuständig war, heraus. Aber innerhalb eines Monats kehrte der Knoten zurück. Es wurden Chirurgen aus Madras geholt, und sie operierten. Die Wunde heilte nicht, und der Tumor kam wieder. Bei weiteren Untersuchungen wurde diagnostiziert, dass es sich um ein Sarkom handelte. Die Ärzte empfahlen, den Arm über dem betroffenen Teil zu amputieren.

Ramana erwiderte mit einem Lächeln: „Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Der Körper selbst ist eine Krankheit. Soll er sein natürliches Ende haben. Warum ihn verstümmeln? Einfaches Verbinden der betroffenen Stelle reicht aus.“ Zwei weitere Operationen mussten durchgeführt werden, aber der Tumor kehrte zurück. Man versuchte es mit einheimischen Medizinsystemen und auch mit Homöopathie. Die Krankheit fügte sich nicht der Behandlung.

Der Weise war ganz uninteressiert, und völlig gleichgültig gegenüber dem Leiden. Er war wie ein Zuschauer, der beobachtet, wie die Krankheit den Körper verzehrt. Aber seine Augen leuchteten so hell wie immer, und seine Gnade floß allen Wesen zu. Die Menschen kamen in großer Anzahl. Ramana bestand darauf, dass ihnen erlaubt wird, seinen Darsana (Anblick des Guru, der nach Ansicht der Hindus Glück bringt) zu haben. Devotees (Verehrer) wünschten sich von ganzem Herzen, dass er seinen Körper durch Anwendung von übernatürlichen Kräften heilen würde. Ramana hatte Mitleid mit denen, die über sein Leiden trauerten, und er versuchte sie zu trösten, indem er sie an die Wahrheit erinnerte, dass Bhagavan nicht der Körper ist.

Das Ende kam am 14. April 1950. An diesem Abend gab der Weise den Devotees, die kamen, Darsana. Alle, die im Ashram waren, wussten, dass das Ende nahte. Sie saßen und sangen Ramanas Hymne an Arunachala mit dem Refrain Arunachala-Siva. Der Weise bat seine Betreuer, ihn hinzusetzen. Er öffnete seine leuchtenden und gnädigen Augen für einen kurzen Moment, ein Lächeln, eine Träne der Seligkeit tropfte aus seinen äußeren Augenwinkeln, und um 8.47 Uhr hörte er auf zu atmen. Es gab keinen Kampf, keinen Anfall, keines der Todeszeichen.

So auch bei Anandamayi Ma, von der es heißt, sie sei schon als Selbstverwirklichte auf die Welt gekommen. Sie musste sich nur noch ein bisschen weiterentwickeln und ihr Karma abarbeiten.

20. Shraddhâ–vîrya–smriti–samâdhi–prajnâpûrvaka itareshâm    

shraddhâ = Glaube; vîrya = fester Wille oder Energie; smriti =Gedächtnis; samâdhi–prajñâ = „hohes Wissen“, scharfer Intellekt, wesentlich für Samadhi; pûrvaka = dem vorangeht; itaresâm = für andere

Andere erlangen Asamprajnata Samadhi durch Glauben, Energie, Erinnerung und klares Bewusstsein.

Um zu Asamprajnata Samadhi zu kommen sind also vier Dinge nötig.

Das erste ist Glaube. Wir müssen Vertrauen haben. Zwar brauchen wir zu Anfang des Weges eine gesunde Skepsis, aber immerzu an allem zu zweifeln führt uns auch nicht weiter. Wir müssen prüfen: Macht das Ganze Sinn? Beruht es auf alten Schriften? Dann müssen wir uns bis zu einem gewissen Grad darauf einlassen, glauben oder auch um Glauben bitten. Anschließend machen wir dann eigene Erfahrungen.

Als zweites müssen wir natürlich Energie hineinstecken. Von nichts kommt nichts, wie es so schön heißt. Alles, was wir an Energie in unsere spirituelle Praxis investieren, bekommen wir vielfach zurück. Es ist also ein „Engelskreis“ – im Unterschied zum „Teufelskreis“. Wir strengen uns beispielsweise an, unser Leben sattwig zu gestalten. Dabei stoßen wir auf Widerstände unterschiedlicher Art: innere Widerstände, eigenes Tamas (Trägheit), das eigene Unterbewusstsein und äußere Widerstände. Man hat wenig Zeit, andere Menschen erwarten etwas anderes. Aber wir tun es trotzdem. Und weil wir es machen, bekommen wir mehr Energie. Und weil wir mehr Energie haben, können wir noch mehr Energie hineinstecken, usw.

Und wir müssen uns immer wieder daran erinnern, wozu wir das alles machen. Es geht so schnell, zu vergessen, was eigentlich unser Ziel im Leben ist. Man vergißt es im Laufe des Tages, wenn man seine Arbeiten erledigt, wenn man sich mit Menschen auseinandersetzt, wenn man schläft. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, unser Sadhana (spirituelle Praxis) regelmäßig zu machen und auch daran, wozu wir das Ganze tun. Wir müssen uns daran erinnern, das Mantra auch zwischendurch zu wiederholen. Wir müssen uns erinnern, uns an Gott zu erinnern.

Und natürlich brauchen wir klares Bewusstsein. Wir müssen bewusst durch die Welt gehen, die Gegenwart bewusst erfahren.

Wir brauchen Glauben, müssen Energie hineinstecken, uns erinnern und bewusst durch die Welt gehen. Wenn wir bewusst leben, bewusst Asanas und Pranayama machen, bewusst mit Menschen sprechen, bewusst die Lektionen des täglichen Lebens lernen, können wir sehr schnelle Fortschritte machen.

Man kann diesen Vers auch auf die vier Hauptwege des Yoga beziehen:

  • Glauben ist Bhakti Yoga.
  • Energie ist Karma Yoga, denn wir müssen ins tägliche Leben Energie hineinstecken.
  • Erinnerung gehört zum Raja Yoga, denn im Raja Yoga sind diese Techniken erläutert, an die wir uns immer wieder erinnern müssen.
  • Klares Bewusstsein brauchen wir im Jnana Yoga, wo wir versuchen, bewusst durchs Leben zu gehen, unsere Viveka, die Unterscheidungskraft, und Intuition zu schulen.

21. Tîvra–samvegânâm âsannah    

Tîvra–samvegânâm = von jenen, deren Wunsch von intensiver Stärke ist; âsannah = „nahe sitzend“, nahe

Es (Samadhi, die Befreiung) wird schnell erreicht, wenn der Wunsch danach intensiv ist.

22. Mridu–madhyâdhimâtratvât tato’pi visheshah    

Mridu = mild, sanft; madhya = mittelmäßig; adhimâtratvât = intensiv, mächtig; tatah = von ihm, nach dem; api = auch, sogar; visheshah = Abstufung, Unterscheidung

Der Wunsch nach Befreiung kann mäßig, mittelmäßig oder intensiv sein.

Wir sollten zwar allen Wünschen entsagen, aber es gibt einen, den wir verstärken sollten und das ist der Wunsch nach Befreiung. Viele Menschen wollen die Befreiung, aber gleichzeitig auch noch so viele andere Dinge. Man kann sich einmal grundsätzlich überlegen: Was will ich im Leben noch erreichen und worauf wäre ich bereit zu verzichten – wirklich zu verzichten? Der Grad der Priorität des Wunsches nach Befreiung bestimmt, wie schnell es mit der Verwirklichung geht. Nur wenn der Wunsch nach Befreiung mindestens 50 % unseres Strebens ausmacht, wird die Befreiung schnell kommen. Ist der Wunsch nach Befreiung niedriger als 50 %, ist er uns weniger wichtig als all die anderen Sachen. Ist er uns hingegen wichtiger als alle anderen Dinge, dann ist der Weg zur Befreiung da. Denn wenn er mehr als 50 % unseres gesamten Strebens ausmacht, dann fließt dieser Wunsch in alle unsere Entscheidungen, in unser tägliches Leben, unser ständiges Denken und Fühlen ein.

Den Wunsch nach Befreiung kann man auch kultivieren.

Eine Möglichkeit dafür ist das Zusammensein mit anderen auf dem Weg (Satsang), vorzugsweise mit selbstverwirklichten Meistern. In der Gegenwart von selbstverwirklichten Meistern entsteht der Wunsch: So möchte ich auch sein. Es gibt auch den sogenannten negativen Satsang, wobei negativ hier nicht im Sinne von schlecht zu verstehen ist, sondern in Abwesenheit von Meistern. Das heißt, Bücher von oder über selbstverwirklichte Meister zu lesen oder ein Video anzuschauen, wie zum Beispiel das von Ramana Maharshi oder Anandamayi Ma oder auch das englische Video von Swami Sivananda, „The Man and his Vision“. Das inspiriert und erhebt. Wenn man nicht physisch mit einem Meister zusammen sein kann, dann kann man es über Bücher, Videos oder Kassetten tun. Satsang ist sehr wichtig, eine Quelle der Inspiration. Auch hierher in den Ashram zu kommen und hier zu üben, hilft, den Wunsch nach Befreiung zu erhöhen.

Eine zweite Weise, den Wunsch nach Befreiung zu verstärken ist, Unterscheidung zu üben, das Leben zu studieren. „Look into the defects of material life“ („Studiere die Unzulänglichkeiten des äußerlichen Lebens“, wie Swami Sivananda sagt. Das ist zwar ein unpopulärer Aspekt des Yoga. Lieber ist uns die Betrachtungsweise, dass Yoga das Leben befriedigend macht, unserem Leben Erfüllung gibt. Viveka (Unterscheidungskraft) üben heißt letztlich, zu erkennen, dass das Leben mit dem Tod endet. Was ist wirklich sinnvoll vor dem Hintergrund, dass die äußere Welt mit dem Tod aufhört? Alles, was wir auf der physischen Ebene aufbauen, werden wir irgendwann verlieren. Die Manu Smriti – eine alte Schrift von einem Meister namens Manu – sagt: Es gibt drei Dinge:

1. Die materiellen Dinge, ohne die der Mensch kommt, die er im Leben anhäuft und ohne die er wieder geht. Wir kommen nackt und wir gehen nackt. Wir nehmen nichts mit. Noch nicht mal einen Pfennig oder Aktien und auch kein Gold, das angeblich krisensicher sein soll, auch wenn es in den letzten 20 Jahre beständig an Wert verloren hat. Nichts an materiellen Werten ist sicher. Aber es ist ganz sicher, dass wir auf der materiellen Ebene alles verlieren werden. Vieles verliert man sogar noch im Leben. Viele Menschen, die Geschäfte aufgebaut haben, sind gescheitert. Häuser, die Menschen sich gebaut haben, sind eingestürzt. In Kriegsgebieten oder bei Naturkatastrophen verlieren die Menschen alles. Wer sagt, dass uns das nicht auch so gehen kann? Wir denken immer, uns passiert das nicht. Es kann aber schnell passieren und sei es nur durch eine Wirtschaftskrise, wie unlängst in Ostasien. In der Volkswirtschaftslehre ist es sehr wohl bekannt, dass unsere Wirtschaft innerhalb von zwei Jahren zusammenbrechen kann, wenn ungünstige Umstände zusammenkommen. Deshalb sollten wir uns überlegen, ob es sich wirklich lohnt, auf dieser Ebene so viel Energie, Zeit, Gedanken und Gefühle zu investieren.

2. Dann gibt es etwas, mit dem kommen wir, das verändert sich im Laufe des Lebens und wenn wir gehen, nehmen wir es anders mit. Das ist unser Charakter und unser Karma. Wir kommen mit einem bestimmten Charakter und unserem Karma auf die Welt. Schon Babies haben ihre eigene Persönlichkeit. Bei der gleichen Mutter und dem gleichen Vater, in gleichen Lebensumständen sind Kleinkinder deutlich unterschiedlich. Und hoffentlich entwickeln wir unseren Charakter auf positive Weise.

Wenn wir schon die Selbstverwirklichung nicht erreichen, sind wir mindestens am Ende unseres Lebens eine positivere, liebevollere, willensstärkere Persönlichkeit. Und hoffentlich haben wir viel Gutes getan, wenn es uns schon nicht gelungen ist, das ganze Leben nur Nishkama Karma Yoga auszuführen, also vollkommen wunsch- und verhaftungslos zu handeln. Und wir haben hoffentlich wenigstens etwas getan, um positives Karma zu erzeugen. Das Ziel des Yogis ist es natürlich, gar kein Karma zu erzeugen, auch kein positives. Aber wenn wir schon Karma erzeugen, weil es uns nicht gelingt, unser Ego ganz zurückzunehmen, dann wollen wir wenigstens gutes Karma erzeugen. Swami Vishnu hat manchmal im Scherz gesagt: „Die beste Investition sind Spenden und gute Werke, denn das bekommt man ganz sicher wieder zurück, sogar mit Zinsen. Was wir in den Aktienmarkt investieren, verlieren wir ganz sicher, totsicher, nämlich spätestens mit dem Tod.“

3. Wir kommen mit etwas, das sich nicht verändert und wir gehen auch damit. Das ist unser Selbst. Das Selbst, mit dem wir kommen und gehen ist ewig, ohne Anfang und Ende, unberührt und unveränderlich.

Das sollten wir uns öfter vor Augen führen, vor allem dann, wenn wir wieder im Begriff sind zu glauben, dass wir irgendetwas unbedingt brauchen. Wir sollten uns fragen: „Macht mich das wirklich glücklich?“ Und schrittweise werden wir erkennen: „So glücklich macht es mich gar nicht.“ Vielleicht tun wir es trotzdem, weil unser Unterbewusstsein nicht ausreichend davon überzeugt ist. Manche Wünsche muss man einfach erfüllen. Aber nachher, wenn man es erreicht hat und feststellt, dass es einen wirklich nicht glücklich gemacht hat, kann man seinem Geist sagen: „Siehst du, ich hab’s dir ja gesagt“. Vor allen Dingen verlieren wir so die Besessenheit, mit der Menschen ihren Ideen folgen. Viele brauchen unbedingt dies oder jenes, um glücklich zu sein. Aber in Wirklichkeit braucht man keine konkreten äußeren Objekte. Natürlich ist es gut, ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen zu haben, zu wissen, man ist auch am nächsten Tag noch seines Lebens sicher. Aber über diese existentiellen Grundbedürfnisse hinaus ist alles andere nicht so wichtig.

Durch solche Reflexion gewinnt man eine große innere Sicherheit. Und als nächstes führt sie einen zu der Überlegung: „Wonach lohnt es sich wirklich zu streben? Was macht mich wirklich glücklich?“ – Und das ist nur der Wunsch nach Befreiung, nach Selbstverwirklichung, Gottesverwirklichung, Erfahrung der Liebe Gottes, wie auch immer wir es ausdrücken wollen. Das ist es, was glücklich macht. Indem wir also Viveka, Unterscheidungskraft, entwickeln und gleichzeitig auch Vairagya, Wunschlosigkeit, können wir den Wunsch nach Befreiung kultivieren.

Und wir können ihn erhöhen, indem wir darum beten: „Oh Gott, ich habe so viele Wünsche. Bitte erhöhe in mir den Wunsch nach Befreiung“.

Als vierter Weg gilt Karma Yoga. Es heißt, wenn wir gutes Karma, gute Handlungen ausführen, ohne etwas zu erwarten, dann ist das Resultat ein gesteigerter Wunsch nach Befreiung. Wenn wir jemandem etwas Gutes tun mit der Vorstellung, dafür belohnt zu werden, erhalten wir tatsächlich irgendwann irgendeine Art von Belohnung. Aber darüber hinaus hat es keinen größeren Nutzen. Wenn wir dagegen jemandem helfen, weil es einfach nötig war, weil es die Situation erforderte und wir gerade da waren, also im Sinn einer wirklichen Karma-Yoga-Handlung, dann manifestiert sich das in einem gesteigerten Wunsch nach Befreiung.

Dasselbe gilt für Bhakti-Yoga-Aufgaben. Wenn wir Pujas (Verehrungsrituale) ausführen, Mantras singen, innere Hingabe und Demut üben, zieht das die Gnade Gottes an, die sich dann als gestärkter Wunsch nach Befreiung äußert.

23. Îshwara–pranidhânâd vâ    

Îshwara = Gott; pranidhânât = durch fromme Hingabe, Selbstaufgabe, Ergebung; vâ = oder

Erfolg wird von denen schnell erlangt, die Ishwara (Gott) hingegeben sind.

Hier erscheint erstmals das Konzept von Ishwara, Gott. Patanjali erläutert nicht weiter, wer oder was Gott ist. Denn das Raja-Yoga-System beruht auf der Samkhya-Philosophie, einem der sechs klassischen Philosophiesysteme. Samkhya ist eigentlich ein atheistisches System; es wird zwar nicht gesagt, dass es keinen Gott gibt, aber das Thema wird auch nicht erwähnt.

Patanjali als Praktiker hat nun aber beobachtet, dass Menschen, die einen starken Glauben an Gott haben, Gott verehren und Gott hingegeben sind, die Selbstverwirklichung sehr schnell erreichen. Hingabe zu Gott ist eine der schnellsten Weisen zur Selbstverwirklichung. Und er hat auch festgestellt, dass längst nicht alle Menschen, die Gott verehren, zur Befreiung kommen, sondern dass es einer bestimmten Einstellung dazu bedarf. Es gab immer schon auch in Indien Menschen, deren Glauben eher fanatisch oder nur rein äußerlich war. Allerdings wurden Religionszwistigkeiten in der Regel über Diskussionen ausgetragen. Bis zum Einfall der Moslems waren Religionskriege in Indien relativ unbekannt. Aber fanatischer oder nicht-verinnerlichter Glaube führt eben nicht zur Befreiung.

Deshalb hat Patanjali beobachtet und definiert, wie die Gottesverehrung beschaffen sein muss, bei der man die Befreiung erreicht:

24. Klesha-karma-vipâsakâshayair aparâmrishtah purusha-vishesha Îshwarah    

klesha = Leid, Elend, Ursache des Elendes; karma = Taten, Handlungen; vipâka = Vollendung, Erfüllung; âshayaih = Samenkeime, in denen Wünsche schlummern; aparâmristah = unberührt; purusha = Seele, eine individuelle Einheit oder ein Zentrum göttlichen Bewusstseins; vishesha = besonders; Ishwarah = Gottheit

Ishwara ist das besondere Zentrum göttlichen Bewusstseins, das unberührt ist von Leid, Karma oder Wünschen.

Die Vorstellung, Gott könne leiden, ist irrig und führt nicht zur Befreiung.

Die Christen stellen sich Jesus als Leidenden vor. Die Passionsgeschichte ist ein zentraler Aspekt der christlichen Lehre. Aber Jesus war eben eine Manifestation Gottes, er war nicht Gott selbst. Es hat also nicht Gott selbst gelitten, sondern Jesus als seine Manifestation. Aber schließlich hat Jesus auch triumphiert und leidet jetzt nicht mehr.

Die Vorstellung, dass Gott leidet oder es uns übel nimmt, wenn wir ihn nicht verehren, führt uns nicht zur Befreiung. Gott braucht keine Verehrung und auch keine Opfergaben. Gott will nicht, dass alle Menschen Christen oder Moslems oder Hindus werden. Gott erwartet auch nicht von uns, dass wir dieses oder jenes tun und wenn wir es nicht tun, ist er uns nicht böse. Natürlich gibt es das Gesetz des Karmas. Aber es ist nicht so, dass Gott Wünsche oder Vorlieben hätte. Gott ist frei von Leiden, frei von Karma und frei von Wünschen. Gott bevorzugt weder Hindus noch Moslems noch Christen. Gott hat kein Interesse daran, ob mehr Menschen Yoga praktizieren oder nicht.

Es heißt zwar, dass Gott uns sucht und wenn wir einen Schritt zu Gott hin machen, er hundert Schritte auf uns zugeht. Aber das ist nicht ein Wunsch, den er hat, sondern es liegt in der Natur Gottes, in seiner allumfassenden, bedingungslosen Liebe.

Mehr Worte verliert Patanjali eigentlich nicht darüber, was Ishwara ist. Ob er weiblich oder männlich, persönlich oder unpersönlich, Schöpfer der Welt ist oder nicht, bleibt dahingestellt. Wir können ihn uns auf verschiedene Weisen vorstellen.

Patanjali gibt noch drei weitere Aphorismen über Ishwara:

25. Tatra niratishayam Sarvajna–bîjam    

tatra = in Ihm; niratishayam = das Höchste, Unübertroffene; sarvajna = der Allwissende; bîjam = der Same, das Prinzip

In ihm liegt der Same der Allwissenheit.

Wir können alles Wissen erfahren, wenn wir uns auf Ishwara beziehen. Wir können entweder zum höchsten Wissen kommen, indem wir meditieren und in uns selbst hineingehen, denn in uns selbst ist alles Wissen. Oder wir können zu Gott beten. Wenn wir zu Gott beten, wird er uns führen und uns alles Wissen bringen.

26. Sa pûrveshâm api guruh kâlenânavacchedât    

sa = Er; pûrveshâm = von den Alten, von den Vorherigen; guruh = Lehrer; kâlena = durch die Zeit; anavacchedât = da er nicht begrenzt oder bedingt ist

Unbegrenzt durch Zeit ist Er, von den ältesten Zeiten her, der Lehrer aller Lehrer.

Ishwara selbst ist der ursprüngliche Guru (Lehrer). Unsere Guru Parampara (Schüler-Lehrer-Tradition) beginnt bei Narayana. Narayana ist Vishnu, also eine Manifestation von Ishwara. Die Hatha Yoga Guru Parampara fängt bei Shiva an. Alle Guru Paramparas in Indien fangen letztendlich mit Gott an, indem ursprünglich ein Lehrer die Weisheit direkt von Gott empfangen hat. So ist Gott der Lehrer aller Lehrer.

Unabhängig davon können wir direkten Zugang zu Gott und göttliche Führung erhalten, indem wir zu Gott beten.

Wenn wir vor wichtigen Entscheidungen stehen, haben wir drei Möglichkeiten:

Wir können uns zum einen an unser Unterbewusstsein richten. Das Unterbewusstsein verfügt über bestimmte Erfahrungen und ein gewisses Wissen.

Noch besser wäre es, sich an das höhere Selbst zu wenden, aber oft ist beides schwierig, wenn wir etwas verzweifelt sind.

Den meisten fällt es dann leichter, sich an Ishwara, an Gott, zu erinnern oder auch an den Guru. Und wenn wir tief genug von Herzen beten, bekommen wir unweigerlich, in jeder Situation, überall, Führung. Sei es in Form einer inneren Gewissheit oder sogar als Vision.

27. Tasya vâchakah pranavah    

tasya = Sein; vâchakah = Bezeichner, Anzeiger; pranavah = OM, ausgesprochen als AUM

Er manifestiert sich in dem Wort Om.

Eine weitere Weise, zu Gott zu kommen, ist die Mantrawiederholung. Patanjali nennt hier besonders Om als grundlegendes Mantra.

28. Tajjapas tad–artha–bhâvanam    

Tat-japa = seine ständige Wiederholung; tat-artha = seine Bedeutung; bhâvanam = mit Gefühl, Hingabe, Versenkung

Ständige Wiederholung von OM und Meditation über seine Bedeutung (führt zu Ishwara bzw. Samadhi).

Wenn wir Om wiederholen, über OM meditieren, führt uns das zu Gott und zu Samadhi.

Das ist die dritte Meditationstechnik, die Patanjali anbietet.

Die erste war die siebenstufige abstrakte Meditation, die für sehr fortgeschrittene Schüler hilfreich ist und auch für weniger fortgeschrittene ab und zu. Als ausschließliche Meditationstechnik ist sie aber für die Mehrheit nicht geeignet, weil sie zu abstrakt ist.

Eine zweite Möglichkeit ist, einfach Gott zu verehren, abstrakt an Gott zu denken, über ihn zu meditieren, zu ihm zu beten.

Und die dritte, die er hier erwähnt, ist über Om zu meditieren, und zwar mit Gefühl und Gewahrwerden der Bedeutung. Das gilt natürlich nicht nur für Om, sondern für die Meditation über jedes Mantra.

Jetzt sagt er noch etwas Interessantes:

29. Tatah pratyak–chetanâdhigamo ’py antarâyâ–bhâvash cha    

tatah = von ihr (dieser Übung); pratyak = Nachinnenwenden; chetanâ = Bewusstsein; adhigamo = Erreichen; api = auch; antarâyâ = Hindernisse; abhâva = Abwesenheit, Verschwinden; cha = und

Durch die Wiederholung von OM ergeben sich erleuchtete Innenschau und die Beseitigung aller Hindernisse.

Wenn wir normalerweise über etwas nachdenken, versinken wir meist schnell im Sumpf unserer Gedanken. Ist unser Allgemeinbefinden beim Nachdenken gerade gut, dann ist es schön. Wenn es uns aber nicht so gut geht und wir nachdenken, dann kreisen die Gedanken beständig und wir sacken immer mehr in den Sumpf hinein. Währenddessen, wenn wir meditieren – damit ist gemeint, sich ruhig hinzusetzen und sein Mantra zu wiederholen –, wird der Geist klarer. Wenn wir dann mit diesem durch Meditation erhobenen Geist nachdenken, kann die Antwort leichter kommen. Das bedeutet erleuchtete Innenschau.

Und Patanjali verspricht uns auch noch die Beseitigung aller Hindernisse. Wir brauchen nur OM zu wiederholen und alle Hindernisse sind beseitigt. Das klingt gut – ob es wohl ausreicht ….?

Nach der indischen Unabhängigkeit kam einmal ein Politiker zu Swami Sivananda in den Ashram und zeichnete ihm ein vollständiges Bild aller Schwierigkeiten, vor denen Indien damals stand: Die Flüchtlinge, die aus Pakistan nach Indien geflohen waren. Die Moslems, die Angst hatten, dass die Hindus sich jetzt an ihnen rächen würden. Da waren die verschiedenen kleinen Staaten innerhalb Indiens, die es vorher gegeben hatte und die zum Teil britische Protektorate, in Bezug auf die Innenpolitik aber weitestgehend unabhängig gewesen waren und die in den indischen Gesamtstaat integriert werden sollten. Die hohen Schulden und der Aufbau der Verwaltung: Die Engländer hatten Indien mehr oder weniger überstürzt verlassen, alle hohen Posten in der Verwaltung waren von Engländern besetzt gewesen und niemand war darauf vorbereitet. Die ganze Verwaltung war zusammengebrochen. Wie kann die Wirtschaft wieder auf die Beine kommen? Wie kommt man der Korruption bei? Die Gefahr eines Krieges mit Pakistan drohte usw. Insgesamt ein riesiger Berg von Schwierigkeiten, vor dem das Land stand.

Swami Sivananda hörte sich das alles aufmerksam und geduldig an und als der Politiker ihn fragte, was die Lösung für all diese Probleme sein könnte, sagte Swami Sivananda im Brustton der Überzeugung: „Repeat the name of God that is the only solution“ – „Wiederholen Sie den Namen Gottes, das ist die einzige Lösung“. Der andere war erst mal wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte erwartet, Swami Sivananda würde ihm großartige Ratschläge zu den einzelnen Problemen geben. Aber er sagte tatsächlich nur: „Wiederhole den Namen Gottes …“

Wenn die Probleme so groß sind, dass wir sie nicht lösen können, dann kann sie nur Gott lösen. Indem wir den Namen Gottes wiederholen, bekommen wir Zugang zu ihm. Dann kommt die Gnade Gottes, so dass wir fähig werden, das auszuführen, was nötig ist und was innerhalb unserer Möglichkeiten liegt. Außerdem befreit es uns von dem Gefühl, dass wir die Verantwortung für alles haben, dass wir alles ändern und tun müssen. Wir haben ohne Zweifel Aufgaben und wir versuchen, sie so gut wie möglich zu erfüllen. Aber es ist Gottes Aufgabe, sich um diese Welt zu kümmern. Wir sind das Instrument dafür und wir müssen offen sein, damit Gottes Gnade durch uns fließen kann, so dass wir auch in unübersichtlichen Situationen richtig handeln.

Auch auf vielen anderen Ebenen gibt es Hindernisse, die wir durch Mantrawiederholung überwinden können. Es ist immer wieder erstaunlich, wenn man das über eine gewisse Zeit ausprobiert: Konzentriert man sich auf das Mantra und wiederholt es in schwierigen Situation etwas länger, dann verschwinden die Hindernisse. Es ist wirklich verblüffend, aber es ist tatsächlich so.

Und obwohl ich jetzt schon 19 Jahre lang Mantras wiederhole, weiß ich bis heute nicht, wie sie eigentlich wirken, sondern nur, dass sie wirken. Ich gebe zwar großartige Vorträge über die Wirksamkeit von Mantras, aber ihre Wirkungsweise an sich ist ein Mysterium.

Das sagt auch Shri Karthikeyan immer wieder, wenn er hier ist: „The longer i live the more i see that the whole world is a mystery. Life is a mystery. Mind is a mistery. God is a mystery. Mantra is a mystery. How everything works, nobody knows“ – „Je länger ich lebe, desto mehr erkenne ich, die ganze Welt ist ein Mysterium. Das Leben ist ein Mysterium. Der Geist ist ein Mysterium.  Gott ist ein Mysterium. Mantras sind ein Mysterium. Niemand weiß, wie alles funktioniert.“ Dass es wirkt, wissen wir; wie genau, darüber haben wir zwar verschiedene Theorien, zum Beispiel Klangschwingungen, Resonanz usw., aber die Wirkung ist tiefer, als man logisch erfassen kann.

Und jetzt zählt uns Patanjali die Hindernisse auf, die es auf dem Weg gibt:

30. yâdhi–styâna–samshaya pramâdâlasyâ–virati–bhrânti–darshanâ–labdhabhûmi–katvânavasthitatvâni chitta–vikshepâs te `ntarâyâh    

vyâdhi = Krankheit; styâna = Stumpfsinn, Teilnahmslosigkeit; samshaya = Zweifel; pramâdâ = Achtlosigkeit; âlasya = Trägheit; avirati = Haften an Dingen; bhrânti–darshana = Täuschung, irrtümliche Ansicht; alabdha–bhûmikatva = Nichterreichen einer Stufe, Unfähigkeit, einen Halt zu finden; ana-vasthitatvâni = Unstetigkeit, Unbeständigkeit; chitta = Verstand; vikshepas = Zerstreuungen; te = sie; antarâyâh = Hindernisse

Die Hindernisse für die Verwirklichung sind Krankheit, geistige Trägheit, Zweifel, Gleichgültigkeit, Faulheit, Verlangen nach Vergnügen, Täuschung, die Unfähigkeit zur Konzentration und Ruhelosigkeit des Geistes durch Ablenkungen.

Hier erwähnt Patanjali ein paar ganz typische Hindernisse, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Wenn Menschen mir von ihrem Problem erzählen, reicht es oft aus, wenn ich ihnen sage, dass andere das auch haben. Wenn sie wissen, das ist normal, andere haben das auch, können sie beruhigter damit umgehen.

Krankheit ist ein Hindernis aus verschiedenen Gründen.

Zum einen natürlich, weil Krankheit uns schwächt. Wenn wir müde oder erkältet sind oder ein Bein gebrochen haben, ist es etwas schwer, sich zur Meditation hinzusetzen.

Zum zweiten führt Krankheit aber auch oft zu Zweifeln am Yogaweg. Es gibt diese eigenartige Vorstellung, dass man nicht mehr krank wird, wenn man Yoga übt. Das wird bestärkt durch die teilweise etwas übertriebene Darstellung von Wirkungen der Yogaübungen in Yogabüchern – auch in denen von Swami Sivananda und Swami Vishnu Devananda. Im Kapitel über Gesundheit im Buch „Göttliche Wonne“ von Swami Sivananda heißt es: „Gesundheit ist das Geburtsrecht des Menschen und gesund sind wir dann, wenn wir die Gesetze der Natur beachten.“ Das ist der typisch indische Stil der Übertreibung.

Es stimmt, dass wir weniger krank werden, wenn wir Yoga üben. In Amerika wurde eine Studie durchgeführt, die belegt, dass Menschen, die regelmäßig Yoga üben, nur ein Viertel der Krankheitskosten im Vergleich zum Durchschnitt verursachen. Das ist viel. Man könnte also die Gesundheitsvorsorgekosten auf ein Viertel reduzieren, wenn alle Yoga üben würden. Nur –  Menschen, die Yoga üben, werden im Schnitt auch mindestens zehn Jahre älter als andere, so dass die Renten länger beansprucht werden. Folglich müssten die Krankenkassenbeiträge gesenkt und die Rentensätze erhöht werden. Es kann als gesichert gelten, dass Üben von Yoga in all seinen Aspekten – richtige Ernährung, Körperübungen, Entspannungstechniken, Atmung, positives Denken, gesunde Lebenseinstellung, Gottvertrauen, Sinn im Leben, gesunde Einstellung zum Schicksal und zum Stress – den Menschen erheblich gesünder macht und ihn älter werden lässt.

Manche Krankheiten haben den Sinn, uns bestimmte Erfahrungen machen zu lassen, an denen wir wachsen. Diese Krankheiten suchen uns auch dann heim, wenn wir alles richtig machen im Leben.

Und manche Krankheiten kommen aus karmischen Gründen, weil wir in früheren Leben jemand anderem Krankheiten zugefügt haben oder ähnliches. Dann müssen wir uns mit der Krankheit abfinden.

Und wieder andere kommen einfach deshalb, weil sie unseren Fortschritt beschleunigen.

Die Frage stellt sich, wenn man liest oder hört, dass Swami Sivananda in seinen letzten Lebensjahren viele Krankheiten hatte. Warum litt er als selbstverwirklichter Meister unter all diesen Krankheiten? Der Grund liegt im restlichen Karma, das noch da war und aufgearbeitet werden musste.

Auch Swami Vishnu hatte zum Schluss einige Krankheiten und ist relativ früh gestorben. Allerdings muss man dazusagen, dass er seinen Körper auch nie geschont hat. Keiner konnte mit ihm Schritt halten. Er ist mehrmals im Jahr um die Welt gereist. Es wird viel von den Reisen des Papstes gesprochen. Swami Vishnu ist in einem Jahr so viel gereist wie der Papst in drei Jahren und hat sich daneben um die Administration in den Zentren gekümmert, Bücher geschrieben, Yogakurse und Lehrerausbildungen gegeben, Tausende von Mantraeinweihungen vorgenommen – er hat sich ganz gegeben. So hat er sehr schnell spirituellen Fortschritt gemacht, aber er hat seinen Körper vielleicht auch etwas überfordert. Natürlich hat er ihn nicht etwa misshandelt, sondern im Gegenteil regelmäßig Asanas und Pranayama praktiziert, auf gesunde Ernährung geachtet usw.

Yogis achten auf ihren Körper, aber es kommt nicht auf die physische Langlebigkeit an, sondern darauf, wie viel Erfahrungen wir machen, wie viel wir lernen. Swami Vishnu hat auch über die Krankheit zum Schluss noch einige Lektionen gelernt und ist dadurch zum reinen Bhakta (Yogi der Gottesliebe) geworden.

In der Krankheit kann also durchaus eine Lektion liegen. Aber weil man dadurch oft träge wird und einem die spirituellen Praktiken wie Asanas, Pranayama und Meditation schwer fallen oder ganz unmöglich werden, kommen viele Menschen dadurch ins Zweifeln am ganzen Weg. Deshalb sind Krankheiten in erster Linie Hindernisse und wir bemühen uns im Yoga, unseren Körper gesund zu halten.

Das nächste Hindernis ist Trägheit. Patanjali erwähnt gleich drei Aspekte davon, nämlich geistige Trägheit, Gleichgültigkeit und Faulheit. Von den neun Hindernissen, die er aufzählt, sind drei letztlich Tamas. Wir müssen Tamas überwinden. Das geschieht durch regelmäßige spirituelle Praxis.

Als nächstes Hindernis folgt Zweifel.

Der Mensch hat ständig Zweifel. Es heißt, es gibt nur zwei Arten von Menschen, die nie Zweifel haben: Die einen sind die Fanatiker und die anderen die Selbstverwirklichten. Bis zur Verwirklichung schlagen wir uns immer wieder mit vielen kleinen Zweifeln herum und ab und zu auch mit einem grundsätzlichen, größeren. Zum Beispiel stellt man plötzlich in Frage, dass es so etwas wie Selbstverwirklichung überhaupt gibt oder dass man es selbst tatsächlich erreichen kann. Oder man fragt sich: „Befinde ich mich auf dem richtigen Weg dorthin? Ist der Mensch oder der Guru, dessen Tradition ich folge, der Richtige? Kann er mich richtig führen? Und ist das, was ich jetzt gerade praktiziere, überhaupt das Richtige?“ Das passiert manchen Menschen auch noch nach Jahren der Praxis.

Wir müssen über Selbstverwirklichung lesen und hören und über Menschen, die sie wirklich selbst erreicht haben. Mit Menschen zu sprechen, die selbstverwirklichte Meister erlebt haben oder vielleicht sogar persönlich einen zu treffen verhilft uns zu der Gewissheit: Ja, es gibt tatsächlich Selbstverwirklichung. Auch die Überzeugung, mit der alle diese Meister sagen, dass es jeder erreichen kann, hilft uns. Wenn nicht in diesem Leben, dann im nächsten – aber wir können es erreichen!

Wir müssen uns zuerst gründlich Gedanken machen über den Weg, den wir gehen. Wir müssen überlegen, ob das der richtige Weg und der richtige Lehrer ist oder wir spüren es einfach. Und wenn wir merken, im letzten halben Jahr oder in den letzten zwei Jahren habe ich diese und jene Fortschritte gemacht, dann wird es sicher auch weitergehen. Sehr nützlich dabei ist ein Tagebuch, in dem man seine Erfahrungen und Schwierigkeiten aufschreibt. Wenn man dann nämlich ein paar Jahre später sein Tagebuch liest und sieht, was für Schwierigkeiten man damals hatte, dann lächelt man und weiß: Ich bin doch erheblich gewachsen. Ohne Tagebuch vergisst man gern, mit welchen Problemen man sich vorher herumgeschlagen hat.

Und ab und zu müssen wir auch mal unserem Geist sagen, er soll aufhören mit seinen Zweifeln. Wenn wir einmal einen Entschluss gefasst haben, dann führen wir ihn aus. Hin und wieder können wir die Angelegenheit vielleicht nochmals gründlich überdenken, aber nicht ständig zweifeln. Es gibt Menschen, die sich ständig in Selbstzweifeln suhlen. Man muss einfach auch mal einen Entschluss fassen und sich notfalls sagen: „Ein halbes Jahr übe ich jetzt mal so; danach schaue ich: War es der richtige Weg? Habe ich Fortschritte gemacht?“ Und dann soll man dieses halbe Jahr auch durchhalten, ohne seinen Entschluss dazwischen ständig in Frage zu stellen. Wenn ein halbes Jahr zu lange ist, nimmt man sich halt nur einen Monat vor oder eine Woche, aber es ist wichtig, dass man einen Entschluss fasst und von Etappe zu Etappe geht.

Auch wenn es darum geht, eine Entscheidung zu treffen, kann man sich einen Zeitrahmen setzen und sich vornehmen: „Ich gebe mir bis dahin Zeit, dann treffe ich eine Entscheidung und halte mich auch daran.“ Notfalls muss man den Entschluss fassen, auch wenn man sich nicht ganz sicher ist. Dann kann man sich sagen: „Das erscheint mir als das Richtige. Wenn sich nicht bis dann und dann etwas Erhebliches ändert, sehe ich das als Gottesbeweis an und bleibe bei dieser Entscheidung.“

Gleichgültigkeit ist das nächste Hindernis. Diese „Es ist ja alles egal“-Mentalität und Wurstigkeit darf sich nicht einschleichen. Gleichmut ist etwas anders als Gleichgültigkeit. Gleichgültig ist tamasig, gleichmütig ist sattwig.

Faulheit ist ebenfalls noch ein großes Hindernis.

Verlangen nach Vergnügen taucht manchmal einfach so auf. Als spiritueller Aspirant überlegt man manchmal: Gibt es nicht doch zu vieles, worauf ich verzichtet habe?

Ich selbst meditiere seit meinem 16. Lebensjahr. Ich bin noch nie in meinem Leben betrunken gewesen, habe noch nie ausgelassen auf einer Feier mitgemacht, – außer bei spirituellen Festen und die waren wahrscheinlich harmonischer und schöner. Manchmal sagen Leute zu mir: „Wie kannst du überhaupt wissen, was du da verpasst hast?“ Gut, mir geht es jetzt nicht so, dass ich Angst habe, etwas zu verpassen oder etwas verpasst zu haben. Schon damals hat mir das nichts bedeutet. Ich habe die Menschen beobachtet, die das alles gemacht haben und kam in relativ jungen Jahren zu dem Schluss, dass sie nicht wirklich glücklich sind.

Ich kann mich erinnern, wie mich meine Cousine einmal in eine Disko mitgeschleppt hat. Kurz vorher hatte ich den „Steppenwolf“ von Hermann Hesse gelesen, wo etwas über Tanzen vorkam, und so dachte ich, Ekstase über Tanzen zu erreichen, das müsste ja auch ganz schön sein. Dann habe ich das also etwas ausprobiert … Nun gut, von einem Diskobesuch allein klappt das wahrscheinlich auch noch nicht. Aber ich habe auch die anderen beobachtet und es kam mir zu hohl vor. Vielleicht funktioniert es heute besser mit dieser Rave-Ecstasy-Welle, wahrscheinlich hat man da tatsächlich ekstatische Erlebnisse. Aber sie halten nicht an. Und wenn Ekstase durch Drogen induziert ist, wenn man Drogen oder Alkohol dazu braucht, ist es keine wertvolle Erfahrung und führt überdies anschließend nur zu einem Kater. Man hat zwar bis vor kurzem angenommen, Ecstasy sei harmlos, aber es scheint so zu sein, dass man davon schwere Schädigungen im Gehirn davontragen und langfristig depressiv werden kann.

Aber manche Menschen auf dem spirituellen Weg haben doch manchmal das Gefühl, etwas zu verpassen. Eine Seminarteilnehmerin hat mir neulich erzählt, sie mache jetzt zwar auch täglich Asanas, Pranayama und Meditation, aber einmal in der Woche würde sie schon mit ihrem Freund in ein sehr gutes Restaurant gehen und der Rotwein gehöre dort einfach dazu. Sie hat das Gefühl, ohne dem Glas Rotwein würde ihr ein großes Stück Lebensqualität entgehen. Gut, ich habe ihr jetzt auch nicht geraten, darauf zu verzichten sondern gemeint, einmal in der Woche ein Glas Rotwein wird nicht so tragisch sein, wenn es ihr so wichtig ist. Aber wenn wir eine Weile auf dem Weg sind, dann stellen wir fest: Es ist es nicht wert, mit einem Glas Rotwein vielleicht 30 % der Wirkung unserer Pranayama-Praxis zu vernichten. Und letztlich ist es kein so großes Vergnügen.

Täuschung ist ein Hindernis.

Wir können uns oft täuschen, indem wir Dinge falsch verstehen oder falsch sehen oder indem wir den niederen Geist für die innere Stimme der Intuition halten. Swami Vishnu hat gern gesagt: „Never trust your mind“ – „Traue nie deinem Geist“. Aber wem kann man sonst trauen?

Wenn man einen Guru hat, kann man ihn fragen. Aber die Antwort ist meistens nicht eindeutig.

Ich habe Swami Vishnu oft Dinge gefragt.

Bei technischen Fragen wie: „Wer kann Kapalabhati auch wechselseitig ausführen?“ oder „Sollte man bei Kapalabhati den Brustkorb erheben oder unten halten?“ „Sollte man nach Bhastrika rechts einatmen oder links?“ – denn das steht unterschiedlich in den Büchern –, hat er mir klare Antworten gegeben.

Aber als ich ihn gefragt habe, ob ich mein Studium aufgeben oder ob ich weitermachen soll, da kam keine klare Antwort. Oder als ich ihn mal etwas anderes gefragt habe, hat er mir auch nicht gesagt, was ich machen soll. In solchen Fällen gibt ein Meister nur Kriterien an, an denen man sich orientieren und nach denen man selbst entscheiden kann. Ein Guru macht seine Schüler nicht abhängig. Er nimmt ihnen die Entscheidungen nicht ab. So wie Krishna am Ende der Bhagavad Gita zu Arjuna sagt: „Und jetzt mache, was du willst“. Am Anfang sagt er, er solle kämpfen, weil Arjuna das so heftig abgelehnt hat. Aber später, nachdem er ihm die Yogawege erklärt hat, überlässt er ihm die Entscheidung – und so ist auch ein Guru. Aber der Guru hilft einem, aus der Täuschung herauszukommen und die Antwort von selbst zu finden.

Die Unfähigkeit zur Konzentration kann eine Schwierigkeit sein.

Vielen Menschen fällt es am Anfang schwer zu meditieren. Manchmal kommt auch nach einer Weile eine Unreinheit im Geist hoch. Und obgleich man vielleicht ein Jahr oder länger sehr schöne Meditationen hatte, kann man plötzlich nicht mehr meditieren. Das passiert manchen auch während der Yogalehrer–Ausbildung. Dann denken sie: Jetzt mache ich so viel Yoga und kann nicht mehr meditieren! Vorher habe ich weniger gemacht und es ging viel besser! Die Ursache ist eben eine stärkere Unreinheit, die sich löst, so dass man eine Weile von der Meditation wie abgeschnitten ist. Das muss man aushalten und trotzdem die Unterscheidungskraft behalten. Glücklicherweise geht es nicht allen so. Die meisten können hier besser meditieren als zu Hause.

Und schließlich ist Ruhelosigkeit des Geistes durch Ablenkungen ein Hindernis.

Äußere Dinge lenken uns ab und machen den Geist unruhig. Wir sollten uns nicht ablenken lassen.

31. Duhkha-daurmanasyângamejayatva-shvâsa-prashvâsâ vikshepa-sahabhuvah    

duhkha = Schmerz; daurmanasya = Verzweiflung, Depression; angamejayatva = Erschütterung des Körpers, Nervosität; shvasa–prasvasah = Ein-und Ausatmung, schweres Atmen; vikshepa = Zerstreuung; sahabhuvah = begleitende Symptome

Geistiger Schmerz, Depression, physische Nervosität und unregelmäßige Atmung sind die Symptome eines verwirrten Geisteszustandes.

Das sind die Folgen, die Symptome, an denen man die oben erwähnten Hindernisse erkennen kann. Manchmal ist man sich dieser Hindernisse nämlich gar nicht bewusst. Der menschliche Geist begründet ja oft alles Mögliche rational. So kann es passieren, dass wir gar nicht erkennen, dass wir momentan einem Hindernis begegnen, sondern denken, wir hätten irgendeine sehr kluge Ansicht. Und hier gibt uns Patanjali vier Tipps, wie wir herausfinden können, ob wir uns gerade auf dem Holzweg befinden.

Geistiger Schmerz und Depression sind beides nicht sehr positive Gemütszustände. Geistiger Schmerz meint Zerrissenheit, ein manifestes Leiden. Depression bedeutet Niedergeschlagenheit, sich kaputt fühlen.

Physische Nervosität kann man mit dem Test herausfinden, ob die Hand ruhig ist oder nicht. Wenn man den ganzen Tag gearbeitet hat und die Hand abends etwas unruhig ist, dann liegt es natürlich an etwas anderem!

Physische Unruhe und unregelmäßige Atmung kann man bei sich selbst und bei anderen beobachten. Wenn man es zum Beispiel mit einem Menschen zu tun hat, der ganz unruhig und nur im oberen Brustbereich atmet, dann kann man diesem Menschen zunächst mit Logik nicht beikommen. Er wird in dem Moment nicht logisch mit einem sprechen können. Man muss versuchen, ihn erst zu beruhigen – es kommt natürlich auf die Situation an. Wenn möglich, versucht man, ihn zu trösten, zu verstehen, Liebe zu zeigen. Wenn das wegen der Art der Beziehung nicht möglich ist, dann fasst man ihn eher mit Samthandschuhen an, ist freundlich, schickt positive Gedanken und beachtet es nicht zu sehr, wenn er irgendwelche komischen Geschichten erzählt. Denn er ist, um mit Patanjali zu sprechen, momentan in einem verwirrten Geisteszustand, vikshepa sahabhuvah.

Wenn wir eines dieser Symptome bei uns feststellen, wissen wir, wir stehen irgendwo an einem Hindernis. Dann können wir die Schwierigkeiten dahinter suchen und anschließend etwas tun, um sie  zu beseitigen.

Patanjali gibt im nächsten Vers eine Technik an, wie man diese Hindernisse beseitigen kann. Im 2. Kapitel kommt er auf weitere Techniken zurück.

32. Tat–pratishedhârtham eka–tattvâbhyâsah    

tat = das; pratishedhartam = zur Beseitigung, zur Kontrolle; eka = einem; tattva = Prinzip, Wahrheit; abhyasah = Übung

Um diese Hindernisse zu beseitigen, sollte man über einen Aspekt der Wahrheit meditieren.

Er empfiehlt hier eigentlich die Ablenkung. Wenn wir erkennen, es sind Hindernisse und ein verwirrter Geisteszustand da, sollen wir nicht versuchen, zu analysieren und die Ursache herauszufinden, sondern stattdessen unsere Konzentration auf einen Aspekt der Wahrheit richten.

Aber er empfiehlt nicht die Ablenkung auf irgendetwas, also zum Beispiel, ins Kino oder in ein Restaurant zu gehen, Achterbahn zu fahren, Bier zu trinken oder den Fernseher einzuschalten. Sondern er empfiehlt uns, über einen Aspekt der Wahrheit zu meditieren. So erheben wir den Geist wieder.

Wir haben schon darüber gesprochen, was Krishna in der Bhagavad Gita mit Arjuna macht. Arjuna ist in großer Verzweiflung. Er weiß nicht, was er machen soll und zeigt alle Symptome eines verwirrten Geisteszustandes: geistigen Schmerz, Depression, er ist nervös und wirft die Waffen weg. Gut, über seine Atmung wird nichts ausgesagt, aber es ist anzunehmen, dass sie auch nicht ruhig und tief war. Arjuna ist in vollkommener Verzweiflung und paradoxerweise erzählt Krishna ihm als erstes von der Unsterblichkeit der Seele! Aber das ist notwendig und hilfreich. Und natürlich bleibt es nicht dabei, sondern anschließend erklärt er ihm alles Mögliche.

Damit kann man natürlich nicht jedem kommen. Wenn ihr beispielsweise einen alten Bekannten von früher trefft, dem es schlecht geht, wird er wenig damit anfangen können, wenn ihr ihm sagt: „Mach dir nichts draus, dein wahres Selbst ist unberührt und überhaupt bist du Sein, Wissen und Glückseligkeit.“ Aber generalisieren kann man das auch nicht. Gerade als ich das so behauptet habe, hat mir eine Psychotherapeutin unter den Seminarteilnehmern erzählt, sie hätte Menschen, die mit Yoga gar nichts zu tun haben, auch schon den Rat gegeben: „Egal, was passiert, irgendetwas in dir bleibt doch gleich, versuch das mal zu spüren. Diesen stillen Pol in dir gibt es und er gibt dir Kraft. Versuch mal, zu diesem ruhenden Pol zu kommen, den es in aller Verzweiflung und in allen Emotionen gibt.“ Das kann helfen, dass Menschen dann besser zurechtkommen.

Wenn wir über einen Aspekt der Wahrheit meditieren, erheben wir den Geist. Ist der Geist erhoben, kann man anders arbeiten und die Probleme sind leichter zu lösen.

Im 2. Kapitel zählt Patanjali als Methoden noch Kriya Yoga (yogische Reinigungstechniken), Tapas (Askese), Swadhyaya (Selbststudium), Ishwara pranidhana (Hingabe an Gott), Karma (Handlung), Sinn des Lebens, die Einstellung, die wir zum Leben haben können, sowie die acht Stufen des Raja Yoga auf. Aber zuerst meditieren wir über einen Aspekt der Wahrheit und erheben so unseren Geist. Erst dann ist wirklich etwas mit uns anzustellen.

Patanjali will sich mit niemandem abgeben, der nicht meditiert. Meditation ist die Voraussetzung, dass man sich ein bisschen erheben und die Probleme anders angehen kann. Wenn jemand nicht meditiert, kann man mit dem Problem nicht umgehen. Er hat ja schon vorher gesagt, die Wiederholung eines Mantras bringe erleuchtete Innenschau und überwinde alle Hindernisse. Auf diese Weise ist er überhaupt auf die Hindernisse gekommen. Erst wenn wir meditieren, ein Mantra wiederholen, wird die Introspektion (Analyse des eigenen Erlebens) erfolgreich. Ansonsten kommen wir aus unserem eigenen Tümpel nicht heraus. Wenn wir ein Mantra wiederholen, erhebt uns die Kraft des Mantras, wir kommen zu einer erleuchteten Innenschau und überwinden die Hindernisse. Dem Sutra-Stil folgend, erklärt Patanjali dann die Hindernisse, die Symptome für die Hindernisse und vorher hat er die Mantrameditation als Heilmittel erwähnt. Hier sagt er, wir können über einen Aspekt der Wahrheit meditieren und damit schließt sich der Kreis.

Von Vers 33 bis 39 gibt er uns verschiedene Techniken, wie wir meditieren können.

33. Maitrî–karunâ–muditopeksânam sukha–duhkha–punyâpunya–vishayânâm bhâvanâtash chitta prasâdanam    

maitri = Freundlichkeit; karuna = Mitgefühl; mudita = Frohsinn; upektsanam = Gleichgültigkeit; sukha = Freude, Glück; duhkha = Leid, Elend; punya = Tugend; apunya = Laster; visayanam = Ziele; bhavanatah = durch Kultivierung von Haltungen, durch Verweilen in Gedanken; chitta = Verstand; Prasadanam = Klärung, Läuterung

Der Geist wird durch die Entwicklung von Freundlichkeit, Wohlwollen, Zufriedenheit und Gleichmut klar gegenüber Glück, Laster und Tugend.

Wir können über Freundlichkeit, Wohlwollen, Zufriedenheit und Gleichmut meditieren. Dafür eignet sich zum Beispiel die Eigenschaftsmeditation. Das ist eine konkrete Meditationstechnik, um eine bestimmte Eigenschaft zu entwickeln oder zu verstärken, in dem wir über Affirmationen (Bejahung, Bestätigung), Visualisierung, Nachdenken, Fühlen und abschließender nochmaliger Affirmation eine Weile lang jeden Tag üben. Dadurch wird diese Eigenschaft sehr stark.

Als geeignete Eigenschaften empfiehlt Patanjali Freundlichkeit, Wohlwollen, Zufriedenheit und Gleichmut.

34. Pracchardana–vidharanabyam va pranasya    

Pracchardana = Ausstoßen, Ausatmen; vidharanabhyam = Zurückhalten, Bewahren; va = oder; prana-sya = Atem

Dies wird auch durch das Ausstoßen und das Zurückhalten des Atems erreicht.

Also Pranayama, Atemübungen, helfen auch, den Geist zu erheben. Richtige Atmung im täglichen Leben kann sehr viel bewirken.

Der beste Ratschlag, den man nervösen oder unruhigen Menschen geben kann, ist, die Hand auf den Bauch zu legen und ein paar Mal tief mit dem Bauch ein- und auszuatmen. Das hilft enorm, Stärke, Festigkeit und Gleichmut zu entwickeln. Zwischen Atmung und Gemütsverfassung besteht eine direkte Korrelation (Zusammenhang). Ihr könnt mal bewusst darauf achten, wie ein Mensch atmet, der leicht die Fassung verliert und wie jemand atmet, der eher Gleichmut ausstrahlt. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Yogalehrer ganz flach in der Brust atmen, während sie ihren Schülern die tiefe Bauchatmung beibringen!

Manche Menschen werden noch ärgerlicher oder nervöser, wenn sie total verärgert sind und dann auch noch über Wohlwollen meditieren sollen. Wir hatten hier einmal einen Schüler mit größeren psychisch–geistigen Problemen. Er hat mir erzählt, immer wenn ich am Anfang der Meditation sagte: „Beim Ausatmen stelle dir vor, du schickst Licht und Liebe zu allen Wesen“ sei er richtig aggressiv geworden. Er fühlte sich von verschiedenen Menschen psychisch misshandelt und empfand es als Zumutung, ihnen jetzt auch noch Licht und Liebe zu schicken ….!

Ich habe ihm geraten, er soll stattdessen denken: „Ich schicke Licht und Liebe in alle Richtungen“. Das konnte er dann. Und ich leite jetzt Meditationen auch eher mit dieser Formel ein, da es Menschen gibt, die aus irgendwelchen Gründen – tatsächlicher oder eingebildeter seelischer, körperlicher, geistiger Missbrauch – Aggressionen haben, die geweckt werden, wenn man sie bittet, Wohlwollen auszusenden. Aber mit der Zeit sollte es für jeden möglich sein, allen Menschen Wohlwollen zu schicken, selbst wenn einem das Furchtbarste angetan wurde, und zwar aus der Erkenntnis des Karmas heraus, dass ein Mensch, der einem etwas angetan hat, nur Erfüllungsgehilfe des Karmas war. Nur, nicht jeder kann das in jeder Situation anwenden und manchmal kann man es selbst auch nicht in jeder Situation – meinen mindestens einige. Aber ich kann es eigentlich schon immer und habe nie Probleme damit, allen Wesen Wohlwollen zu schicken.

Wem das also schwer fällt, der kann wenigstens den Atem beherrschen. Das kann jeder. Das ist der indirekte Weg des Hatha Yoga wie auch des Kundalini Yoga. Geist und Prana (Lebensenergie) hängen zusammen. Verändern wir das Prana, ändert sich der Geist. Verändern wir die Atmung, verändert sich das Prana. Atemübungen sind etwas ganz Tolles. Sie können einen aus allen möglichen Depressionen, Stimmungen und falschen Vorstellungen herausreißen. Früher war ich ein sehr schüchterner Mensch. Vor einem Vortrag oder einer Yogastunde musste ich immer unbedingt eine halbe Stunde Pranayama machen. Und vor meinem ersten Meditationskurs musste ich ein paar Runden Bhastrika (spezielle Atemübung) machen, sonst wäre es nicht gegangen, denn ich hatte großes Lampenfieber und war sehr unruhig. Aber wenn ich vorher eine Weile Pranayama geübt hatte, waren das Prana, die Ruhe und die Stärke des Geistes da.

Manchmal kann es hilfreich sein, sich zusätzlich zum regelmäßigen Pranayama einmal am Tag zwischendurch ein paar Minuten lang hinzusetzen und Wechselatmung zu üben, wenn man unruhig ist oder viel Energie braucht. Mir haben schon etliche Leute erzählt, dass sie das während der Arbeit manchmal machen – zum Beispiel auf der Toilette – und dass sie dann wieder Ruhe und Kraft haben. Eine Yogalehrerin hat erzählt, irgendwie sei das bei ihr mal auffällig geworden und ihre Kollegen hätten sie gefragt, was denn ihr Geheimnis wäre, was sie denn auf der Toilette mache. Das Ergebnis war dann die Gründung einer Yogagruppe!

35. Visayavati va pravrttir utpanna manasah sthiti-nibandhani    

Visayavati = die Sinne betreffend; va = oder; pravrttih = Funktion, Tätigkeit; utpanna = entstanden, geboren; manasah = des Gemütes; sthiti = Beharrlichkeit; nibandhani = Bildung von, hilfreich bei der Herstellung von

Festigkeit des Geistes wird leicht begründet, wenn die höheren Sinne wirksam werden.

Wenn wir meditieren, können auch höhere Sinne aktiv werden. Ein Beispiel dafür sind die Anahata–Klänge, innere Klänge im linken oder rechten Ohr. Bei den meisten sind sie in einem Ohr stärker. Bei mir sind sie ziemlich gleichmäßig in beiden Ohren. Auf diese Klänge kann man sich konzentrieren, entweder, indem man einfach ganz bewusst diese schönen Klänge wahrnimmt oder man versucht, den nächst subtileren Klang in diesem Klang herauszuhören. Dieser subtilere Klang wird dann langsam stärker. Dann versucht man wieder, den nächst höheren Klang herauszuhören und so werden die Klänge immer subtiler, erhabener und schöner, und das kann den Geist ganz wunderbar konzentrieren.

Als Yogalehrer muss man wissen, dass es diese Anahata-Klänge gibt und dass es Tinnitus gibt, eine Gehörkrankheit. Manche Menschen hören Anahata-Klänge und halten sie für Tinnitus. Tinnitus ist ein sehr unangenehmes, lautes Ohrenrauschen, Ohrensausen – manche beschreiben das Geräusch wie eine Dampflokomotive oder wie eine hochfrequentierte Autobahn –, das seine Ursache höchstwahrscheinlich darin hat, dass die Menschen zu lauten Geräuschen ausgesetzt waren. Die Generation der Diskobesucher, die sich den Kopf mit lauter Musik vollgedröhnt hat, ist jetzt langsam im Alter zwischen 30 bis 50. Durch die Vorschädigungen des Ohres kann es im Alltagsstress geschehen, dass die Gefäße ganz geschädigt werden oder irgendetwas anderes passiert, das diese Tinnitusgeräusche auslöst.

Die genaue Ursache kennt man nicht. Manche behaupten auch, dieses Phänomen gebe es schon länger, zum Beispiel bei Leuten, die von jung auf ohne Gehörschutz Traktor gefahren sind. Tinnitus-Geräusche werden unter Stress stärker. Anahata-Klänge hingegen sind eher sanft. Am meisten verbreitet ist wahrscheinlich ein ganz hoher Klang, ähnlich wie er früher beim Testbild für‘s Fernsehen zu hören war. Er wird umso stärker, je ruhiger der Mensch ist, zum Beispiel in einer sehr ruhigen Meditation, in einer spirituellen Umgebung, in einer Kirche oder wenn man mit einem Menschen ein spirituelles Gespräch führt. Für manche Menschen ist das ein Hinweis auf eine echte Herzenskommunikation. Wenn die Herzenskommunikation da ist und man nicht nur Worte austauscht, kommt dieser wunderbare Klang und man spürt, das gegenseitige Prana tauscht sich aus beziehungsweise die beiden Pranas verbinden sich mit dem göttlichen Prana. Bei ein paar Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind über dem Versuch, im Tinnitus-Geräusch den Anahata-Klang herauszuhören, die Tinnitus-Geräusche schön geworden. Und ich kenne eine ganze Reihe von Menschen, die Anahata-Klänge gehört und sie für Tinnitus gehalten haben.

Entspannungstechniken, Yoga und Meditation sind im allgemeinen bei Tinnitus hilfreich. Ich kenne sogar einige, die damit die Tinnitusgeräusche gänzlich losgeworden sind.

Es gibt auch das höhere Sehen. Man sieht bei geschlossenen Augen Bilder oder ein Licht im dritten Auge, worauf man sich konzentrieren und so den Geist festigen kann. Auf gleichmäßige, schöne, nach oben ziehende, wonnevolle innere Lichter kann man sich konzentrieren. Konkreten Bildern, Szenen aus einem Leben oder Fantasiebildern würde man nicht folgen, denn das ist kein höherer Sinn, sondern die Fantasie, Luftschlösser, was auch immer. Natürlich könnte man auch solche Bilder verfolgen, aber das führt nicht in eine so tiefe Meditation.

Ich dachte zuerst immer, ich sehe keine Lichter, bis mir jemand gesagt hat: „Schließe mal die Augen und schaue, was Du siehst“. Da ist mir aufgefallen, dass ich bei geschlossenen Augen eigentlich immer irgendwelche Lichter sehe! Ich habe das nur nie für etwas Besonderes gehalten. Recht viele Menschen sehen Lichter, wenn sie die Augen schließen. Aber auch wiederum nicht alle. Wenn man keine Klänge hört oder keine Lichter sieht, ist das auch nicht etwa ein Zeichen mangelnden spirituellen Fortschritts. Es bedeutet einfach nur, dass dieser Sinn nicht aktiv ist. Aber wenn man will, kann man es auch trainieren.

Eine Richtung der Sikhs – die Sikhs sind eine der indischen Religionsgemeinschaften – praktiziert ganz besonders diese Meditation auf innere Klänge und inneres Licht, um sich so in den kosmischen Strom einschwingen zu können.

Seltener, aber auch das gibt es, ist es, dass Menschen subtile Gerüche riechen, zum Beispiel wie wunderbare Räucherstäbchen. Ein Nektargeschmack im Mund ist ebenfalls möglich.

Häufiger wiederum kommt es vor, dass man ein wunderschönes Gefühl hat. Man spürt zum Beispiel das Ajna Chakra (Stirnchakra) oder das Herz, man spürt, dass von oben Energie oder Licht in einen hineinströmt. Auch auf solche Gefühle können wir uns konzentrieren.

Viele Menschen erleben eines dieser vier Phänomene. Manche Menschen sind insgesamt mehr auf’s Fühlen ausgerichtet; sie fühlen dann auch eher die Chakras. Manche sind mehr über das Hören orientiert und hören eher innere Klänge. Und wer mehr über das Sehen orientiert ist, sieht vielleicht auch schneller innere Bilder oder ein inneres Licht.

Wenn diese höheren Sinne aktiv werden, dann wird die Festigkeit des Geistes leicht begründet.

Es ist eine leichte Technik, sich darauf zu konzentrieren und zum anderen ist es auch eine gute Hilfe gegen Zweifel, weil man eben erkennt und erfährt, dass es tatsächlich höhere, sehr angenehme Formen der Wahrnehmung gibt. Und wenn die Wahrnehmung noch weiter geht, sich zu einer Intuition entfaltet und man tatsächlich Dinge wahrnimmt, die an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit, in der Zukunft oder in der Vergangenheit, geschehen, dann weiß man einfach: Es gibt solche übersinnlichen Dinge. Oder wenn man in der Meditation den physischen Körper verlassen hat, dann weiß man ganz sicher, ich bin nicht der physische Körper, egal, was die Wissenschaftler über das Gehirn und sonstige Sachen erzählen. Man hat den Körper von oben gesehen. Da gibt es dann nichts mehr zu diskutieren.

Dazu fällt mir gerade ein Witz ein: Es war einmal ein Großvater, der im schulischen Sinn relativ ungebildet war. Sein Enkel studierte Philosophie und Dialektik an der Universität. Eines Tages kam der Student zu seinem Großvater zu Besuch und dieser fragte seinen Enkel: „Was ist eigentlich Dialektik?“ „Dialektik ist die Kunst, alles zu beweisen“, antwortete der Student. „Was heißt das? Könntest du mir zum Beispiel beweisen, dass ich keinen Spazierstock habe?“ fragte der Großvater und fuchtelte mit seinem Stock herum. „Ja, das kann ich dir beweisen“, sagte der Enkel und wollte gerade anfangen, es zu erklären. Da nahm der Großvater seinen Spazierstock , schlug den Enkel damit fest auf den Fuß und sagte zu ihm: „Siehst du, jetzt habe ich dir bewiesen, dass es den Spazierstock gibt!“

Vom absoluten Standpunkt aus gibt es natürlich weder Stock noch Fuß noch Schmerz, weder den astralen noch physischen Körper, alles ist eine Illusion, Jagan mithya, die ganze Welt ist unwirklich. Aber vom relativen Standpunkt aus können wir in der Meditation erfahren, dass es eine astrale Welt gibt, eine subtile Wirklichkeit, unabhängig davon, was andere Menschen uns erzählen und wie unser eigener Geist rational argumentieren will. Deshalb hilft auch das zu einer Festigkeit des Geistes. Aber man muss auch nicht enttäuscht sein, wenn man bisher noch keine höheren Sinne gespürt hat. Es ist nur eine von vielen Techniken, die Patanjali erwähnt.

36. Vishokâ vâ jyotishmatî    

Vishoka = leidlos, heiter; va = oder, auch; jyotishmati = leuchtend; jyoti = Licht

Oder durch Konzentration auf den inneren Zustand des Lichtes, der jenseits von Leid ist.

Wir können uns ein höheres Licht vorstellen oder eines in uns selbst, das unberührt ist von Leid.

Das ist dieselbe Technik, die ich eingangs schon erwähnt habe, die vielen Menschen hilft, sich in das eigene Selbst, in ihren eigenen Ruhepol, der sich niemals verändert, zu versenken und darauf zu konzentrieren. Diesen Pol kann man sich einfach nur als Stille oder eben als Licht vorstellen. Wenn man einen Zugang dazu hat, weiß man, es gibt etwas in mir, das unberührt bleibt, egal ob ich jetzt leide oder mich freue, ob der Körper gesund oder krank ist. Auch das kann zu einer großartigen Erfahrung werden.

37. Vîta-râga-vishayam vâ chittam    

Vîta-râga = ein Mensch, der menschliche Leidenschaften oder Anhaften überwunden hat; vishayam = Gegenstand; vâ = oder, auch; chittam = der Verstand

Oder durch Fixieren des Geistes auf jemanden, der menschliche Leidenschaften und Verhaftungen transzendiert hat.

Ein großer Meister, eine große Meisterin inspirieren einen immer.

Mit Chitta, dem Verstand, können wir darüber meditieren, welche menschlichen Leidenschaften und Versuchungen der Meister transzendiert hat. Oder wir können uns selbst in der Situation dieses Meisters vorstellen, indem wir überlegen: Wie wäre ich, wenn ich vollkommen wäre? Wie würde ich denken, fühlen und handeln?

Krishna zählt in der Bhagavad Gita mehrfach die Eigenschaften eines Vollkommenen auf. Er wiederholt sich auch ständig, so dass manche sich fragen, warum sagt er das wieder und wieder. Diese Wiederholung dient zum einen dazu, dass wir uns wirklich jemanden vorstellen können, der so vollkommen ist und zum zweiten dazu, dass wir uns selbst in diese Idealrolle hineinversetzen können.

Wir Menschen im Westen sind es nicht gewöhnt, uns vorzustellen, dass wir selbst vollkommen sein könnten. Wir streben zwar nach spiritueller Vollkommenheit, aber wir können sie uns bei uns selbst gar nicht vorstellen. Wir gehören einer Tradition an, wo Demut in der Spiritualität eine sehr große Rolle spielt und auch der höchste Heilige noch von sich sagt: „Ich bin der größte Sünder.“ Je mehr man das betont, als umso heiliger gilt man. Das ist in unserer Kultur so. In Indien haben zwar die meisten auch eine gewisse Demut, aber sie haben auch keine Hemmungen, festzustellen: „Ich habe das selbst verwirklicht, ich habe die Erleuchtung erreicht.“ Andererseits laufen sie natürlich auch nicht ständig herum und erzählen es jedem. Wenn sie das tun, ist es auch nicht echt, denn dann haben sie es nötig, es zu erzählen!

Aber nehmen wir zum Beispiel einen Vivekananda, der zu Ramakrishna gekommen ist und ihn gefragt hat: „Hast du Gott gesehen?“
Ramakrishna schaute ihm in die Augen und antwortete: „Ja.“
Daraufhin fragte Vivekananda: „Wann siehst du ihn?“
„Immer. Ich sehe ihn so, wie ich dich sehe, nur immer und deutlicher.“
„Kann ich ihn auch sehen?“
„Ja. Willst du sehen?“
„Ja.“
„Sicher?“
„Ja!“
„Streck‘ deinen Fuß aus!“
Und Ramakrishna berührte (küsste) den Fuß von Vivekananda, worauf Vivekananda eine Gotteserfahrung hatte – diese verwirrte ihn aber so sehr, dass er nachher darum bat, so schnell nicht wieder eine zu haben.

Swami Vivekananda
Swami Vivekananda

Auch Arjuna bittet Krishna, ihm die Vision der kosmischen Gestalt zu geben. Krishna fragt: „Willst du es wirklich sehen?“ Arjuna bejaht, Krishna gibt ihm die Vision, Arjuna ist ganz überwältigt und am Ende des 11. Kapitels bittet er Krishna, sich ihm wieder so zu zeigen wie vorher – die Vision ist ihm zu gewaltig. Krishna ist auch freundlich und zeigt ihm die Welt wieder wie vorher. Dieses Erlebnis verändert natürlich die ganze Sichtweise von Arjuna. Er hat das Göttliche erfahren. Aber Krishna zum Beispiel hat auch keine Hemmungen, von sich zu sagen, dass er alle seine früheren Geburten kennt und dass er ursprünglich der Lehrer aller anderen war. Wie auch Jesus sagt: „Ich bin das Licht und das Leben und die Wahrheit.“ oder „Ich und mein Vater sind eins.“ oder „Wenn der Jünger vollkommen ist, ist er wie sein Meister.“

Also, wir dürfen ruhig etwas Mut aufbringen und uns vorstellen, wie wir sein würden, wenn wir vollkommen wären. Ganz klar ist mir das neulich bei einem Workshop von Shanmug, einem unserer externen Seminarleiter, geworden. Er hat die Teilnehmer gebeten, auf einem Blatt alle ihre Fehler aufzuschreiben. Und die Menschen haben geschrieben und geschrieben und geschrieben. Als zweite Übung sollten sie dann ihre positiven Eigenschaften auflisten. Dabei sind die wenigsten über zwei, drei Zeilen hinausgekommen.

Ich muss zugeben, das hat mich doch etwas verblüfft. Und dann sollten alle an Menschen denken, die sie besonders schätzen und deren positive Eigenschaften notieren. Da haben alle wieder sehr viel geschrieben. Anschließend sollte sich jeder überlegen, ob er nicht die positiven Eigenschaften, die er in anderen sieht, selbst auch hat. Da mussten einige dann doch lachen, denn was sie an positiven Eigenschaften in anderen gesehen haben, waren tatsächlich ihre ureigenen Stärken. Es scheint für Menschen in unserem Kulturkreis leichter zu sein, bei anderen etwas Positives zu sehen als bei sich selbst. Das muss nicht bei allen so sein, aber bei der Mehrheit scheint es der Fall zu sein. Das ist wohl der Grund, weshalb dieser Vers im allgemeinen nicht in dieser Weise interpretiert wird.

Man könnte sich stattdessen auch abstrakt vorstellen, wie ein Geist beschaffen sein müsste, der vollkommen und jenseits von Verhaftungen und Leidenschaften wäre. Am leichtesten fällt es, sich einen Meister vorzustellen. Das ist greifbar, über ihn gibt es Bücher, Videos, oder es gibt Menschen, die über ihre Erfahrungen mit ihm berichten. Man kann sich sein Foto aufstellen, auf ihn meditieren, zu ihm beten, seine Gegenwart fühlen, über sein Leben und seine Vollkommenheit nachdenken. Das erhebt einen. Es erhebt einen deshalb, weil die gleiche Vollkommenheit, die dieser Meister hat, in uns selbst vorhanden ist. Weil sie in uns ist, erhebt es uns, wenn wir darüber nachdenken. Es inspiriert uns. Wir bekommen selbst eine kleine Ahnung, wie es sein könnte, wenn wir so wären.

38. Svapna-nidrâ-jnânâlambanam vâ    

svapna = Traumzustand; nidrâ = traumloser Schlaf; jnânâ = Wissen; –âlambanam = Unterstützung, das, worauf etwas beruht; vâ = auch

Oder durch Meditation über Wissen, das im Traum oder Tiefschlaf gewonnen wurde.

Manche Psychoanalytiker interpretieren diesen Vers dahingehend, dass Patanjali Traumdeutung betrieben habe und empfehlen, Träume aufzuschreiben und über sie zu meditieren. Es gibt auch ein Buch über Traumyoga von Sivananda Radha, in dem Traumarbeit als Teil des spirituellen Weges behandelt wird.

Eine zweite Interpretation wäre, dass manchmal während des Schlafes das Überbewusste enthüllt wird.

Man kann Träume haben von seinem Lehrer, seinem Guru. Mir geschieht es gelegentlich, dass ich einen Traum habe von Swami Vishnu Devananda oder Swami Sivananda. Zum Beispiel habe ich in den letzten Jahren im Traum ab und zu ein Mantra von Swami Vishnu erzählt bekommen, so dass ich endlich wusste, wie man es richtig ausspricht – beispielsweise das „Shri Rama Rama Rameti“-Mantra. Als ich noch in den Sivananda–Zentren war, wurde dieses Mantra dort nie gesungen. Aber ich hatte davon gehört und hätte immer gern gewusst, wie es richtig ausgesprochen wird. Irgendwann ist Swami Vishnu mir im Traum erschienen und hat das Mantra sehr klar gesungen. Kurz danach habe ich eine Kassette bekommen, auf der das Mantra ganz genau so gesungen wurde, wie ich es im Traum gehört hatte. Wenn man ein solches Mantra im Traum bekommt, kann man es zusätzlich zu seinem eigenen Mantra in der Meditation wiederholen.

Oder ich kenne Menschen, die ihr Mantra und ihre Mantraeinweihung tatsächlich im Traum bekommen haben und mich dann im nachhinein gefragt haben, ob es dieses Mantra gibt. Neben solchen, die ein authentisches Sanskrit-Mantra im Traum bekommen haben, waren darunter allerdings auch welche, die mit Sanskrit gar nichts zu tun hatten.

Und ich kenne Menschen, die beispielsweise Swami Sivananda im Traum gesehen haben, ohne dass sie jemals vorher ein Bild von ihm zu Gesicht bekamen. Vor kurzem war eine Frau als Gast hier im Ashram. Als sie das Bild von Sivananda sah, fragte sie: „Wer ist dieser Mann?“ Ich sagte: „Warum? Das ist Swami Sivananda.“ Und da fragte sie: „Den gibt es wirklich?“ In verschiedenen verzweifelten Momenten sei dieser Mann ihr im Traum erschienen und habe sie beschützt. Und sie finde es ganz wunderbar, dass es hier ein Haus gebe, das sein Haus sei.

Aber nicht alles, was wir im Traum sehen, hat eine Entsprechung in der Realität. Die Mehrheit dessen, was wir im Traum sehen, ist einfach nur eine Manifestation des Unterbewusstseins, irgendwelche Fantasien. Wir brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn wir im Traum jemanden umgebracht haben. Es kann sein, dass unsere Aggression noch nicht ganz transzendiert ist und wir sie deshalb auf diese Art ausleben. Auch wenn wir sexuelle Träume haben oder von andere Dingen träumen, die wir im Normalfall in dieser Art nicht erleben oder denken, brauchen wir uns deswegen keine Sorgen zu machen. Das Unterbewusstsein nimmt sich das, was es zum Ausgleich braucht und das ist ok.

In dem Maße, in dem wir spirituelle Praktiken machen, werden unsere Träume weniger und inhaltlich spiritueller. Aber diese Entwicklung hinkt oft ein paar Jahre hinterher. Wenn man viel meditiert und in einer reinen Umgebung lebt, braucht das Unterbewusstsein oftmals nicht so viel Zeit, um die Ereignisse des Tages zu verarbeiten und einzubauen, so dass man tiefer und mit weniger Träumen schläft.

Auch wie man fortgeschrittene Asanas macht, habe ich im Traum gelernt. Ich war früher sehr steif. Als ich seinerzeit meine Yogalehrer-Ausbildung bei Yogi Hari gemacht habe, hat er uns in der zweiten Kurshälfte ständig die fortgeschrittenen Stellungen vorgeführt. Vier oder fünf der Teilnehmer waren in der Lage, diese auch zu üben.

Daneben gab es einige, die sich bemüht haben, und mit mir zusammen gab es weitere fünf oder sechs, die gedacht haben, es gäbe vielleicht doch einen sinnvolleren Zeitvertreib als den anderen zuzuschauen, was die für tolle Übungen machen… – Gut, ganz so schlimm war es auch wieder nicht. Jedenfalls zu einem späteren Zeitpunkt – in der Zwischenzeit hatte ich viel geübt und auch Fortschritte gemacht – gab es niemanden, der mir die ganz fortgeschrittenen Übungen hätte zeigen können. Und die sind mir dann im Traum gekommen. Im Traum war ich auch wahnsinnig flexibel – ich war immer ganz erstaunt! In der Vorwärtsbeuge zum Beispiel kam das Kinn vor die Zehen und ich habe überlegt, ob das anatomisch überhaupt möglich ist … Im Traum ging das alles. Aber trotzdem habe ich dabei auch die Tricks gelernt, wie man dahin kommt. So kann man im Schlaf und im Traum durchaus einiges lernen. Und natürlich kann man über diese Trauminhalte auch meditieren.

Das ist das Lieblingsthema von Shri Karthikeyan, dem Meister aus dem Sivananda Ashram in Rishikesh, der zweimal im Jahr Vorträge bei uns hält. Er spricht häufig über die drei Haupt-Bewusstseinszustände: Wachzustand, Traumzustand und Tiefschlaf. Daran kann man eben die Relativität der Welt erkennen. Die physische Welt verschwindet im Traum. Im Traum ist nur die Traumwelt da. Im Tiefschlaf gibt es gar keine Welt. Wenn wir darüber meditieren, hilft es uns, diese physische Welt als sehr relativ anzusehen, zu erkennen, sie ist eigentlich nur eine Illusion, sie ist genauso unwirklich wie die Traumwirklichkeit. Wenn wir ganz aufwachen aus dieser Welt und im überbewussten Zustand sind, dann schauen wir zurück und erkennen, in was für einem Traum wir die ganze Zeit gefangen waren und wie furchtbar ernst wir ihn genommen haben, obwohl im Grunde genommen alles nur ein Spiel war. Auch darüber kann man meditieren.

Raja-Yoga- Yoga Asana

39. Yathâbhimata–dhyânâd vâ    

yatha = wie; âbhimata = gewünscht, angenehm; dhyânâd = durch Meditation; vâ = oder

Oder durch Meditation über das, was einem zusagt.

Das ist ein Generalvers, der aussagt, dass man im Grunde genommen über alles meditieren kann. Aber es sollte schon über etwas Sattwiges (Reines) sein – nicht über Schnitzel mit Pommes frites oder Abfalleimer!

Wir sollten uns an eine hauptsächliche Meditationstechnik halten, die wir mit anderen kombinieren können und gelegentlich können wir auch andere Techniken ausprobieren. Wer eine Mantra-Einweihung hat, wird typischerweise als Hauptmethode die Mantra-Meditation benutzen. Wenn man zweimal täglich meditiert, kann man einmal mit dem Mantra meditieren – damit die Energie des Mantras immer stärker wird, ist es notwendig, dass man es jeden Tag mindestens 20 Minuten lang wiederholt – und das zweite Mal kann man mit einer anderen Technik üben. Oder man kann die Meditation mit einer anderen Technik einleiten, wenn man merkt, dass es dem Geist zu monoton wird. Auch mit der Mantratechnik selbst gibt es verschiedene Möglichkeiten.

Man kann eigentlich alles mit dem Mantra verbinden. Swami Sivananda schreibt, wenn man über ein Mantra meditiert, soll man es verbinden mit der Bedeutung des Mantras, den Eigenschaften des Mantras. Wenn man also zum Beispiel „Om Namah Shivaya“ wiederholt, kann man dabei an reines Licht oder an Freundlichkeit, Wohlwollen und ähnliches denken. Oder man kann das Mantra in verschiedenster Art mit dem Atem verbinden. Man kann das Mantra entweder mit der Ein- und Ausatmung wiederholen, den Atem dabei fließen lassen, wie er von selbst will oder das Mantra verbinden mit Kevala Kumbhaka (natürliches Atemanhalten), wobei man sehr wenig Luft ein- und ausatmet. Wir können es verbinden mit innerem Klang und innerem Licht, dem wir mit dem Mantra folgen. Wir können das Mantra verbinden mit der Vorstellung des inneren Zustandes des Lichtes, welches jenseits von Leid ist oder wir können beim Rezitieren (auswendig hersagen) unseren Meister visualisieren. Und wenn wir gerade eine erhabene Intuition im Schlaf hatten, können wir natürlich auch darüber meditieren in Verbindung mit unserem Mantra.

Frage: Manchmal geht die Konzentration während der Meditation automatisch woanders hin als zum gewohnten Konzentrationspunkt. Soll man dann die Konzentration dort lassen oder zum Konzentrationspunkt zurückbringen?

Wenn die Konzentration automatisch woanders hingeht, kann man dabei bleiben, wenn dieser Punkt höher liegt als das Manipura Chakra (Nabelzentrum). Man muss nicht immer die exakt gleiche Meditation haben. Es sollte eine Grundtechnik geben, das ist typischerweise die Mantra-Meditation. Und wenn nichts Besonderes passiert, konzentriert man sich auf seinen üblichen Konzentrationspunkt im Ajna (Stirn, drittes Auge) oder Anahata Chakra (Herz). Wenn jetzt aber eine Meditation anders verläuft und die Konzentration sehr stark zu etwas anderem hinstrebt, dann lässt man es geschehen. Auch wenn man in der Mantrameditation ist und sich plötzlich ein erhabener Gemütszustand einstellt, so dass das Mantra von selbst wegfällt, lässt man das geschehen. Sollte die Konzentration von selbst in die untere Wirbelsäule gehen, kann man auch das zulassen. Man muss aber zum Schluss die Konzentration zu einem Punkt bringen, der höher ist als das Manipura Chakra (Nabel), so dass wir am Ende der Meditation nicht die ganze Energie in den niedrigen Chakras halten, sondern sie zum Anahata (Herz) oder Ajna Chakra (Stirn) bringen.

40. Paramânu-parama-mahattvânto `sya vashikârah    

parama = letztes, kleinstes; anu = Atom; parma = letztes, höchstes, größtes; mahattva = Größe, Unendlichkeit (maha = groß; tvânto = Sache); antaha = endend, sich erstreckend; asya = Sein eines Yogi; vashikârah = Meisterung, Meisterschaft

So dehnt sich die Meisterschaft eines Yogi vom kleinsten Atom bis zur Unendlichkeit aus.

Wenn wir meditieren, dann kommen wir zur Meisterschaft vom Kleinsten bis zum Größten, von der kleinsten Sache in unserem Leben bis zur größten im ganzen Kosmos. Das Kleinste ist unser Geist, das Größte ist das Universum.

Das ist ein relativ großer Sprung vom 39. zum 40. Vers, denn Patanjali geht jetzt wirklich wieder zurück zu Samadhi. Er hat ja eigentlich schon über Samadhi gesprochen. Dann hat er erzählt, was es für Hindernisse gibt und wie man sie überwindet. Wenn man das geschafft hat, kommt man zu Samadhi und damit zur Meisterschaft vom Kleinsten bis zum Größten.

Die nächsten Verse sind etwas kompliziert und technisch.

41. Kshîna-vritter abhijâtasyeva maner grahîtri-grahana-grâhyeshu tatstha-tadanjanatâ samâpattih     
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Kshîna-vritteh = von dem, dessen Gedankenwellen/Modifikationen der Psyche fast ganz vernichtet sind; abhijâtasya = transparent; iva = wie; maneh = Juwel, Kristall; grahîtri = der Erkennende, das Subjekt; grahana = Erkenntnis, Subjekt-Objekt-Beziehung; grâhyeshu = erkannte Objekte; tatstha = auf dem es ruht; tadanjanatâ = das Annehmen der Form oder Farbe von etwas anderem; samâpattih = Erfüllung, Verschmelzung

Für einen Menschen, der die Vrittis (Gedanken) durch Meditation kontrolliert hat, verschmelzen der Wahrnehmende, das Wahrgenommene und die Wahrnehmung, so wie ein Kristall die Farbe des Hintergrundes annimmt.

Darüber werden wir im Rahmen des 3. Kapitels mehr erfahren.

In höheren Zuständen des Bewusstseins ist unsere Wahrnehmung nicht mehr so stark durch den Geist gefiltert. Normalerweise, im normalen Bewusstsein, ist es so, dass man, wenn man etwas sieht, es wahrnimmt und anschließend darüber nachdenkt. Wahrnehmung ist dann ein Wechselspiel zwischen den äußeren Objekten und dem eigenen Geist. Den einen Menschen mag man, den anderen mag man nicht. Man sieht den Gesichtsausdruck eines Menschen und deutet ihn. Diese Deutung muss mit dem, was der Mensch eigentlich denkt und meint, gar nichts zu tun haben.

Wenn wir nun allerdings meditieren und die Vrittis kontrolliert sind, können wir zur höheren direkten Wahrnehmung kommen.

Unser Geist nimmt die Farbe des Hintergrundes an. Ein ganz reiner Kristall lässt die Farbe durchscheinen, wenn man ihn vor einen bestimmten Hintergrund stellt. Ein Rosenquarz dagegen wird dessen Farbe nicht rein wiedergeben. Und wieder andere Steine, zum Beispiel Malachit, der ganz grün ist, spiegeln den Hintergrund überhaupt nicht wieder, sie bleiben immer gleich in ihrer Farbe. So ist auch der Geist mancher Menschen sehr stark gefärbt. Egal was sie sehen, sie sehen eigentlich immer nur eine Projektion von sich selbst. Bei manchen ist der Geist etwas durchlässiger und nimmt eine Mischung aus der eigenen Vorstellung und dem Äußeren wahr. Wenn die Vrittis kontrolliert sind, können wir objektiver wahrnehmen.

Die Medienwissenschaft sagt, es gibt kein objektives Denken. Und das stimmt, es gibt kein objektives Denken. Aber nach Patanjali gibt es objektive Wahrnehmung. Das ist die direkte Wahrnehmung ohne Intellekt, ohne Vrittis (Gedanken), ohne Indriyas (Sinne). Wir können die Wirklichkeit unmittelbar wahrnehmen.

42. Tatra shabdârtha-jnâna-vikalpaih samkîrnâ savitarkâ    

tatra = da, in ihm; shabda = Wort; artha = wirkliche Bedeutung, wahres Wissen vom Objekt; jnâna = gewöhnliches Wissen aufgrund von Sinneswahrnehmung und Überlegung; vikalpaih = Zerstreutheit, Wechsel; samkîrna = verworren; savitarkâ = Samadhi mit Dualität

Savitarka Samadhi ist jener Zustand, in dem der Geist zwischen auf Worten beruhendem Wissen, wahrem Wissen und Wissen, das auf Sinneswahrnehmung oder Denken gegründet ist, abwechselt.

Wir hatten vorher bereits von Savitarka Samadhi als der Wahrnehmung der physischen Welt als Ganzes gesprochen. Und diese Wahrnehmung der physischen Welt als Ganzes geschieht abwechselnd und sich ergänzend durch Wissen, das auf Worten beruht, durch Sinneswahrnehmung, durch Denken, und zwischendurch auch durch wahres, intuitives, direktes Wissen. Eigentlich ist es noch nicht Samadhi, sondern nur der Savitarka-Zustand, den Patanjali hier beschreibt.

43. Smriti-parishuddhau svarûpa-shûnyevârtha-mâtra-nirbhâsâ nirvitarkâ    

smriti = Gedächtnis; parishuddhau = bei Klärung; svarûpa = eigene Natur; shûnya = ohne; iva = als ob; artha = Objekt; wahres Wissen über das Objekt; mâtra = nur; nirbhâsâ = erscheinend, erstrahlend; nirvitarkâ = Samadhi (überbewusster Zustand) ohne Dualität, Bewusstsein der Einheit

Nirvitarka Samadhi ist der Zustand, in dem die Erinnerung geläutert wird und der Geist, bar der Subjektivität, wahres Wissen reflektiert.

Nirvitarka ist der Zustand, wo wir über die Ganzheit der Schöpfung meditieren. Das geht nur, wenn es keine Worte und kein Nachdenken mehr gibt, keine kompetente Zeugenaussage – es gibt einfach nur die direkte Wahrnehmung und damit kommt wahres Wissen.

Der Übergang von Savitarka zu Nirvitarka geschieht also dann, wenn wir aufhören zu denken und tatsächlich die ganze Welt als eine Einheit wahrnehmen.

44. Etayaiva savichârâ nirvichârâ cha sûkshmavishayâ vyâkhyâtâ    

etayâ = durch dieses; eva = sogar; savichârâ = Samadhi (überbewusster Zustand) mit Dualität, mit Unterscheidung und Nachdenken; nirvichârâ = Samadhi ohne Dualität, Einheitsbewusstsein; cha = und; sukshmavishayâ = überbewusster Zustand, der noch subtilere Gegenstände einbezieht; vyâkhyâtâ = beschrieben, erklärt.

Durch dies, was in den vorhergehenden zwei Sutras erklärt wurde, ist Samadhi mit Fragestellung, Samadhi ohne Fragestellung und das, was noch subtiler ist, erklärt.

Savichara ist die Meditation über das kosmische Gemüt, solange sie noch mit bewusstem Nachdenken und diesem Wechsel zwischen auf Worten beruhendem Wissen, wahrem Wissen und auf Sinneswahrnehmung und Denken gegründetem Wissen verbunden ist. Solange diese Wahrnehmungszustände abwechseln, befinden wir uns in Savichara.

Wenn das aufhört und wir tatsächlich das kosmische Gemüt als Ganzes unmittelbar wahrnehmen, dann ist es Nirvichara.

Und dann gibt es natürlich noch zwei subtilere Zustände, Sananda und Sasmita.

45. Sûkshma-vishayatvam châlinga-paryavasânam    

Sûkshma-vishayatvam = der Samadhi-Zustand, der sich mit subtileren Objekten befasst; cha = und; alinga = das letzte Stadium der Gunas, der drei Eigenschaften der Natur; paryavasânam = sich erstreckend

Der Zustand des Samadhi, der sich mit subtilen (zarten, feinen; spitzfindigen, scharfsinnigen) Objekten beschäftigt, dehnt sich so weit aus wie der unmanifestierte (unsichtbare, nicht wahrnehmbare) Zustand.

Mit subtileren Objekten, sûkshma-vishayatvam, können wir in die höheren Samadhi-Stufen Sananda und Sasmita gelangen. Unser Geist dehnt sich dann so weit aus wie der unmanifestierte Zustand, und wir erleben das unmanifestierte Ego, das unendlich ist.

46. Tâ eva sabîjah samâdhih    

tâ = jene; eva = nur; saîjah = mit „Samen“ oder mit Objekt; samâdhih = Samadhi, überbewusster Zustand

Alle diese bilden Meditation mit Samen.

Das ist noch nicht die letztliche Befreiung.

47. Nirvichâra–vaishâradye ’dhyâtma–prasâdah    

Nirvichâra = Samadhi ohne Fragestellung; vaishâradye = durch Verfeinerung, durch Erlangen höchster Reinheit; adhyâtma = geistig; prasâdah = Helligkeit, Klarheit

Erreicht man äußerste Reinheit im Samadhi ohne Fragestellung, dämmert Erleuchtung.

Wenn wir so weit sind, dass wir zu Nirvichara kommen, dämmert die Erleuchtung. Es ist noch nicht die vollständige Erleuchtung, aber sie beginnt in diesem Stadium allmählich.

48. Ritambharâ tatra prajnâ    

Ritambharâ = das Wahre, Rechte bergend; tatra = da; prajnâ = höheres Bewusstseinsstadium

Das Wissen, das in diesem Zustand erlangt wird, ist absolute Wahrheit.

In Nirvichara, wo wir in die subtilste (zart, fein, scharfsinnig) Essenz des Universums hineingehen und damit verschmelzen, nehmen wir tatsächlich direkte Wahrheit, prajna, wahr. Es ist keine relative Wahrheit mehr, sondern direktes Bewusstwerden der Wahrheit. Trotzdem ist es noch nicht das Unendliche.

49. Shrutânumâna-prajnâbhyâm anya-vishayâ visheshârthatvât    

shruta = Gehörtes, Enthüllung; anumâna = Schlussfolgerung; prajnâbhyâm = von zwei Zuständen des höheren Bewusstseins; anya-vishayâ = einen anderen Inhalt habend; visheshârthatvât = weil es ein besonderes Objekt hat

Wissen, das aus Folgerung und Zeugnis erlangt wurde, ist dem Wissen, das in höheren Zuständen des Bewusstseins erlangt wurde nicht gleich, denn es ist auf ein bestimmtes Objekt gerichtet.

Wie bereits erwähnt, gibt es drei Ursachen des Wissens, nämlich direkte Wahrnehmung, kompetente Zeugenaussage und logische Schlussfolgerung.

Hier sagt Patanjali, die höchste direkte Wahrnehmung geschieht in Nirvichara Samadhi. Wenn wir Nirvichara Samadhi erreichen, erlangen wir Wissen über alles. Das Wissen dagegen, das wir aus Schlussfolgerung und Zeugnis haben, ist nur auf ein bestimmtes Objekt gerichtet und außerdem irrtumbehaftet.

50.  Taj-jah samskâro ’nya-samskâra-prati-bandhî    

Taj-jah = aus ihm geboren; samskârah = Eindruck; anya = von anderen; samskâra = Eindrücke; prati-bandhî = Verhinderer; das, was im Weg steht

Das Resultat dieses Wissens ist, dass diese Samskaras (Eindrücke, Fähigkeiten, Begabungen) alle anderen ersetzen.

Manche Eindrücke im Unterbewusstsein beziehen sich auf bestimmte Fähigkeiten und Möglichkeiten. Manche Menschen sind musikalisch, andere haben eine besondere handwerkliche, mathematische oder schriftstellerische Begabung, natürliche Menschenkenntnis oder Führungsfähigkeiten, mit denen sie schon auf die Welt gekommen sind, also angeborene Samskaras.

Andererseits sind Samskaras auch Wünsche und Neigungen. Oft ergänzen sich Fähigkeiten und Neigungen, aber nicht immer. Manche Kinder mögen zum Beispiel von klein auf eine Farbe mehr als andere, manche mögen dieses, andere jenes lieber. Manche Menschen können etwas ganz gut, haben aber keine Lust dazu, sondern wollen gerne etwas anderes machen.

Es gibt auch Menschen mit alten Yoga-Samskaras. Sie fangen aus irgendwelchen eigenartigen Gründen an, einen Yogakurs zu machen – weil ein Freund, eine Freundin sie mitschleppt, weil sie zufällig ein Buch darüber sehen, weil sie sich gestreßt fühlen oder Rückenschmerzen haben, weil sie einfach mal etwas Neues ausprobieren möchten oder jemand ihnen erzählt hat, wie toll Yoga ist – und dann gefällt es ihnen so gut, sie wollen einfach mehr machen. Swami Vishnu hat gesagt: Wer in diesem Eisernen Zeitalter ein spirituelles Leben wirklich konsequent leben kann, der muss schon tiefe spirituelle Samskaras haben, der muss schon in einigen Leben vorher ab und zu mal Yoga geübt haben! Und wenn die Zeit reif ist, drücken sich diese Samskaras von selbst aus.

Nun kann man natürlich fragen: Wenn das so ist, warum passiert es mir dann erst jetzt mit 35 oder 40 Jahren oder noch später, dass ich anfange, Yoga zu üben? – Das kommt daher, dass man aus früheren Leben auch noch irgendwelche anderen Samskaras hat, Wünsche oder Neigungen, die man nicht ausgelebt und daher bedauert hat. Vielleicht hat man in seinem früheren Leben gedacht: „Jetzt habe ich 20 Jahre oder mehr geübt, aber ein paar andere Sachen habe ich verpasst.“ Wenn man diese Vorstellung hatte, dann wird man eben im gegenwärtigen Leben erst all diese Sachen ausleben und vielleicht erst mit 40, 50, 60 Jahren oder sogar noch später zum Yoga kommen. Aber dann geht es in der Regel recht schnell und konsequent, das Leben wird sich recht zügig umwandeln, eben wegen dieser bereits vorhandenen Eindrücke.

Natürlich sind unsere Samskaras nicht nur vom letzten Leben abhängig, sondern sie werden auch in diesem Leben weitergeprägt – durch unsere Erziehung, unsere Eltern, unsere Klassenkameraden, unsere Lehrer und durch das, was wir bewusst im Leben tun.

Wir können unsere Samskaras ändern. Ein großer Teil des spirituellen Fortschritts besteht darin, seine Samskaras Schritt für Schritt zu verändern. Das ist einer der Gründe, warum das spirituelle Wachstum so lange dauert. In unserem Unterbewusstsein ist so viel gespeichert – Ärger, Eifersucht, Angst, Selbstsucht, Gier, Zorn, Neid, Hass – all das müssen wir Schritt für Schritt umwandeln. Das geht nicht von heute auf morgen, sondern dauert seine Zeit. Yoga gibt uns Techniken, wie wir bewusst daran arbeiten können. Wir müssen positive Denkgewohnheiten schaffen, unser Unterbewusstsein Schritt für Schritt transformieren.

Auch die ganzen Wünsche, die wir noch haben, prägen uns und unser Leben. Es heißt, dass jeder Wunsch auf irgendeine Art und Weise erfüllt werden muss. Wenn der Wunsch klein ist, kann er auch manchmal im Traum erfüllt werden. Andere können in der Zeit zwischen zwei Leben erfüllt werden. Und wieder andere müssen sich auf der physischen Ebene manifestieren. Es ist also wichtig, aufzupassen, welche Wünsche man kultiviert, welche man in sich stark werden lässt. All das hält uns ab, zur Wahrheit zu kommen.

Man kann sagen, es gibt drei Dinge, die unseren spirituellen Fortschritt verlangsamen:

Das eine sind Samskaras (Eindrücke, Wünsche, Verhaftungen), das zweite ist Karma (negative Eigenschaften, negative Geschehnisse aus dem jetzigen Leben) und das dritte ist Mangel an Ojas, spiritueller Energie.

Unseren Geist auf eine höhere Ebene zu bringen, zu Samadhi (überbewusster Zustand), braucht sehr viel Ojas, das wir durch systematische spirituelle Praxis und Sublimierung (Umwandlung, Läuterung) aller anderen Energien erst ansammeln müssen.

Da sind erst einmal die Grundenergien Prana (Lebensenergie), Apana (der nach innen kommenden Atem, die nach unten gehende Energie), Samana (Verdauung), Udana (Energiezentrum in der Kehle), Vyana (verantwortlich für den Blutkreislauf) als Manifestationen des Pranas. Durch systematische Praktiken sublimieren wir diese.

Aber auch Wünsche können wir durch Nichterfüllung sublimieren. Und auch andere Impulse und Emotionen können wir sublimieren in spirituelle Energie umwandeln, indem wir ihnen nicht nachgeben.

Und dann natürlich Karma. Wir haben verschiedene Sachen auszuarbeiten, verschiedene Lektionen zu lernen. Solange wir noch sehr viel Karma haben, wird auch die Selbstverwirklichung auf sich warten lassen. Trotzdem heißt es:  Wenn es uns trotz allen Karmas doch irgendwie gelingt, zu Samadhi zu kommen, dann werden die Eindrücke von Samadhi so stark sein, dass sie alle anderen Eindrücke ersetzen. Eine tiefe spirituelle Erfahrung wird dann so stark, dass vieles andere abgeschwächt wird und keine so große Rolle mehr spielt.

Wenn man eine große Vision, eine tiefe Meditationserfahrung hat und sich dabei dem Unendlichen, Gott, dem Meister sehr nahe oder verbunden fühlt, dann wird das mit einem Schlag stärker als alles andere. Natürlich können anschließend die anderen Wünsche und Samskaras (Eindrücke) auch wieder wachsen, wenn wir sie füttern oder sie können noch kleiner werden, wenn wir uns bewusst mehr spirituell orientieren. Wir müssen also auch nach einer solchen Erfahrung wachsam sein und unsere spirituelle Praxis diszipliniert weiterführen.

Deshalb kann man sagen, der spirituelle Weg ist eine Mischung aus schrittweiser Arbeit und plötzlicher Gnade.

Wir arbeiten ganz langsam, ändern, ersetzen einen negativen Gedanken durch einen positiven, eine negative Eigenschaft durch eine positive, alles Schritt für Schritt. Es gibt Rückfälle, wir fallen in alte Gewohnheiten zurück, müssen uns täglich neu motivieren und überwinden. Und plötzlich gibt es eines Tages eine wunderschöne Meditation oder ein tiefgehendes Pranayama und mit einem Schlag sind all die Schwierigkeiten erst einmal verschwunden.

Das Resultat von höheren Bewusstseinszuständen ist, dass sie die Samskaras ersetzen. Und das ist auch ein Kriterium, um zu beurteilen, ob eine Erfahrung wirklich Samadhi war oder nicht. War es Samadhi, dann ändert dieses Erleben etwas Grundlegendes in uns. Wir sind nicht mehr so wie vorher, unser Denken, Fühlen, Wollen, Mögen und Wünschen ist ein anderes.

51. Tasyâpi nirodhe sarva-nirodhân nirbîjah samâdhih    

tasya = von dem; api = auch; nirodhe = bei Unterdrückung, Unterlassung; sarva = (von) allen; ni-rodhât = durch Unterdrückung; nirbîjah = samenlos, subjektiv; samâdhih = überbewusster Zustand

Wird auch dieses gezügelt, tritt man in den samenlosen Zustand des Samadhi ein.

Werden die bewusststeinszustände von Nirvichara, Sananda und Sasmita Samadhi überwunden, werden auch sie zu Nirodha, dann hört alles auf (sarva–nirodhân) und wir kommen zu Nirbijah Samadhi, zum Samadhi ohne Samen. Das ist das gleiche wie Asamprajnata Samadhi. Und dann sind wir selbstverwirklicht.

Eigentlich könnte man hier aufhören. Das erste Kapitel enthält auf gewisse Weise schon alles.

Um es nochmals zusammenzufassen:

Patanjali beginnt im ersten Kapitel damit, zu erklären, was Yoga ist.

Yoga ist das Zur-Ruhe-Kommen der Gedanken im Geist. Dann ruht man in seinem wahren Wesen.

Wenn wir nicht in unserem wahren Wesen sind, identifizieren wir uns mit den Vrittis (Gedankenwellen).

Es gibt fünf Arten von Vrittis (1. korrektes Wissen, 2. irriges Verstehen, 3. Wortirrtum, 4. Schlaf und 5. Erinnerung). Einige sind schmerzhaft, andere nicht. Dann zählt er die Arten von Vrittis auf. Anschließend erklärt er uns, wie wir sie beherrschen können, nämlich durch Abhyasa (Übung) und Vairagya (Leidenschaftslosigkeit).

Wenn wir unsere Vrittis beherrschen, kommen wir zu Samadhi. Und er fährt fort, indem er zunächst definiert, was Samadhi überhaupt ist und erklärt dann die verschiedenen Arten und Stufen.

Manche Menschen erreichen die Befreiung recht zügig, weil sie in einem früheren Leben schon sehr weit waren oder weil sie schon in früheren Leben hohe Samadhi-Stufen erreicht haben, die Verschmelzung mit Prakriti (Natur, Substanz, Universum) oder den körperlosen Zustand. Andere hingegen bemühen sich in diesem Leben durch verschiedene Praktiken.

Es gibt mehrere Voraussetzungen, die auf dem spirituellen Weg notwendig sind. Wir müssen Energie hineinstecken, brauchen also Energie. Wir brauchen Glauben, Vertrauen, ein waches Bewusstsein und wir müssen uns immer wieder die spirituellen Wahrheiten und Techniken in Erinnerung rufen.

Die Verwirklichung kommt schnell, wenn der Wunsch danach stark ist. Der Wunsch nach Befreiung kann stark, mittel oder schwach sein.

Der Erfolg kommt auch schnell für jene, die Ishwara (Gott) hingegeben sind. Verehrung Gottes, Bhakti Yoga (Hingabe an Gott), führt sehr schnell zur Verwirklichung.

Dann gibt Patanjali eine allgemeine Beschreibung, wie wir uns Ishwara vorstellen müssen, damit wir befreit werden. Ishwara ist das spezifische Zentrum von Bewusstsein, welches frei ist von Karma, von Wünschen und von Leid. Ishwara ist der Lehrer aller Lehrer. Er enthüllt sich in dem Wort „Om“.

„Om“ gibt uns eine erleuchtete Innenschau und beseitigt alle Hindernisse.

Darauf folgt eine Aufzählung aller Hindernisse und anschließend nennt er die Techniken, diese Hindernisse zu beseitigen.

Dann spricht er nochmals über die einzelnen Samadhi-Formen und zum Schluss sind wir bei Nirbijah Samadhi. Irgendwann kommen wir alle zu Nirbijah Samadhi, aber es ist nicht gesagt, dass wir es in diesem Leben erreichen.

Im engeren Kreis seiner Schüler hat Swami Vishnu uns manchmal gesagt, wir sollen nicht die Illusion haben, dass der spirituelle Weg im fortgeschrittenen Stadium leichter wird. Wenn man auf den ersten Stufen steht und fällt, dann ist es nicht so schlimm. Wenn man auf einer Leiter die untersten Sprossen erklommen hat und dann herunterfällt, macht es nichts. Aber wenn man auf einer langen Leiter ganz oben ist, ausrutscht und stürzt, dann ist es unschön. Je höher wir kommen, desto größer sind die Versuchungen und desto größer sind die Aufgaben. Natürlich ist auch die Wonne, die wir in der Meditation und im Leben erfahren, umso größer. Aber es wird nicht leichter.

Für sehr fortgeschrittene Aspiranten reicht das erste Kapitel aus, denn es enthält im Kern alles. Es ist sehr anspruchsvoll. Die Hälfte handelt von Samadhi, die andere Hälfte davon, wie die Hindernisse dorthin zu beseitigen sind.

Andere Aspiranten, zu denen wir alle gehören, müssen auch noch die restlichen Kapitel behandeln. Dort wird es nämlich sehr viel leichter. Das zweite Kapitel ist einfacher, konkreter und daher für den normalen Durchschnittsaspiranten geeigneter.

Frage: Wie sieht das aus, wenn jemand in Samadhi ist?

Antwort: Wir dürfen das nicht zu sehr an Äußerlichkeiten festmachen. Typischerweise beurteilen wir alles nach dem äußeren Anschein.

Arjuna fragt Krishna ja auch im 2. Kapitel der Bhagavad Gita: „Wie sieht ein Mensch aus, der die Verwirklichung erreicht hat? Wie geht er, wie ist er, wie steht er, wie spricht er?“ Krishna geht darauf überhaupt nicht ein. Er sagt stattdessen nur: Ein Selbstverwirklichter ist gleichmütig in Erfolg und Misserfolg. Er empfindet Liebe zu allen Wesen. Er ist in der Gegenwart des Höchsten. Äußere Kennzeichen gibt Krishna gar nicht an.

Aber ich kann euch etwas aus meiner persönlichen Erfahrung mit Swami Vishnu erzählen. Wenn er öffentlich meditiert hat, hat er sich bemüht, nicht in Samadhi zu fallen. Er hat dann auch nur kurz meditiert, bis zu einer halben Stunde. Denn in Samadhi ist man zu sehr von der Außenwelt weg. Normalerweise hat er zwischen drei und fünf Uhr morgens meditiert und dann war er allein. Aber wenn man in der Nähe von ihm war, hat man das gemerkt. Als ich einmal eine Weile in demselben Häuschen wohnte, in dem er auch war, bin ich immer um drei Uhr aufgewacht und konnte gar nicht anders als zu meditieren. Oder wenn man im selben Zimmer war wie er, merkte man die starke Schwingung, die von ihm ausging.

Ich kann mich an ein Ereignis während unserer fortgeschrittenen Lehrerausbildung erinnern. Es war, glaube ich, an Swami Sivanandas Geburtstag. Aus diesem Anlass haben wir ein Schauspiel aufgeführt, wo wir ein paar Szenen aus dem Leben von Swami Sivananda gespielt haben. Swami Vishnu hat zuerst zugeschaut, uns immer wieder gelobt, wie gut die Szenen seien und plötzlich hat er nichts mehr gesagt. Er saß nur einfach da, vollkommen bewegungslos. Nichts hat sich bewegt, nur ein Lächeln lag über seinem Gesichtsausdruck und so blieb er. Wir wussten erst nicht, wie wir uns jetzt verhalten sollten.

Schließlich haben wir das Stück einfach weitergespielt – er hat sich davon auch nicht weiter stören lassen. Als das Stück zu Ende war, haben wir gemeinsam Om gesagt. Wer schlafen gehen wollte, ist gegangen und ein paar sind noch eine Weile bei Swami Vishnu geblieben. Die Schwingung ist zwar gleich hoch geblieben, aber irgendwann wurde der Geist trotzdem müde; außerdem ging es am nächsten Morgen recht früh wieder weiter, so dass irgendwann einer nach dem anderen ging und dann saß er halt alleine da. So ist Samadhi.

Samadhi selbst kann man nicht beschreiben. Es ist Sat-Chit-Ananda, reines Sein, Wissen und Glückseligkeit.

Die niederen Samadhi-Stufen sind noch verbunden mit irgendwelchen Wahrnehmungen, konkreten Gefühlen, aber in den höheren Stufen gibt es nichts mehr, was man auch nur andeutungsweise beschreiben kann.

Die Kundalini entwickelt sich parallel damit. Wenn man in Samadhi ist, ist auch das Prana sehr hoch, aber man ist sich dessen nicht mehr bewusst. Die Gehirnwellen sind in einem spezifischen Zustand, aber man ist sich keiner Gehirnwellen bewusst. Der Herzschlag setzt fast aus, aber man ist sich keines Herzschlages bewusst. Der Körper wird vollkommen bewegungslos, aber man spürt keinen Körper.

Es gibt also Korrelationen auf der physischen und energetischen Ebene, aber das Bewusstsein ist davon abgehoben. Das Bewusstsein ist eben nicht mehr im individuellen Körper und in der individuellen Energie. Auch individuelle Emotionen, Gefühle, Wahrnehmungen, Sichtweisen sind nicht mehr da, weil das Bewusstsein in dieser Form von vollständigem Samadhi, wo wir uns auf das Kosmische als Ganzes konzentrieren, nichts Individuelles mehr erfasst.

Wie wir noch sehen werden, gibt Patanjali uns im 3. Kapitel Formen von Samadhi an, bei denen wir uns auf eine konkrete Sache konzentrieren.

Frage: Wenn man Videos sieht von Heiligen, Selbstverwirklichten, dann hat man den Eindruck, dass sie sich oft in einem entrückten Zustand befinden. Man hat das Gefühl, sie sind nur halb hier. Was ist das für ein Zustand oder was ist der Grund dafür? Auch wenn sie durch die Gegend gehen und dabei die Augen offen haben, schweben sie irgendwie in den Wolken.

Es gibt auch bei uns Mitarbeiter, die teilweise in den Wolken schweben. Aber es gibt einen Unterschied zwischen ihnen und großen Meistern. Die Meister haben das sogenannte Doppelbewusstsein. Das heißt, sie haben das Bewusstsein für das Unendliche und das Bewusstsein für die Welt gleichzeitig. Sie sind entrückt und es kann sein, dass sie ständig in einem höheren Bewusstseinszustand bleiben und auf dieser Erde gar nicht mehr so richtig landen. Zum Beispiel wenn man die Bilder von Anandamahi Ma oder von Ramana Maharshi sieht, würde man sie in Padarthabhavani (Zustand des lebendig Befreiten) einstufen, die sechste Stufe der sieben Bhumikas, (sieben Stufen der Erkenntnis). In diesem Zustand existieren äußere Dinge nicht mehr für sie. Sie handeln nicht mehr aus eigenem Antrieb, sondern erfüllen nur noch Aufgaben, die ihnen von anderen auferlegt werden. Während andere Meister, zu denen auch Swami Sivananada lange Zeit gehörte, vollen Zugang zum Überbewusstsein haben, aber gleichzeitig auch vollen Zugang zur physischen Welt.

Da gibt es eine lustige Geschichte. Eines Tages kam eine Frau in den Ashram in Rishikesh und wollte gerne Swami Sivananda sehen. Man hat sie ins Büro geschickt und gesagt, dort würde sie ihn treffen. Im Büro saß jemand an der Schreibmaschine. Als er sie sah, hat er angefangen, sich mit ihr zu unterhalten. Er hat sie gefragt, wie es ihr geht, was sie macht, wie lange sie auf dem spirituellen Weg ist usw. Nach der Unterhaltung kam sie wieder heraus und fragte: „Da war kein Swami Sivananda, wo ist er denn?“ Und die anderen sagten: „Ja, du kommst doch gerade von ihm, du hast dich doch mit ihm unterhalten.“ „Was, das ist der Meister Sivananda? Ich dachte, dass sei der Manager hier.“ Aber sie hat natürlich schon gemerkt, dass eine besondere Ausstrahlung von ihm ausging. Sie ist dann noch einmal hineingegangen und hat sich vor ihm verneigt.

Swami Sivananda war nicht so entrückt – was für einen spirituellen Schüler praktischer ist, meine ich. Das merkt man auch daran, wie unterschiedlich die Ashrams sind. In den Ashrams von Anandamahi Ma und Ramana Maharshi wurde sogar die Kastentrennung aufrechterhalten. Lange Zeit durften Westler nicht im Ashram essen, weil sie als unrein galten. Die Meister sind entrückt, sind einfach da und strahlen Wonne aus, aber sie achten nicht darauf, was um sie herum passiert. Wie ihre Schüler den Ashram führen, interessiert sie gar nicht.

In den Ashrams von Meistern wie Swami Sivananda oder Mahatma Ghandi wurde hingegen als erstes die Kastentrennung aufgehoben und es wurden auch keine Religionsunterschiede gemacht. Swami Sivananda achtete darauf, dass alles im Ashram diesen spirituellen Prinzipien entsprach – soweit es natürlich möglich war. Letztlich hatte er auch die Weitsicht zu erkennen, dass die Menschen unvollkommen sind und dass auf der physischen Ebene nichts tatsächlich vollkommen sein kann. Swami Sivananda konnte sehr, sehr praktisch sein. Aber es gibt auch Bilder von ihm, wo er offensichtlich entrückt auf einer Samadhi-Ebene ist. Dasselbe gilt für Swami Vishnu.

Frage: Haben sie sich durch eine bewusste Anstrengung von einem Zustand in den anderen versetzt? Oder ging das einfach so?

Das passiert einfach so. Ein großer Meister macht keine bewusste Anstrengung mehr für irgendetwas. Es geschieht. Es ist nicht so, dass er jetzt die Wahl hat, sich zu überlegen: Soll ich nur noch transzendent sein oder mehr auf der physischen Ebene bleiben? Denn dieses Ego, das überlegt und entscheidet, ist nicht mehr da. Es geschieht das, was geschehen soll, sowohl aus eigenem Karma heraus als auch als Instrument des Göttlichen. Und verschiedene Meister haben durchaus verschiedene Aufgaben.

Wenn man als spiritueller Aspirant zu schnell zu subtil (zart, fein, scharfsinnig) wird und die Bodenhaftung verliert, ist das nicht so gut. Denn dann entgeht man einigen Problemen, die man eigentlich bewältigen und aufarbeiten müsste. Deshalb ist auch Karma Yoga, der selbstlose Dienst, das Handeln und Arbeiten ohne Erwartung, so wichtig. Und es ist wichtig, an den Samskaras (Eindrücken, Verhaftungen) zu arbeiten. Wenn man sich dauerhaft in einem Schwebezustand befindet, bevor man an den Samskaras gearbeitet hat, dann heiligt man nur sein Ego, statt es zu transzendieren und rettet seine Unvollkommenheiten in einen subtilen Schwärmzustand.

 

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