Skip to content

1. Kapitel:: Samadhi Pada – Theorie des Geistes2. Kapitel: Sadhana Pada – Spirituelle Praxis3. Kapitel: Vibhuti Pada – Außergewöhnliche Kräfte – 4. Kapitel: Kaivalya Pada – Befreiung – Anhang


Viertes Kapitel : Kaivalya Pada – Befreiung

Einführung
1. Janmaushadhi-mantra-tapah-samâdhi jâh siddhayah
2. Jâty-antara-parinâmah prakrity-âpûrât
3. Nimittam aprayojakam prakritînâm varana-bhedas
4. Nirmâna-chittâny asmitâ-mâtrât
5. Pravritti–bhede prayojakam chittam ekam
6. Tatra dhyânajam anâshayam
7. Karmâshuklâkrishnam yoginas tri-vidham
8. Tatas tad-vipâkânugunânâm evâbhi-vyaktir
9. Jâti-esha-kâla-vyavahitânâm apy ânantaryam
10. Tâsâm anâditvam châshisho nityatvât
11. Hetu-phalâshrâyalambanaih samgrihîtatvâd eshâm
12. Atîtânâgatam svarûpato ¢sty adhva-bhedâd
13. Te vyakta-sûkshmah gunatmânah
14. Parinâmaikatvâd vastu-tattvam
15. Vastu-sâmye chitta-bhedât tayor vibhaktah
16. Na chaika-chitta-tantram vastu tad-apramânakam
17. Tad-uparâgâpekshitvâch chittasya vastu
18. Sada jnâtash chitta-vrittayas tat-prabhoh
19. Na tat svâbhâsam drishyatvât
20. Eka-samaye chobhayânavadhâranam
21. Chittântara-drishye buddhi-buddher
22. Citer apratisamkramâyâs tad-âkârâpattau
23. Drastri-drishyoparaktam chittam sarâartham
24. Tad asamkhyeya-vâsanâbhish chitram api
25. Vishesha-darshina
26. Tadâ hi viveka-nimnam kaivalya-prâgbhâram
27. Tach-chhidreshu pratyayântarâni samskârebhyah
28. Hânam eshâm kleshavad uktam
29. Prasamkhyâne ¢py akusîdasya sarvathâ
30. Tatah klesha-karma-nivrittih
31. Tadâ sarvâvarana-malâpetasya jnânasyâ-nantyâj
32. Tatah kritârthânâm parinâma-krama-samâptir
33. Kshana-pratiyogî parinâmâparânta-nigrâhyah
34. Purushârtha-shûnyânâm gunânâm pratiprasavah

Einführung

Das dritte Kapitel hat schon mit der Befreiung geendet und eigentlich beschreibt jedes Kapitel irgendwo die Befreiung sowie Mittel und Wege, sie zu erreichen. Denn Patanjali hält sich nicht ganz an sein Schema, nachdem er im ersten Kapitel Samadhi Pada, die Theorie des Geistes, im zweiten Kapitel Sadhana Pada, die spirituelle Praxis, im dritten Kapitel Vibhudi Pada, die verschiedenen höheren Kräfte des Geistes und im vierten Kapitel Kaivalya, die Befreiung, behandeln will. Er beschreibt eigentlich in jedem Kapitel, was Befreiung ist und verschiedene Techniken, wie man dorthin kommt.

1. Janmaushadhi-mantra-tapah-samâdhi jâh siddhayah   

Janma = Geburt; aushadhi = Drogen; mantra = Mantra, Sanskritwort oder -wortgruppe mit besonderem Klang und besonderer Wirkung; tapah = Askese, Selbstzucht; samâdhi = überbewusster Zustand; -jah= entstanden durch; siddhayah = übernatürliche Fähigkeiten

Siddhis werden als Ergebnis der Geburt, durch medizinische Kräuter, Mantras, Übungen der Selbstzucht oder Samadhi erlangt.

Den ersten Vers haben wir schon behandelt (3. Kapitel, Vers 15).

Übernatürliche Kräfte kann man nicht nur durch spirituellen Fortschritt erlangen, sondern auch auf anderen Wegen.

Wenn jemand übernatürliche Kräfte zur Schau stellt, kann man zuerst einmal überprüfen, ob er irgendeinen Zaubertrick anwendet. Vieles, was als übernatürlich erscheint, beruht einfach nur auf Taschenspieler- und Schauspielertricks. Swami Vishnu hatte als Jugendlicher das Hobby, den Trick hinter angeblichen übernatürlichen Kräften von Menschen herauszufinden. Als Jugendlicher war er ein großer Skeptiker, der von Spiritualität, Heiligen usw. wenig gehalten hat. Denn es gibt in Indien sehr viele Pseudomeister und Pseudoheilige – und nicht nur in Indien.

Einmal sah er unterwegs, wie jemand auf dem Rücken auf dem Boden lag und einen riesigen Stein auf dem Bauch trug. Alle dachten, das muss ein großer Heiliger sein, haben sich verneigt und ihm Geld gegeben. Swami Vishnu hat sich überlegt: Wie ist das möglich? Und er dachte: Irgendwann muss der ja mal aufs Klo gehen. Ich warte hier einfach lang genug. Gegen Abend kamen Schüler von dem Heiligen, die den Weg absperren wollten. Aber Swami Vishnu weigerte sich, wegzugehen. Es wurde immer später und irgendwann fragte der Mann, der dort lag: „Du willst jetzt nicht gehen?“ Swami Vishnu antwortete: „Nicht, bevor ich deinen Trick herausgefunden habe.“ – was ja an sich schon eine Anmaßung ist, jemandem, der als heilig gilt, einen Trick zu unterstellen! Daraufhin fragte der Mann: „Wieviel Geld hast du dabei?“ „Ja, so ein paar Paisas“ „Gut, gib sie mir, dann zeige ich es dir“. Swami Vishnu gab ihm seine paar Münzen. Der Mann öffnete seine Beine. Zwischen den Oberschenkeln lag ein kleinerer Stein, auf dem der riesige Felsblock so lag, dass es ausgesehen hatte, als ob der Fels auf seinem Oberschenkel und Bauch ruhen würde. Bei solchen Dingen muss man also durchaus kritisch sein.

Zur Zeit gibt es ja auch eine Frau, von der Zeitschriften häufig berichten, die propagiert, wochenlang nichts mehr zu essen und von der alle meinen, sie würde ohne Nahrung leben. In Interviews sagt sie selbst, dass sie ab und zu Schokolade isst und Tee mit Zucker und Milch trinkt. Ich selbst habe sie nicht gesehen, aber man hat mir erzählt, ihre Freunde hätten zum Teil bleibende Nierenschäden und jemand sei gestorben, nachdem er den dreiwöchigen Prozess ohne Nahrung und ohne Flüssigkeit, den sie empfiehlt, durchgemacht hat. Aber die Menschen laufen in Scharen zu ihr. Denn Eßstörungen sind die kollektive Psychose unserer Zivilisation und viele halten es für die beste Heilung, nichts mehr zu essen. Dann laufen sie solchen Lehren hinterher.

Swami Vishnu hat öfter versucht, uns zu desillusionieren und gesagt: „Hört auf mit eurem naiven Glauben.“ Aber er sagte, in Indien sei das auch nicht anders. Einmal wollte er zeigen, wie leicht man auf irgendwelche Vorspiegelungen hereinfällt:

Eines Abends gab er vor einem Publikum von etwa hundert Zuhörern einen Vortrag. Am Ende des Vortrags kam ein sehr asketisch wirkender Inder kurz herein, setzte sich einen Augenblick für eine Meditation hin und ging dann wieder hinaus. Swami Vishnu stellte ihn mit den Worten vor: „Das ist ein ganz großer Yogi aus dem Himalaya. Seit zwanzig Jahren spricht er nicht mehr. Morgen früh wird er zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wieder etwas sagen, aber nur zehn Minuten lang.

In diesen zehn Minuten wird er denen, die dann anwesend sind – und es dürfen maximal nur zehn Leute sein – eine Minute lang ganz wichtige Ratschläge geben. Das macht er nur zwischen 2.30h und 2.40h nachts. Jeder, der dabei sein will, muss vorher 2000 Mark bezahlen. Anmeldung ist nicht möglich. Die ersten, die kommen, dürfen rein.“ – Das hat er bei einem Vortrag von ungefähr hundert Leuten gesagt. Nachts um ein Uhr warteten über zweihundert Leute vor dem Hotel. Swami Vishnu hat sie alle hereingelassen und den großen Meister enthüllt, der gar kein Inder war, sondern ein Westler, der sich das Gesicht gefärbt hatte. Und er hat gesagt: „So naiv und leichtgläubig seid ihr hier. Ohne irgendetwas zu prüfen, glaubt ihr sofort, dass jemand anders im Besitz der alleinigen Weisheit ist.“ Denn die meisten der Zuhörer waren auch Menschen, die Swami Vishnu nicht kannten und gar nicht wissen konnten, ob er selbst tatsächlich authentisch war oder nicht. Natürlich hat er ihnen das Geld auch wieder zurückgegeben und sie darauf hingewiesen, dass sie sich das eine Lektion sein lassen sollten.

Wenn man einen Meister einmal geprüft hat, dann folgt man ihm natürlich. Aber man sollte nicht naiv sein und sich von Showbusiness beeindrucken lassen. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die ein Riesen–Showbusiness aufgezogen haben. Mit ein bisschen psychologischer Marktforschung kann man die meisten Menschen betrügen. Mit ein bisschen Show könnten wir den Ashram hier auch noch viel mehr zum Blühen bringen. Aber erstens liegt das nicht in meiner Natur und zweitens hat mich Swami Vishnu gründlich davon bekehrt. Natürlich, einfach, authentisch zu sein, wirkt langfristig besser.

Natürlich gibt es nicht nur Zaubertricks, sondern auch echte Siddhis. Aber selbst diese sind kein verlässliches Zeichen dafür, dass jemand tatsächlich ein großer Meister ist.

Als ich in München lebte, kam einmal ein neuer Meister, von dem hieß es, er hätte alle möglichen Kräfte. Eine ganze Reihe von Leuten aus dem Sivananda-Yogazentrum sind zu ihm gegangen. Er hat den Anwesenden auf Wunsch eine persönliche Einweihung gegeben und ihnen auf den Kopf zugesagt, welches ihr Mantra ist, welches ihr Meister ist, und verschiedene andere Sachen.

Und er sagte: „Wenn du so weitermachst, wird dein Fortschritt minimal sein. Ich werde dir jetzt die Wirbelsäule reinigen, deine Kundalini erwecken und dann wird dein Fortschritt sehr schnell sein.“ Sie hatten dann auch tatsächlich das Gefühl, die Wirbelsäule öffne sich, Licht, Kundalini-Energie steige hoch. Später stellte sich heraus, dass er ein großes Bankkonto in der Schweiz hatte, sich mit einer ganzen Reihe seiner Schülerinnen mehr oder weniger gleichzeitig verlustierte und sich schließlich irgendwie absetzte. Aber er hatte ganz sicher gewisse Kräfte. Wenn einem jemand das Gefühl vermitteln kann, etwas steige die Wirbelsäule hoch, dann muss das noch lange nicht die Kundalini sein. Es können hypnotische Kräfte oder Energieübertragungen sein. Auch hier dürfen wir nicht zu naiv sein, sondern müssen unser Urteilsvermögen einschalten.

Wobei wir jetzt auch nicht immer das Kind mit dem Bad ausschütten dürfen. Selbst sehr hoch entwickelte Meister können einmal einer Versuchung erliegen. Das heißt noch lange nicht, dass sie deshalb verachtenswert sind oder dass wir das Recht haben, sie zu verachten oder zu verurteilen. Ich habe einmal ein Buch gelesen über westliche Meister in östlichen Traditionen, in dem die ganze spirituelle Szene von Zen-, Yoga-, Sufi- und allen, die irgendwie aus diesen spirituellen Traditionen stammen und ihre eigenen Schulen aufgebaut haben, beschrieben ist. Darunter sind einige, die zweifellos ernsthaft waren und etwas Seriöses aufgebaut haben.

Und plötzlich kam heraus, dass sie einmal in ihrem Leben irgendetwas Komisches oder nicht hundertprozentig Ethisches gemacht haben und schon brach die ganze Organisation zusammen. Auch bei einer relativ geringfügigen Sache ist ein Meister sofort unten durch, nur, weil er nicht ganz so perfekt ist, wie die Schüler es von ihm erwarten. Ein Beispiel eines indischen Meisters fällt mir ein, das übrigens auch allgemein bekannt ist: Er hatte ein spirituelles Zentrum eröffnet und vor drei, vier Jahren kam heraus, dass er vor etwa zehn Jahren ein Verhältnis mit einer anderen Frau gehabt hatte, das zwar nicht lange gedauert hatte, auch sonst keine Folgen hatte – mindestens habe ich es so gehört. Sobald das publik wurde, haben die Ashramleiter ihn aus seiner eigenen Organisation hinausgeworfen. Aber ich weiß natürlich nicht, was da sonst noch dahintersteckt.

Wir müssen uns also vor verschiedenen Sachen hüten. Zum einen dürfen wir uns nicht von Shows beeindrucken lassen, auch nicht von übernatürlichen Kräften, aber es gibt auch echte Meister, die trotzdem auch einmal einen Fehler machen. Man muss letztlich schauen: Ist es wirklich nur ein Fehler oder ist es ein systematisches Vorgehen, bei dem ein Meister seine Schüler und Schülerinnen ausnützt und ruiniert. Das ist natürlich wieder etwas anderes, dann wird es sehr unethisch.

Siddhis können auch erlangt werden als Ergebnis der Geburt. Manche Menschen haben Siddhis von Geburt an, wahrscheinlich durch karmische Eindrücke aus früheren Leben.

Manche Menschen können Kräfte erzeugen durch Drogen, Pilze, Kräuter und ähnliches.

Es gibt auch Rituale und Mantras, mit denen man spezifische übernatürliche Kräfte erzeugt, wie zum Beispiel der Feuerlauf, von dem ich schon erzählt habe.

Ich habe auch einmal eine Zeremonie zu Ehren von Shanmug miterlebt, wo jemand bestimmte Rituale ausführt und anschließend seine Haut mit 108 Speeren durchbohrt. Er trägt ein Gerüst, damit die Speere drin bleiben, dann tanzt er mit all diesen Speeren. Danach werden die Speere herausgezogen. Es fließt kein Blut, es wird nichts infiziert und innerhalb von ein bis zwei Stunden sind alle Wunden zu, man sieht nichts mehr. Swami Vishnu hat für diesen Ritus mehrmals Leute aus Malaysia eingeladen. Für sie ist es eine Form der Verehrung Gottes. Sie empfinden das nicht als etwas Besonderes oder Außergewöhnliches. Es ist nicht wirklich eine Zurschaustellung von übernatürlichen Kräften, sondern es gehört zu einem Ritual, das jedes Jahr in ihrem Dorf gemacht wird. Der Malaye nahm die Einladung von Swami Vishnu an, weniger, um zu zeigen, wie großartig er ist, sondern um diese Energie von Shanmug in Berlin zu verbreiten, das fand er eine gute Sache.

Tschechische Wissenschaftler haben dabei transportable EEGs und EMG–Geräte angeschlossen, so dass er nicht nur die 108 Speere in sich stecken hatte, sondern auch noch 12 Elektroden für EEG und so und so viele für das EKG. Die Wissenschaftler haben die Versuche ausgewertet und dann die Ergebnisse präsentiert: Wie fantastisch das sei, was der für ein EEG und ein EKG gehabt hat. Vom EKG her war seine Herzfrequenz so, dass er fast einen Herzinfarkt hatte. Er hatte einen Puls von fast 200. Und das EEG war so, als ob er im allertiefsten Tiefschlaf wäre – fast keine Hirnwellen. Das fanden sie ganz faszinierend. Aber dass sie hier etwas beobachtet und dokumentiert haben, was ihrem wissenschaftlichen Weltbild total entgegensteht, darüber haben sie kein Wort verloren, geschweige denn, irgendwelche Schlussfolgerungen für ihre eigene Wissenschaftsgläubigkeit daraus gezogen. Sie haben Karten und Auswertungen gezeigt, aber mit keinem Wort erwähnt, dass sie jetzt eigentlich ihr normales materialistisches Weltbild in Frage stellen müssten. Letzten Endes waren ja nicht die Werte von EEG und EKG das Wichtige dabei, sondern die Verehrung Gottes und wie ein solches Phänomen zustande kommen kann.

Rituale und Mantras können außergewöhnliche Kräfte verleihen. Der Malaye befand sich in einem Trancezustand, jenseits des Normalbewusstseins. Er stellte seinen Körper der Gottheit zur Verfügung. Das geschieht über das Ritual. Dabei soll das Göttliche in den Körper eindringen und dann über die 108 Speere die göttliche Energie in alle Richtungen ausstrahlen. Das ist, neben einer einfachen Verehrung, der zweite Sinn dieses Rituals. Man stellt sich als Kanal Gottes zur Verfügung, um spirituelle Energie zu verbreiten. Aber das war nur während des Rituals so. Wenn er sich am nächsten Tag aus Versehen geschnitten hat, hat er geblutet und brauchte ein Pflaster. In Berlin zum Beispiel wurde derselbe Mann, der unter dem Einfluss des Rituals 108 Speere ohne zu bluten und ohne Wunden in sich haben konnte, einen Tag später von einer Biene gestochen. Er reagierte allergisch darauf und musste ins Krankenhaus gebracht werden.

Übungen der Selbstdisziplin, Tapas, haben wir bereits besprochen, auch, dass Patanjali die intensive Übung von Asanas und Pranayama als Tapas bezeichnen würde. Wenn ihr ein paar Monate lang jeden Tag elf bis zwölf Stunden lang Pranayama macht, bekommt ihr bestimmte übernatürliche Kräfte!

Und Samadhi bringt natürlich auch übernatürliche Kräfte.

Im nächsten Vers erklärt Patanjali, dass diese scheinbar übernatürlichen Kräfte nicht wirklich übernatürlich sind.

2. Jâty-antara-parinâmah prakrity-âpûrât

Jâty-antara = in eine andere Klasse, Spezies; parinâmah = Wandlung; prakriti = Natur, natürliche Neigungen; âpûrât = durch Füllen, Überfließen

Alle evolutionären Umwandlungen rühren von der Erfüllung natürlicher Neigungen her.

Alles, auch die Siddhis, geschieht nur aufgrund und in Erfüllung von Naturgesetzen. Alles ist Naturgesetzen unterworfen. Wir kennen nur nicht alle, denn auf anderen Ebenen als der physischen gelten andere Gesetze.

3. Nimittam aprayojakam prakritînâm varana-bhedas tu tatah kshetrikavat

Nimittam = sichtbare Ursache; aprayojakam = nicht unmittelbar verursachend; prakritînâm = die natürlichen zugrundeliegenden Ursachen; varana = Hindernis; bhedah = Beseitigung; tu = andererseits; tatah = davon; kshetrikavat = wie der Bauer

Eine sichtbare Ursache dient nicht notwendigerweise dazu, Veränderungen in der Prakriti zustande zu bringen; sie beseitigt nur Hindernisse, wie ein Bauer (er räumt einige Steine beiseite, um einen Bewässerungskanal zu schaffen).

Ich weiß nicht, ob ihr das Bild versteht. In Indien wird ja fast alles künstlich bewässert. Es gibt riesige Kanäle. Wenn ein Bauer sein Feld bewässern will, muss er ein paar Steine aus dem Bewässerungskanal, aus dieser Schleuse, herausnehmen, damit das Wasser auf sein Feld gelenkt wird. Die Dorfgemeinschaft stellt genaue Regeln und ein ausgeklügeltes System auf, so dass alle Bauern der Dorfgemeinschaft ihre Felder bewässern können, ohne dass jemand zu viel hat oder zu kurz kommt. Zu einem festgelegten Zeitpunkt nimmt man die Steine weg, die den Kanal zum eigenen Feld verschließen. So bekommt man das nötige Wasser in seine Reisfelder. Dann baut man die Steine wieder auf, damit der nächste Bauer dasselbe bei sich machen kann.

Nicht alles, was an spiritueller Erfahrung, Kräften, Fähigkeiten kommt, haben wir notwendigerweise selbst durch unsere Übungen, durch unsere Anstrengung, geschaffen. Wenn man beispielsweise eine Vision Gottes, eine Erfahrung der Einheit oder ein ekstatisches Gefühl beim Mantrasingen oder in der Meditation hat, dann hat man es nicht wirklich durch die ganzen Praktiken erzeugt. Durch diese Praktiken haben wir die Steine – Hindernisse, Unreinheiten –,weggeräumt, die im Wege standen, so dass die göttliche Gnade durch uns hindurch fließen kann. Das, was vorher schon da war, enthüllt sich, das Göttliche kann sich manifestieren. Wir schaffen nicht wirklich Freude in der Meditation, wir räumen nur die Hindernisse aus dem Weg, so dass die natürliche Freude, die immer schon da war, erfahrbar wird. Wir machen uns zum Instrument der kosmischen Energie, die durch uns wirken will. Wir müssen uns nur für sie öffnen.

Wenn es regnet und wir Wasser brauchen, was müssen wir haben? – Ein Gefäß. Was müssen wir mit dem Gefäß machen? – In den Regen halten. Das allein reicht aber nicht aus. Wir müssen es richtig in den Regen halten, wie nämlich? – Mit der Öffnung nach oben. Genauso ist auch die göttliche Gnade immer da. Wir müssen nur unser Gefäß, unser Bewusstsein, unseren Geist, nach oben öffnen. Die meisten Menschen haben ihren Geist nach unten geöffnet. Also spüren sie keine Gnade.

Frage: Wo kommt die Gnade denn her? Es heißt immer, sie kommt von oben.

Antwort: Natürlich kommt sie nicht wirklich von oben, nicht räumlich von oben. Sie kommt nicht von der Sonne und auch nicht vom Polarstern, sondern von höheren Ebenen. Energie strömt ständig von Ishwara, dem Göttlichen, aus und wir können uns dafür öffnen. Wirklich verstehen tut man es, wenn man den Unterschied verwirklicht hat zwischen Sattwa (Reinheit) und Purusha (höchstes Selbst). Bis wir soweit sind, können wir es sehr wohl erfahren und kleine Erklärungen dazu abgeben. Das Göttliche gibt ständig Gnade, Energie in diese physische Ebene hinein und in unser jetziges Bewusstsein. Wir müssen uns nur dafür öffnen.

4. Nirmâna-chittâny asmitâ-mâtrât

Nirmâna = geschaffen, künstlich; chittâni = Mentalkörper; asmitâ = Ichsein, Egoismus, Individualität; mâtrât = allein

Chittas (Gemüt, Gefühle, Emotionen) werden nur vom Egoismus geschaffen.

5. Pravritti–bhede prayojakam chittam ekam anekeshâm

Pravritti = Aktivität, Beschäftigung; bhede = Unterschied; prayojakam = lenkend; chittam = Verstand; ekam = ein; anekeshâm = von vielen

Obwohl die Beschäftigungen der vielen geschaffenen Chittas variieren, werden sie von dem einen Geist kontrolliert.

6. Tatra dhyânajam anâshayam

Tatra = von ihnen; dhyânajam = aus der Meditation geboren; anâshayam = frei von Eindrücken

Von diesen ist der Geist, der aus Dhyana geboren ist, frei von vergangenen Tendenzen, den sogenannten Samskaras.

Für diese drei Verse gibt es zwei Interpretationen. Swami Vishnu interpretiert sie so:

Unser Chitta, der Geist im Sinne von Gemüt, kommt vom Ego her. Das Gemüt beginnt letztlich mit dem Ego. Solange wir im Ego sind, sind wir im individuellen Gemüt. Es gibt sehr viele verschiedene Chittas (Gemüter) – nämlich so viele, wie es Wesen gibt –, aber all diese verschiedenen Gemüter sind letztlich Bestandteil des einen kosmischen Geistes.

Im ersten Kapitel haben wir eine besondere Meditationstechnik kennen gelernt, die in den Stufen von Savitarka, Nirvitarka, Savichara, Nirvichara und Sananda zu Sasmita führt, wo wir versuchen, aufzuhören, uns mit dem Individuum zu identifizieren.

Nicht einmal auf der physischen Ebene sind wir tatsächlich so getrennt, wie wir immer glauben. Sobald wir zwei Minuten lang nicht atmen, sind wir schon tot – gut, erfahrene Pranayama-Yogis können die Luft auch schon mal drei Minuten lang anhalten, aber nach fünf Minuten ist man normalerweise tot. Wir sind also über den Atem verbunden, nicht nur untereinander, sondern mit dem ganzen Universum. Das physische Universum bildet ein organisches Ganzes und wird deshalb in der Vedanta als Viratswarupa bezeichnet.

Auch auf der emotionellen, psychisch-geistigen Ebene sind wir miteinander verbunden. Wir denken nicht im luftleeren Raum. Unsere Gedanken und Gefühle sind nicht nur beeinflusst von dem, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, von unserer persönlichen Vergangenheit und unseren Gehirnfunktionen, sondern sie sind auch bestimmt durch andere Gemüter, durch individuelle und kollektive Gedankenschwingungen. Alle zusammen bilden wir das kosmische Gemüt, Hiranyagarbha.

Auf der Kausalebene sind wir erst recht nicht getrennt. Gerade auf dieser Ebene stehen wir alle miteinander in Verbindung als Ishwara. Ishwara steht für verschiedene Manifestationen Gottes: Viratswarupa, die ganze physische Welt als physischer Körper Gottes. Hiranyagharba, alle Gemüter als zusammenhängende Teile des kosmischen Gemütes. Ishwara, alle Kausalkörper als Teil des universellen Kausalkörpers. Das ist Vedanta-Philosophie.

Die Samkhya-Philosophie sagt dasselbe mit anderen Worten. Aus dem einen Gemüt, Mahat, sind die einzelnen Chittas (Gemüter) als individuelle Gemüter entstanden. Aber alle diese Chittas werden letztlich beherrscht von dem einen kosmischen Geist, Eka = ein.

Wenn uns das bewusst ist, können wir letztlich auch unser eigenes Gemüt Gott opfern. Wir können sagen: „Oh Gott, du bist alles und überall. Du bist auch mein eigenes Gemüt. Du manifestierst dich auch durch meine Gedanken und Emotionen und auch diese stelle ich dir zur Verfügung. Und all meine Schwächen bist du ja auch. Also stelle ich auch sie dir zur Verfügung. Und was auch immer ich heute tue, mit Körper, Gedanken, Emotionen, aus meiner eigenen Natur, aus meinem Selbst, aus meinen Verhaftungen heraus, all das opfere ich dir, denn du wirkst durch mich.“

So können wir uns von allen Schuldkomplexen und auf die falsche Ebene gesetzte Vollkommenheitsansprüchen befreien. Denn die physische Welt ist unvollkommen, in ständiger Veränderung. Selbst unsere unvollkommenen Gedanken und Emotionen sind Manifestationen des Göttlichen. Und selbst wenn wir mal aus der Rolle gefallen sind – natürlich sollten wir versuchen, zu vermeiden, aus der Rolle zu fallen –, können wir auch das Gott opfern und sagen: „Oh Gott, du hast dich jetzt so manifestiert und auch das opfere ich dir.“ Wenn etwas schiefgegangen ist: „Bitte, Gott, kümmere du dich darum.“ Damit gibt man ohne Zweifel eine gewisse Verantwortung ab und das ist gut so. Aber wir geben nicht alle Verantwortung ab. Vorher und gleichzeitig bemühen wir uns natürlich, uns zu entwickeln, aus Fehlern zu lernen.

Krishna sagt das auch in der Bhagavad Gita (18. Kapitel, 66. Vers):

Sarvadarmân Parityajya
Mâm êkam sharanam vratja
Aham twâ sarvapâpêbhyô
Môksha ishyâmi mâ shuksha

Sarvadarmân Parityajya: Gib alle Pflichten auf. Das beinhaltet auch, alle Vorstellungen von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ aufzugeben.
Mâm êkam sharanam vratja: Nimm zu mir allein Zuflucht.
Aham twâ sarvapâpêbhyô: Ich werde dich befreien von sarva papa, von allen Sünden und Fehlern.
Môksha ishyâmi mâ shuksha: Mach dir keine Sorgen. Du kommst zur Befreiung.

Frage: Dann kann ich mir erlauben, was ich will?

Krishna sagt direkt danach: „Erzähle das niemandem, der sich nicht um Selbstbeherrschung bemüht. Erzähl das niemandem, der nicht Gott hingegeben ist. Erzähl das niemandem, der nicht nach Befreiung strebt und erzähl das niemandem, der nicht das Wohl anderer Wesen im Sinn hat.“ – eben um diese Anarchie zu verhindern.

Wem es um all das geht, wer versucht, an sich selbst zu arbeiten, sich Gott hinzugeben, anderen Gutes zu tun, wer nach Befreiung strebt, dem kann man das sagen, denn er bemüht sich ernsthaft, im richtigen Geist, und anschließend kann er sagen: „Oh Gott, was auch immer ich getan habe, überlasse ich dir, einschließlich all meiner Unvollkommenheiten.“ Zuerst bemüht man sich und dann lässt man los. Das ist das Beste. Es gibt kein besseres Rezept für geistige Entwicklung und Zufriedenheit. Alles so gut machen wie man kann und dann loslassen. Nicht so gut machen, wie man denkt, dass man können müsste, auch nicht so gut, wie ein anderer es tatsächlich oder vermeintlich machen kann, sondern mit der inneren Einstellung: Wir sind jetzt in diese Situation hineingestellt worden als Teil Gottes, weil unsere Fähigkeiten und unsere Möglichkeiten in dieser Situation und in diesem Augenblick die richtigen sind. Wären wir nicht der Richtige, hätte Gott jetzt jemand anderen dorthin gestellt.

Wir bleiben uns der Tatsache bewusst, dass letztendlich alle Chittas von dem einen Geist kontrolliert werden. Und der Chitta, der aus Dhyana (Meditation, Kontemplation) geboren ist, ist frei von vergangenen Tendenzen, den sogenannten Samskaras (Eindrücken im Unterbewusstsein). Wenn wir in der Meditation zu höheren Bewusstseinsebenen kommen, ersetzt die Erfahrung der Meditation die alten Samskaras und wir können eine grundlegende Veränderung unseres Charakters erfahren. Wenn wir zur Selbstverwirklichung kommen, werden wir frei von unseren Unvollkommenheiten. Es geht schon darum, uns von diesen Unvollkommenheiten zu befreien, aber ohne Besessenheit, ohne Fanatismus und ohne uns ein schlechtes Gewissen einzureden.

Diese drei Verse haben noch eine andere, etwas eigenartige Bedeutung, die man in manchen Kommentaren findet:

Ein spiritueller Meister hat auch die Fähigkeit, aus seinem eigenen Geist andere Chittas zu schaffen, um so sein Karma schneller auszuarbeiten. Er manifestiert sich also in mehreren Körpern gleichzeitig. Angenommen, man ist ein großer Meister und stellt fest, man hat noch Karma für fünf Leben. Nun möchte man nicht mehr fünfmal geboren werden. Deshalb schafft man sich mehrere Chittas. Mit der Kraft des Geistes lässt man diese Chittas auf der grobstofflichen Ebene existent werden – im schlimmsten Fall geht man in den Körper eines anderen Menschen ein, der gerade im Sterben liegt – Patanjali hat ja oben beschrieben, wie man den Körper eines anderen besetzen kann. Dann arbeitet man das Karma in diesen Körpern aus. Wenn man ein solches Chitta allein aus der Meditation schafft, ohne es mit früheren Samskaras (Eindrücken im Unterbewusstsein) zu verbinden, hat dieses Gemüt keine Samskaras und man kann das Karma vorurteilsfrei ausarbeiten.

Das mutet etwas eigenartig an und mir ist auch kein Meister bekannt, von dem es heißt, dass er so etwas gemacht hat. Zwar gibt es Schüler, die berichten, dass der Meister ihnen erschienen sei. Selbst wenn das mehrere Schüler gleichzeitig berichten, weiß man nicht den Grund. Es kann sein, dass der Meister eben seinen Pflichten gegenüber diesen Schülern, die er vielleicht aus früheren Leben hat, dadurch genügt, dass er sich an verschiedenen Orten gleichzeitig manifestiert. Aber meistens erscheint er nicht willkürlich und auch nicht als Person, sondern meistens ist es so, dass der Schüler eine große Hingabe ausstrahlt. Durch diese Hingabe wird die Energie des Meisters angezogen und kann so unbeschränkt aktiv werden.

Die beiden nächsten Verse haben wir schon behandelt:

7. Karmâshuklâkrishnam yoginas tri-vidham itareshâm

Karma = Handlung; Gesetz von Ursache und Wirkung; ashukla = nicht weiß; akrishnam = nicht schwarz; yoginah = von einem Yogi; tri-vidham = dreifach; itareshâm = von anderen

Für einen Yogi ist Karma weder weiß noch schwarz; für andere ist es dreifach.

Für einen Yogi gibt es kein gutes oder schlechtes Karma. Alles, was kommt, sind Aufgaben, Erfahrungen, an denen wir wachsen können, aus denen wir lernen können. Das heutige Vergnügen kann die Ursache für morgigen Schmerz sein. Der heutige Schmerz kann die Ursache für morgiges Vergnügen sein. Ein Yogi sieht und beurteilt die Welt und ihre Erscheinungen nicht mehr nach schön oder nicht schön, angenehm oder unangenehm. Für ihn ist alles gut und richtig so, wie es ist.

Für andere ist es dreifach, nämlich gut, schlecht oder gemischt.

8. Tatas tad-vipâkânugunânâm evâbhi-vyaktir vâsanânâm

Tatah = von da; tad–vipâka = Erfüllung, Früchte tragen; anugunânâm = entsprechend; eva = nur; ab-hivyaktih = Manifestierung; vâsanânâm = Wünsche, Neigungen

Aus diesem dreifachen Karma wird die Erfüllung offenbar, die den Wünschen oder Neigungen entspricht.

Was wir uns wünschen, das tritt ein.

Unsere Neigungen sind aber auch notwendig für uns, für unsere Evolution.

Prakriti (die Schöpfung, die Welt) ist für den Purusha (die Seele, das Bewusstsein) da und zwar aus zwei Gründen: Einmal, damit Purusha die Erfahrungen machen kann, die er sich wünscht und die für ihn notwendig sind. Zum zweiten für die Befreiung des Purusha aus dem Labyrinth der Welt. Diese Welt, das, was auf uns zukommt, ist auf der einen Seite das, was wir uns gewünscht haben und auf der anderen Seite das, was wir brauchen, weil es für unsere Evolution förderlich ist.

Alles, was geschieht, kommt entweder aus unseren Wünschen oder Neigungen heraus. Statt Neigungen könnte man auch sagen, aus den anderen Tendenzen in unserer Natur. Darin ist alles enthalten: Die Aufgaben, die wir zu lösen haben, die karmischen Reaktionen, die kommen, weil wir andere Menschen geschädigt haben oder ihnen besonders gut gesinnt waren usw., unsere Gedanken, unsere Wünsche – all das manifestiert sich als Karma.

Wenn wir das wissen, hören wir auch auf, uns über unsere Umwelt zu beschweren. Wir können trotzdem versuchen, unser Leben so zu gestalten, wie es für unseren spirituellen Fortschritt geeignet ist, aber wir sind uns bewusst, dass wir nicht immer die idealen Umweltbedingungen haben können, dass wir immer und überall unser Karma, unsere Disposition, mitnehmen. Und wir wissen, dass unser Geist, obwohl wir versuchen, an ihm zu arbeiten, ihn zu transformieren, letztlich auch vom kosmischen Geist kontrolliert wird. Unseren Geist, unser Karma, unsere spirituelle Praxis, selbst unsere Unvollkommenheit, all das lassen wir los und sagen: „Oh, Gott, all das bist du. Ich will zwar versuchen, dieses Instrument, meinen Körper und Geist, für dich zu vervollkommnen, soweit ich kann. Aber selbst dieses Bemühen opfere ich dir, denn letztlich drückst du dich auch darin aus.“

9. Jâti-esha-kâla-vyavahitânâm apy ânantaryam smriti-samskârayor ekarûpatvât

Jâti = Klasse; desha = Ort; kâla = Zeit; vyavahitânâm = losgelöst, getrennt; api = sogar; ânantaryam = unmittelbare Aufeinanderfolge; smriti-samskârayoh = von Erinnerung und Eindrücken; ekarûpatvât = infolge der Gleichheit der Erscheinung oder Form

Es gibt eine unmittelbare Aufeinanderfolge – Wunsch, gefolgt von der passenden karmischen Situation –, die von der Erinnerung und den Samskaras (Eindrücken im Unterbewusstsein) herrührt, selbst wenn sie durch soziale Stellung, Ort und Zeit unterbrochen sein mag.
Das ist das Gesetz des Karmas.

Aus unseren Wünschen folgt irgendwann einmal das Resultat. Oder aus unserer Handlung folgt die Reaktion. Aktion führt zu Reaktion. Handlung und Wunsch bergen ihre Erfüllung in sich. Daneben gibt es Lektionen, die gelernt werden müssen. Aktion und Reaktion, Wunsch und Ereignis, Handlung und darauffolgendes Ereignis, sind unmittelbar miteinander verknüpft, auch wenn es äußerlich so scheint, als hätten sie keinen Zusammenhang, als läge alles Mögliche dazwischen. Es mag sein, dass wir heute jemanden gequält haben und in 25 Jahren werden wir auf dieselbe oder ähnliche Art und Weise gequält. Das erscheint dann zu jenem Zeitpunkt in 25 Jahren als blindes Schicksal, denn wir haben ja dann in dem Moment nichts Schlimmes getan, aber es rührt eben von der Ursache her, die wir vor langer Zeit gesetzt haben.

Oder vor zehn Jahren haben wir uns etwas gewünscht und jetzt plötzlich haben wir es. Oftmals wollen wir es dann gar nicht mehr oder es passt gar nicht mehr in die aktuelle Lebenssituation hinein. Dazwischen hat sich scheinbar vieles geändert – Ort, Zeit und Stellung. Das Karma muss aber trotzdem geerntet werden.

Vom Standpunkt der vorhandenen Samskaras aus, der Eindrücke in unserem Gemüt, folgt das eine direkt auf das andere. Für unser momentanes Bewusstsein sieht es so aus, als läge eine große Zeitspanne dazwischen.

10. Tâsâm anâditvam châshisho nityatvât

Tâsâm = sie, von denen; anâditvam = kein Anfang; cha = und, auch; âshishah = der Wille zu leben; ni-tyatvât = Ewigkeit, Dauer

Die Wünsche haben keinen Anfang, denn der Wille zu leben ist ewig.

Deshalb heißt es, diese Maya, die Welt der Täuschung, ist anadi, ohne Anfang. Nadi hat zwei Bedeutungen: ‚Energiekanal‘ und ‚Anfang‘. Wobei ich jetzt nicht sicher bin, ob bei beiden Bedeutungen das „a“ und „d“ jeweils das gleiche ist, denn im Sanksrit gibt es zwei verschiedene „d“ und ein kurzes und ein langes „a“.

Wünsche haben keinen Anfang. Die Maya hat keinen Anfang.

Stellt euch als Analogie die Traumwelt vor. Wann hat die Handlung eures Traumes angefangen? Angenommen, ihr träumt, ihr wärt Wissenschaftler und wolltet nun analysieren und zurückverfolgen, wie alt diese Traumwelt ist. Wann hat sie angefangen? Manche Menschen halten es für absolut phantastisch, wenn sie im Traum innerhalb weniger Minuten einen Zeitraum von zwanzig Jahren erlebt haben. Aber das ist ein Irrtum. In Wirklichkeit träumen sie innerhalb von ein paar Minuten Milliarden und Abermilliarden von Jahren. Denn wir träumen von der fertigen Welt und die Welt ist Milliarden oder Billionen oder Trillionen Jahre alt.

Die Schöpfung ist ohne Anfang. Aber sie hat glücklicherweise ein Ende. Wann nämlich? Wann hat die Schöpfung ein Ende? Wie heißt dieses Kapitel? – Kaivalya, Befreiung. Ist die Befreiung erreicht, dann verschwindet die Welt für uns. Dann erkennen wir: Es gab die Welt nicht wirklich.

Wann hat die Traumwelt ein Ende? – Wenn wir aufwachen. Was passiert dann mit den ganzen Menschen im Traum? Habt ihr euch das schon mal überlegt? Man hatte einen Traum mit so vielen Menschen, Tieren, Pflanzen, Gebäuden und allem Möglichen. Was passiert damit, wenn wir aufwachen? – Es verschwindet für uns. Genauso ist es, wenn man die Selbstverwirklichung erreicht. Als Zwischenzustand gibt es noch Jivanmukta (lebendig Befreiter), wo man zwar die Welt noch so sieht wie die anderen, aber gleichzeitig weiß: In Wirklichkeit bin ich reines Bewusstsein.

11. Hetu-phalâshrâyalambanaih samgrihîtatvâd eshâm abhâve tad-abhâvah

Hetu = Ursache; phala = Wirkung; âshraya = Unterschicht, das, was Halt gibt; âlambanaih = Objekt; samgrihîtatvâd = infolge Zusammenhalts; eshâm = von diesen; abhâve = beim Verschwinden; tad–abhâvah = Verschwinden von diesen

Wünsche werden durch Ursache, Wirkung, Unterstützung und Objekte zusammengehalten; mit diesen verschwinden auch die Wünsche.

Hier gibt Patanjali uns Tips, wie wir die Wünsche beseitigen können. Wenn wir eines dieser vier Dinge ausschalten, können wir die Wünsche ausschalten.

Fangen wir von hinten an, mit den Objekten. Wünsche werden durch Objekte zusammengehalten. Wenn wir einen Wunsch längere Zeit nicht mehr befriedigen, was passiert dann mit dem Wunsch? – Irgendwann hört er auf.

Ein ganz banales Beispiel: Als ich in New York und in Toronto lebte, gab es dort etwas ganz Besonders, das ich nirgendwo anders gefunden habe, und zwar Papaya Juice, Papaya-Saft. Irgendwie schmeckte er ganz toll und ist auch sehr gesund. Nahezu jeden zweiten Tag bin ich mit dem Fahrrad zu einer Papaya Juice-Bar gefahren – wogegen vom yogischen Standpunkt aus auch nichts einzuwenden ist. Es war wirklich reiner, frisch gepresster Saft. Selbst frische Papayas kommen im Geschmack bei weitem nicht an diesen Saft heran. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, kann ich den Geschmack wieder deutlich auf der Zunge und im Mund spüren – also, ganz weg ist der Wunsch immer noch nicht, aber er ist jedenfalls schwächer geworden!

In der Anfangszeit in Frankfurt, als ich aus Amerika zurückkehrte, habe ich manchmal gedacht: Ich wünschte, hier gäbe es Papaya juice. Aber wenn ich mir jetzt nicht überlegt hätte, welch abstruses Beispiel ich mir zur Illustration einfallen lassen könnte, dann wäre dieser Wunsch jetzt sicher nicht in mir aufgekommen. Wenn die Objekte nicht da sind, werden die Wünsche normalerweise schwächer.

Das gibt uns auch einen gewissen Trost. Wenn wir etwas vermissen, wissen wir, irgendwann wird es schwächer. Es heißt ja auch so schön: Die Zeit heilt alle Wunden. Wenn man sich als Kind weh getan hat, haben einem die Eltern gesagt: Spätestens wenn du heiratest, hast du es vergessen. Da liegt eine Wahrheit drin.

Das andere ist Unterstützung. Ein Wunsch wird unterstützt, wenn wir ständig an ihn denken. Wenn wir etwas nicht haben und jahrelang daran denken, es haben zu wollen, dann hört der Wunsch natürlich nicht auf. Wir können versuchen, diese Unterstützung loszulassen, nicht daran zu denken. Zum Beispiel, indem wir uns ablenken, an etwas anderes denken oder auch einen Wunsch nach etwas anderem entwickeln. Im ersten Kapitel hat Patanjali uns ja auch diesen Tip gegeben: Wenn irgendwelche Hindernisse auftauchen, sollte man an etwas Positives denken. So ähnlich können wir auch hier verfahren.

Es reicht nicht aus, nur zu sagen: Ich will oder sollte diesen Wunsch nicht mehr haben. Den Trick kennt ihr sicher alle: „Versucht jetzt mal, nicht an eine grüne Ameise zu denken.“ – An was denkt ihr? – Zum ersten Mal in eurem Leben an eine grüne Ameise! Es nützt nicht viel, sich ständig zu sagen, ich darf daran nicht denken.

Wenn wir einen Wunsch loswerden wollen, sollten wir zuerst den klaren Entschluss fassen, diesen Wunsch nicht mehr zu haben. Nach diesem klaren Entschluss müssen wir aufhören, jeden Tag von neuem mit uns selbst zu debattieren. So geht es vielen Menschen. Sie wollen irgendetwas aufgeben, fassen einen Entschluss und am nächsten Tag fangen sie wieder an, mit sich selbst zu diskutieren. Kennt ihr das? – „Nur einmal, und so schlecht ist es ja nun auch wieder nicht, und der andere macht es ja auch, und ich könnte ja auch erst nächste Woche anfangen…..“

Darüber hatten wir gesprochen bei der Schulung des Willens und Entwicklung von Vairagya (Leidenschaftslosigkeit, Wunschlosigkeit). Wir sollten einen Entschluss fassen. Und wenn wir für den Entschluss noch nicht ganz reif sind, verschieben wir ihn und machen ihn etwas kleiner. Zum Beispiel, statt ganz mit etwas aufhören, nehmen wir uns vor: Ich mache es nur noch dreimal die Woche. Aber das, was wir uns vorgenommen haben, halten wir auch ein.

Aber der Entschluss allein reicht nicht aus. Wir müssen ein Konzept für den Moment entwickeln, wenn der Wunsch kommt. Denn er wird mit Sicherheit kommen. Wir müssen uns also überlegen, was will ich machen bzw. denken, wenn der Wunsch wieder auftaucht. Wir müssen den Wunsch bzw. den Gedanken daran durch etwas Positives ersetzen, an etwas anderes denken oder innerlich ein Mantra wiederholen. Wenn wir so vorgehen, gelingt es uns, unseren Entschluss Schritt für Schritt umzusetzen.

Und schließlich: Ursache und Wirkung. Ursache und Wirkung ist letztlich Handlung und Reaktion. Ursprünglich tun wir irgendetwas, erfüllen uns einen Wunsch, und als Wirkung bekommen wir ein Vergnügen. Dieses Vergnügen schafft dann wieder eine Ursache: Irgendwie ist es gut, schmeckt gut, tut gut und wir wollen es noch mal haben. Dadurch unterstützen wir den Wunsch und sorgen dafür, dass wir das nötige Objekt wieder bekommen. Und so geht es immer weiter.

Das Objekt ist wieder eine neue Ursache, es hat Spaß gemacht, wir unterstützen es wieder, wollen es wieder haben, setzen eine neue Ursache, die wieder eine Wirkung nach sich zieht und so sind wir ständig in dieser Kette. Diese Kette können wir überall erkennen. Werbung ist zum Beispiel eine Ursache. Als Wirkung kommt der Wunsch. Wir denken öfter daran, schließlich beschaffen wir uns das Objekt. Das Objekt führt, wenn wir Pech haben, dazu, dass es uns gefällt. Die Konsequenz ist Vergnügen. Das ist eine neue Ursache, die zu neuen Wirkungen führt. Wir wollen es nochmals haben, denken öfter daran, und erfüllen den Wunsch wieder …. So entsteht eine endlose Kette.

12. Atîtânâgatam svarûpato ¢sty adhva-bhedâd dharmânâm

Atita = Vergangenheit; anâgatam = Zukunft; svarûpatah = in ihrer eigenen Form; asti = existiert; adhva–bhedât = wegen unterschiedlichen Pfaden; dharmânâm = von Eigenschaften

Vergangenheit und Zukunft existieren aus sich heraus; die unterschiedlichen Eigenheiten rühren von den verschiedenen Wegen her.

Hier gibt es verschiedene Interpretationen.

Swami Vishnu interpretiert diesen Vers so:

Die Welt existiert getrennt vom Menschen. Die verschiedenen Wege des Individuums erschaffen, was die verschiedenen Eigenschaften, Charakteristika der Welt zu sein scheinen. Damit wird Prakriti (Natur, Universum) von Purusha (bewusstsein) getrennt. Das heißt, die Welt existiert auch ohne unser Zutun. Das klingt banal, aber oft sind wir nicht so ganz davon überzeugt, sondern glauben, dass wir alles nur durch unser Tun schaffen.

Vom absoluten Standpunkt her gesehen gibt es gar keine Welt.

Auf einer gewissen Ebene haben wir natürlich eine Verantwortung und auch einen freien Willen

Aber von einem relativen Standpunkt aus sind beide nicht so groß, wie wir eigentlich denken. Von einem recht hohen Standpunkt aus geschieht alles, wie es geschehen soll. Wie es etwa Krishna in der Bhagavad Gita ausdrückt: Wir sind nur Marionetten in den Händen Gottes.

Diese unterschiedlichen Standpunkte der jeweiligen Philosophiesysteme zu verstehen und einzunehmen, ist sehr wichtig. Sie widersprechen sich teilweise vollkommen, sind aber trotzdem gleichzeitig gültig, je nachdem, von welchem Blickwinkel aus man sie gerade betrachtet.

Es widerspricht sich, dass wir auf der einen Seite einen vollkommenen Willen haben sollen. Auf einer zweiten Ebene haben wir gar keinen freien Willen, sondern alles ist vorbestimmt und auf der dritten Ebene geschieht gar nichts. Trotzdem ist alles wahr. Und das ist die einzige Weise, Wahrheit zu erklären. Sie befriedigt den Intellekt nicht unbedingt, aber die moderne Physik kommt zu den gleichen Schlüssen.

Zum Beispiel gibt es diesen unerklärlichen Dualismus beim Licht. Bis heute weiß niemand genau, was Licht ist. Die einen sagen, Licht ist eine Welle, die anderen sagen, Licht besteht aus Teilchen und neuerdings sagt die Mehrheit der Wissenschaftler, Licht ist sowohl Welle als auch Teilchen. Aber nach allen physikalischen Gesetzen kann eine Sache nicht gleichzeitig Welle und Teilchen sein. Entweder ist Licht ein Teilchenstrom, der von einer Lampe ausgeht und über die Teilchen, die sogenannten Photonen, Licht abgibt. Oder es muss einen Lichtäther geben, der sich bewegt und die Wellen in diesem Äther sind das Licht.

Nun wurden verschiedene Experimente durchgeführt, die eindeutig beweisen, dass Licht aus Teilchen besteht. Es wurde nachgewiesen, dass Lichtteilchen Kraft und Masse haben. Es gibt aber auch andere Experimente, die ganz eindeutig beweisen, dass Licht nicht Teilchen ist, sondern eine Welle. Aber Licht kann nicht gleichzeitig Teilchen und Welle sein! Das geht nicht. Das ist unmöglich. Aber es ist eindeutig so, dass Licht sich manchmal wie Teilchen verhält und manchmal wie eine Welle, obwohl es beides zusammen nicht sein kann. Das ist der sogenannte Teilchen-Wellen-Dualismus, den man inzwischen nicht nur beim Licht findet, sondern bei der Materie an sich.

Materie selbst kann man von einem Standpunkt aus als eine Wahrscheinlichkeitswelle definieren. Mit dieser Theorie kann man einige Phänomene von Materie gut erklären. Das nur als Beispiel. Überall, wo man tiefer in die Wahrheit hineingeht, trifft man auf diese Paradoxone.

Die Wirklichkeit ist nicht wirklich vom menschlichen Intellekt her begreifbar. Es ist ohnehin eine unglaubliche Anmaßung, anzunehmen, die Wirklichkeit müsse für den Menschen logisch ergründbar sein. Inzwischen weiß man, dass der Mensch niemals alles über das physische Universum wissen kann. Nicht deshalb, weil er noch nicht weit genug ist, weil unsere Computer noch nicht fortgeschritten genug sind, weil wir noch nicht genügend Neuronen im Gehirn haben, sondern ganz einfach deshalb, weil die Welt nicht logisch erfassbar ist. Sie verhält sich nicht entsprechend dieser „normalen“ menschlichen Logik, so wenig wie sie sich nach der Logik eines Hundes oder eines Pferdes verhält.

Wenn wir das im Hintergrund haben, können wir auch besser verstehen, dass die Meister und die Schriften manchmal im gleichen Kontext sagen: „Du bist der Meister deines Schicksals“ und kurz danach: „Gott macht alles.“ In der Bhagavad Gita finden wir diese scheinbaren Widersprüche etliche Male. Auf Arjunas Bitte sagt Krishna: „Ich habe schon alles gemacht, du brauchst nichts mehr zu machen.“ Und kurz danach erzählt er ihm: „Es ist deine Pflicht, zu kämpfen“. Und nach einer Weile sagt er: „Du kannst gar nicht anders, als es zu tun. Wenn du es nicht tust, wird die Natur dich dazu zwingen, du hast gar keine freie Wahl.“ Kurz danach erzählt er wieder etwas anderes. Und zwar nicht deshalb, weil Krishna unlogisch ist, sondern weil so die Wirklichkeit beschaffen ist. Er spricht von verschiedenen Standpunkten aus.

Das hilft uns übrigens auch, nicht allzu sehr und zu lange mit einem schlechten Gewissen herumzulaufen, wenn wir etwas falsch gemacht haben oder etwas nicht so gut geglückt ist. Es hilft, Dingen nicht nachzuhängen oder nachzutrauern: „Ach, hätte ich das doch anders gemacht, hätte ich doch schon vor 20 Jahren nach meinem ersten Kontakt mit Yoga weitergemacht, oder hätte ich ….“ Wir können zurückblicken und sagen: Letztlich ist das geschehen, was geschehen sollte. Aber gleichzeitig darf man nicht die Einstellung haben: „Ich kann ja sowieso nichts machen, alles ist Kismet“. In jedem Moment muss ich so entscheiden und handeln, als ob ich voll verantwortlich wäre – allerdings ohne mich deshalb innerlich damit zu binden. Ganz im Hintergrund habe ich im Kopf: Ich kann mich nicht falsch entscheiden, ich kann nicht wirklich etwas falsch machen, weil Gott es schon vorbestimmt hat. Das ist eigentlich eine sehr positive und konstruktive Weltanschauung.

Eine andere Erklärung für diesen Aphorismus wäre:

Es gibt nicht nur eine Welt, sondern es gibt verschiedene Welten. Eigentlich existieren alle Möglichkeiten der Entscheidung, die wir jemals gehabt haben, gleichzeitig parallel.

Es gibt also dieses Universum, diese Ebene, auf der wir uns in einer Situation so entschieden haben. Gleichzeitig gibt es ein paralleles Universum, wo man sich ganz anders entschieden hat. Und nicht nur eins, denn wie oft hat man im Leben schon Entscheidungen getroffen? – Natürlich trifft man ununterbrochen Entscheidungen: „Soll ich jetzt noch länger arbeiten und diese Arbeit abschließen, oder soll ich eine Pause machen und Kaffee trinken oder spazieren gehen?“ „Soll ich etwas essen oder nicht, soll ich Gemüse oder Salat essen oder Suppe oder Müsli?“ „Soll ich aufstehen, obwohl ich noch müde bin oder den Wecker abstellen und weiterschlafen?“ Und wie oft im Leben habt ihr schon wichtige, einschneidende Entscheidungen getroffen? Eine Entscheidung kann auch dann einschneidend gewesen sein, wenn man nichts gemacht hat, es einfach so hat weiterlaufen lassen. Aber man stand vor einer Entscheidung, man hatte die Wahl.

Und jetzt stellt euch vor, jede dieser Entscheidungen ist eine Welt für sich. Das heißt, ihr lebt in jeder Entscheidungswelt und habt dort in der Zwischenzeit wieder Hunderte von Entscheidungen getroffen. All diese Möglichkeiten existieren in diesem Moment überall. Wir bewegen uns durch diese verschiedenen Möglichkeiten hindurch. Unsere Entscheidungen bestimmen nicht die Welt, sondern den Weg, den wir durch die verschiedenen Welten gehen. Manchmal sind Science-Fiction-Filme diesbezüglich recht gut.

Angenommen, hier im Raum wären zehn Ameisen, die losrennen. Unterwegs machen sie immer wieder mal Umwege und denken dann, sie beeinflussen das Universum. Wenn sie mehr nach rechts gehen, wird plötzlich das Universum heller, wenn sie nach links gehen, wird es dunkler oder verändert seine Farben, und wenn sie zum Ende des Raumes oder an eine Seitenwand kommen, wird das Universum plötzlich zur Mauer. Zehn Ameisen, die sich gegenseitig nicht sehen können, erfahren zehn unterschiedliche Universen, aber der Raum bleibt gleich.

Das ist ein ganz faszinierender Gedanke.

Frage: Ist es möglich, dass man im Traum in die anderen Universen geht?

Ja. Im Traum schaffen wir uns auch selbst noch zusätzliche Universen. Wobei natürlich diese Universen auch Berührungspunkte haben. Es gibt ja Träume, bei denen wir mit dem Astralkörper aus dem physischen Körper austreten und dann vielleicht sogar in die Zukunft sehen. Und am nächsten Tag oder ein paar Jahre später kommen wir in eine Situation oder an einen Ort und wissen ganz genau, was als nächstes geschehen wird. Wir waren schon da. Und es geschieht tatsächlich.

Frage: Aber sind es wirklich verschiedene Universen? Sind es nicht einfach verschiedene Ebenen?

Letztlich ist es das gleiche Universum, das sich auf verschiedene Weise manifestieren kann, ein multidimensionales Universum. Je nachdem, in welche Richtung wir gehen, bestimmen wir unsere Erlebnisebene. Von unserem jetzigen Blickwinkel aus sind es verschiedene Universen. Wenn zehn Ameisen von einer Stelle losgehen, nimmt die eine den Weg durch das Gras, die andere über die Steine, die dritte über den Teppichboden – jede davon beschreibt die Erde ganz anders und erlebt ein anderes Universum.

Dazu gibt es eine berühmte alte Geschichte:

Der König der Blinden hörte von einem Elefanten. Er sandte nacheinander fünf Gesandte, die herausfinden und beschreiben sollten, was ein Elefant ist. Der erste Gesandte berührte die Beine des Elefanten und sagte: „Oh König, der Elefant ist wie eine große Säule.“ Der König dachte: Gut. Aber einer kann sich irren, sicherheitshalber schicke ich einen zweiten hin. Der Zweite kam hin und fasste den Bauch des Elefanten an. Er sagte: „Oh König, der Elefant ist wie ein großes, weiches, durchhängendes Dach.“ Das fand der König nun recht merkwürdig. Er schickte einen Dritten hin, der überprüfen sollte, wer von beiden recht hatte. Der Dritte fasste an den Stoßzahn des Elefanten und sagte: „Oh König, der Elefant ist wie ein spitzer Ast, gebogen und hart.“ Nun war der König ganz verwirrt und schickte den Vierten los. Der Vierte fasste hinten an den Schwanz und sagte: „Oh König, der Elefant ist wie ein großes Haarbüschel.“ Und schließlich kam der Fünfte zurück, der hatte an den Rüssel gefasst und sagte: „Oh König, der Elefant ist wie ein weicher, flexibler Schlauch.“ Wer von ihnen hat recht?

13. Te vyakta-sûkshmah gunatmânah

Te = sie; vyakta = manifestiert; sûkshma = subtil, unmanifestiert; gunâtmânah = von der Natur der Gunas

Sie, ob manifestiert oder unmanifestiert, existieren in den drei Gunas.

Nachdem Patanjali großartig von verschiedenen Universen, Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft berichtet hat, sagt er jetzt, letztlich existiert alles nur aus den drei Gunas heraus, den drei Eigenschaften der Natur (rein, unruhig, träge).

14. Parinâmaikatvâd vastu-tattvam

Parinâma = Wandlung, Veränderung; ekatvât = infolge der Einzigartigkeit; vastu = des Objektes; tattvam = die Essenz, Wirklichkeit

Die Wirklichkeit eines Objektes rührt von der Einzigartigkeit in der Veränderung der Gunas her.

Ein Objekt besteht nur aus einem bestimmten Mischungsverhältnis von Gunas. Aus der Sicht der Physik kann man sagen: In gewisser Weise bestehen alle Elemente nur aus Elektronen, Neutronen, Protonen. Die Elektronen sind rajas, sie bewegen sich ständig. Die Protonen sind irgendwie tamas, sie führen zur Trägheit. Die Neutronen sind sattwa, sie gleichen irgendwie aus. Und aus diesen drei sind alle Elemente geschaffen. Der Unterschied zwischen Gold, Eisen, Blei, Zink, Sauerstoff besteht nur aus einer Anordnung von Elektronen, Neutronen und Protonen.

Das kann man ins Subtilere weiterführen: Der Unterschied zwischen einem Gedanken, einem Harmonium, einer Uhr und einer Brille ist nur die Zusammensetzung der Gunas. Alles ist eine Gotteserfahrung, eine Manifestation des Göttlichen, des Seienden. Es ist alles eins. Der Unterschied besteht nur im Mischungsverhältnis von Sattwa, Rajas und Tamas.

15. Vastu-sâmye chitta-bhedât tayor vibhaktah panthâh 

Vastu-sâmye = das Objekt, das gleich ist; chitta-bhedât = ein Unterschied im Verstand; tayoh = dieser beiden; vibhaktah = getrennt; panthâh = Weg

Ist das Objekt dasselbe, rührt der augenscheinliche Unterschied (zwischen zwei Wahrnehmungen) von den getrennten Wegen verschiedener Geiste her.

Dasselbe Objekt kann auf zwei Menschen ganz unterschiedlich wirken.

Zwei Menschen kommen zu einem Yogaseminar. Der eine findet es ganz fantastisch, hat wunderbare Erfahrungen, öffnet sich, fühlt sich aufgeladen, sein Leben verändert sich grundlegend. Der zweite reist nach dem zweiten Tag ab: Den ganzen Tag irgendwelche Verrenkungen, Nase zuhalten, Atem anhalten, eigenartiges Gesinge weit ab von jedem Takt und höherem Kunstverständnis, und den ganzen Tag auf dem Boden sitzen. Gleiches Objekt – zwei vollkommen verschiedene Erfahrungen.

Die Objekte an sich sind unterschiedlich, je nach Zusammensetzung der Gunas, und das gleiche Objekt kann auch ganz unterschiedlich wirken. Es kann auf zwei Menschen unterschiedlich wirken oder auch auf den gleichen Menschen, je nachdem, in welchem Gemütszustand er gerade ist.

Angenommen, wir sitzen abends zusammen, meditieren, singen Mantras und hören einen Vortrag über Raja Yoga an. Jemand kommt herein, der um fünf Uhr morgens aufgestanden ist und den ganzen Tag hart gearbeitet hat. In der Meditation schläft er halb, das Mantrasingen wiegt ihn langsam in den Schlaf und bei den Vorträgen kann er endlich entspannen. Der gleiche Mensch zwei Tage später: Ausgeschlafen, ausgeruht, fühlt sich besser, meditiert achtsam, ist in einem erhabenen Gemütszustand, singt „Jaya Ganesha“ voller Enthusiasmus, und beim Vortrag hört er jedes einzelne Wort aufmerksam an. Gleiche Situation, unterschiedliches Chitta (Gemüt, Empfinden).

Deshalb sollten wir auch immer vorsichtig sein, wenn wir etwas beurteilen. Unser Urteil ist nicht nur vom Objekt geprägt, sondern auch durch unseren Gemütszustand.

16. Na chaika-chitta-tantram vastu tad-apramânakam tadâ kim syât

Na = nicht; cha = und; eka = ein; chitta = Verstand, Geist; tantram = abhängig von; vastu = ein Objekt; tat = das; apramânakam = nicht erkannt; tadâ = dann; kim = was; syât = würde geschehen

Ein Objekt ist nicht vom eigenen Geist abhängig, denn es existiert, ob es nun von diesem Geist wahrgenommen wird oder nicht.

Hier widerspricht Patanjali der Vedanta–Philosophie, die sagt: Die Objekte existieren nur deswegen, weil es einen Geist gibt, der sich ihrer bewusst ist. In dem Moment, wo keiner mehr an sie denkt, hören die Objekte auf zu existieren. Sie sind nur eine Illusion.

Aber genau genommen ist es kein Widerspruch, sondern eine Frage des Standpunktes.

Von unserem subjektiven Standpunkt aus existieren die Objekte natürlich, egal ob wir an sie denken oder nicht. Manchmal missverstehen Menschen, mindestens für praktische Zwecke, die Vedanta- und Advaita-Philosophie. Zum Beispiel glauben Menschen manchmal, sie könnten eine Krankheit einfach wegdenken. Manchmal klappt es auch, weil Gedanken eine starke Kraft sind. Aber allein die Tatsache, nicht an etwas zu denken, macht es nicht ungeschehen – so wenig, wie den Kopf in den Sand zu stecken. Neulich habe ich das bei einem kleinen Jungen beobachtet – irgendetwas hat ihm nicht gefallen, da hat er sich die Decke über den Kopf gezogen. Dann existiert das Ding nicht mehr. Vogel-Strauß-Politik. Wir schließen die Augen, dann guckt keiner hin.

17. Tad-uparâgâpekshitvâch chittasya vastu jnâtâjnâtam

Tad-uparâga = die Färbung dadurch; apekshitvât = weil es nötig ist; chittasya = für, durch den Verstand; vastu = Objekt; jnâta = gewusst; ajnâtam =nicht gewusst

Ein Objekt ist dem Geist aufgrund der Färbung des Geistes entweder bekannt oder unbekannt.

Das ist die subtile Theorie der Wahrnehmung aus der Samkhya- und Yoga-Philosophie.

Der Geist wird dort mit einem Kristall verglichen, der sich durch das Objekt verfärbt oder mit einem See, in dem sich die Gegenstände spiegeln. Stellt man einen roten Gegenstand hinter einen Bergkristall, dann sieht der Kristall rot aus. Der gleiche Kristall vor einem gelben Hintergrund sieht gelb aus. Der Geist nimmt die Farbe der Objekte um uns herum an, wobei Farbe hier allegorisch zu verstehen ist. Der Geist nimmt auch Klänge, Bewusstseinsinhalte, Reaktionsmuster usw. an. Der Geist nimmt ein Objekt nur dann wahr, wenn dieses Objekt ihn färbt. An sich kennt unser Gehirn erst einmal gar nichts. Das Objekt muss irgendwie unser Gehirn, unseren Geist, färben, damit wir uns daran erinnern bzw. das nächste Mal eine Assoziation herstellen.

18. Sada jnâtash chitta-vrittayas tat-prabhoh purushasyâparinâmitvât

Sadâ = immer; jnâtâh = bekannt; chitta-vrittayah = die Modifikationen des Geistes; tat-prabhoh = von seinem Herrn; purushasya = des Purusha, des Selbst; aparinâmitvât = infolge der Unveränderlichkeit

Aufgrund der unveränderlichen Natur des Purusha (des Selbst) sind Modifikationen des Geistes dem Selbst immer bekannt.

Purusha, das Selbst, die Seele ist immer da. Und um ihn herum gibt es den Geist, Chitta. Purusha nimmt immer und in jedem Moment alle Veränderungen des Geistes wahr. Das Chitta (Gemüt, bewusster Geist) bekommt über die äußeren Sinne Wissen von der Welt. Purusha schaut sich die Welt durch das Chitta hindurch an und ist sich aller Empfindungen und Gedanken des Chitta bewusst. Chitta sieht ab und zu mal etwas nicht. Wenn wir schlafen, sehen wir die Welt nicht. Purusha aber ist niemals müde. Er ist sich immer des Chittas bewusst. Wir sprechen jetzt von Chitta als unserem bewussten Geist. Daneben gibt es natürlich noch den unbewussten Geist, aber das steht auf einem anderen Blatt.

19. Na tat svâbhâsam drishyatvât

Na = nicht; tat = es; svâbhâsam = selbst-erleuchtend; drishyatvât = Wahrnehmbarkeit

Das Gemüt hat keine eigene Leuchtkraft, denn es befindet sich im Bereich der Wahrnehmung.

Der Geist an sich erkennt nichts. Er erkennt deshalb, weil Purusha als Bewusstsein in ihm ist.

Er ist dem Mond vergleichbar. Der Mond strahlt nicht selbst, sondern spiegelt nur die Sonne. Und ein Spiegel hat keine Farbe an sich, sondern gibt seine Umgebung wider. Auch ein Kristall hat keine Farbe, sondern nimmt von seiner Umgebung die jeweilige Färbung an. Unser Gemüt, unser Geist nimmt nicht selbst etwas wahr und schafft auch nicht selbst etwas, sondern er nimmt die Farbe der Objekte an. Er kann auch aus der Erinnerung heraus die Farbe von früheren Objekten annehmen. Er kann die Farben auch mischen und so Kreativität entwickeln. Aber die Erkenntnis kommt von Purusha.

20. Eka-samaye chobhayânavadhâranam

Eka–samaye = gleichzeitig; cha = und; ubhaya = beide; anavadhâranam = Nichterfassen

Das Bewusstsein kann nicht zwei Dinge auf einmal wahrnehmen.

Der bewusste Geist nimmt eine Sache nach der anderen wahr. Das geschieht zwar so schnell hintereinander, dass man den Eindruck hat, man mache bzw. denke mehrere Dinge gleichzeitig. Zum Beispiel, wenn man in der Meditation sitzt, sein Mantra wiederholt und in Gedanken Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft plant. Das scheint alles gleichzeitig abzulaufen, ist es aber nicht. Es ist mal das eine, mal das andere in sehr schneller Abfolge. Der Geist springt.

21. Chittântara-drishye buddhi-buddher atiprasangah smriti-samskarash cha

Chittântara-drishye = in (einem Geist), der durch einen andern Geist wahrnehmbar wird; buddhi–buddheh = Wahrnehmung von Wahrnehmungen; atiprasangah = Überflüssigkeit, ad absurdum füh-ren; smriti = von Erinnerungen; samkarah = Verwirrung; cha = und

Wenn ein Geist einen anderen wahrnehmen könnte, dann würde Wahrnehmung der Wahrnehmung sowie Verwirrung der Erinnerung stattfinden.

Wenn der Geist gleichzeitig den Geist eines anderen wahrnehmen würde, dann gäbe es eine Wahrnehmung der Wahrnehmung und daher eine Verwirrung der Erinnerungen.

Deshalb empfiehlt auch Patanjali durchaus, nicht zu sehr zu versuchen, den Geist der anderen immer wieder zu verstehen und zu lesen. Er hat uns zwar vorher die Samyama–Technik angegeben, wie wir durch Konzentration auf das Herz eines anderen die Inhalte seines Geistes wahrnehmen können. Aber zu oft sollten wir das nicht machen.

Wir haben Swami Vishnu einmal gefragt, ob er unsere Gedanken lesen könnte. Denn er hat sich manchmal ganz offensichtlich so verhalten, als ob er Gedanken liest. Bei mir war es immer so: Ich habe mir monatelang alle Fragen, die ich nicht selbst beantworten konnte und für die ich auch vom Zentrumsleiter oder der Leiterin keine zufriedenstellende Antwort bekam, aufgeschrieben. Und wenn ich dann nach einer Weile wieder einmal zu Swami Vishnu kam, waren es meist ein paar Seiten voll Fragen. Dann habe ich immer ein paar Tage abgewartet, und in der Zeit hat er meistens den größten Teil meiner Fragen schon beantwortet. Entweder im Rahmen von Vorträgen direkt oder indirekt oder indem er mich zu sich hingezogen und mir irgendetwas erzählt hat, was dann genau die Antwort auf etwas war, was ich hatte fragen wollen.

Ich kann mich beispielsweise auch an ein Ereignis in Wien erinnern, dem ersten Yogazentrum, das ich leitete. Ich war ein paar Monate dort und irgendwie lief es auch sehr gut. Ein paar der älteren Mitarbeiter befürchteten, mein Ego werde zu dick und warnten mich, aufzupassen. Nun wusste ich selbst nicht so genau: Ist es jetzt Ego oder ist es Hingabe und Pflichterfüllung bzw. Dienst am Guru und an Gott. Und während ich nun darüber nachgedacht und ständig versucht habe, an Gott zu denken und ihm alles zu widmen – manchmal ist es schön, wenn man ganz naiv ist, so am Anfang, dann funktioniert alles noch besonders gut – kam plötzlich ein Brief von Swami Vishnu, in dem stand, meine Motivation sei richtig, Swami Sivananda wirke durch mich hindurch.

Damals habe ich wirklich ständig darüber nachgedacht – ich frage mich das natürlich auch heute noch, aber jetzt denke ich nicht so viel nach.  Es geschieht einfach, es ist zu meiner zweiten Natur geworden. Und dann kam dieser Brief von Swami Vishnu, ohne dass ich ihm die Frage überhaupt gestellt hatte! Und es hatte auch sonst niemand mit ihm darüber gesprochen, denn damals gab es keine E-mail oder ähnliches.

Aber auf die Frage, ob er Gedanken lesen könne, hat er geantwortet: „Ich habe schon genug Probleme mit meinem eigenen Geist. Stellt euch vor, ich könnte jetzt die Gedanken von euch allen hier lesen. Ich würde innerhalb von fünf Minuten verrückt werden!“

22. Citer apratisamkramâyâs tad-âkârâpattau sva-buddhi-samvedanam

Chiteh = des Bewusstseins; apratisamkramâyâh = von einem, der nicht von Ort zu Ort wandert; tadâkâra = seine Form; âpattau = in der Annahme; sva-buddhi = Selbsterkenntnis; samvedanam = Wissen (über)

Wissen über sich selbst kommt durch die Selbstwahrnehmung, die einsetzt, wenn der Geist still gemacht wird.

Das ist im Grunde genommen das gleiche wie „Chittas Vritti Nirodhah“ aus dem ersten Kapitel. Ist der Geist in der Stille, kommt das Wissen des Selbst.

23. Drastri-drishyoparaktam chittam sarâartham

Drashrti = der Sehende, Wissende; drishya = das Gesehene, Gewusste; uparaktam = gefärbt; chittam = Geist, Verstand; sarvârtham = allumfassend

Der Geist, der durch den Sehenden, das Selbst, und das Gesehene gefärbt ist, versteht alles.

Das kann man wieder auf zwei Arten interpretieren.

Einmal ist das eine Darstellung der Wahrnehmungstheorie aus yogischer Sicht. Der Geist kann grundsätzlich alles wissen und verstehen, weil er einerseits das Selbst, Purusha, hat, welcher alles wahrnimmt und andererseits ist da die ganze Prakriti, die ganze Schöpfung. Das Chitta (der Geist, das Gemüt) kann grundsätzlich von allem gefärbt werden, je nachdem, wohin, in welche Richtung es sich wendet. Und da hinter ihm Bewusstsein ist, eben Purusha, kann das Chitta grundsätzlich alles wahrnehmen und erkennen.

Die zweite Interpretation ist: Wenn wir in der Lage sind, unser Chitta sehr ruhig zu halten und unsere Vorurteile und all das herauszuhalten, dann färbt das Chitta sich tatsächlich ganz genau wie das Objekt. Dann wissen wir über die Objekte sehr viel besser Bescheid als jemand, der ständig nur mit Vorurteilen und eingefahrenen Denk- und Verhaltensmustern an alles herangeht. Ein reiner Kristall oder ein ganz stiller, sauberer See widerspiegeln die Welt klar und deutlich.

24. Tad asamkhyeya-vâsanâbhish chitram api parârtham samhatya-kâritvât

Tad = das; asamkhyeya = unzählige; vâsanâbhih = durch Vasanas, Wünsche; chitram = mannigfaltig; api = obgleich; parârtham = um eines anderen willen; samhatya–kâritvât = infolge gemeinsamen Handelns

Der Geist, obwohl mit unzähligen Neigungen und Wünschen erfüllt, handelt für das Selbst, denn sie handeln zusammen.

Obgleich der Geist oft verrücktspielt oder zu spielen scheint, ist er eigentlich Diener des Selbst. Er vergißt das zwar manchmal, aber gewissermaßen ist das seine Aufgabe. Wir haben den Geist, um die Erfahrungen zu machen, die wir machen wollen und müssen, um uns letztlich auch wieder von allem zu befreien.

25. Vishesha-darshina âtma-bhâva-bhâvanâ-vinivrittih

Vishesha = Unterschied; darshinah = von dem, der sieht; âtmabhâva = Bewusstsein des Selbst; bhâvâna = glauben, zu sein; weilend; vinivrittih = völliges Aufhören

Wer diesen Unterschied sieht, hört auf, den Geist als Atma zu sehen.

Viele Menschen denken: Ich bin der Geist, ich bin die Emotionen, ich bin die Gefühle. Die Vorstellung, dass wir etwas anderes sein könnten als die Gefühle und die Wahrnehmungen auf physischer Ebene ist Menschen völlig fremd. Und selbst für spirituelle Aspiranten, die wiederholen: „Aham Brahma asmi“ ist das „Ich bin Brahman“ nicht mehr sehr aktuell, sobald irgendwelche Emotionen kommen, vor allem bei negativen oder belastenden Emotionen. Aber wenn wir anfangen, diesen Unterschied zwischen Geist und Selbst zu sehen und auch spüren, dann mögen zwar auch Emotionen da sein, aber wir sind nicht mehr so stark davon beeindruckt und beeinflusst. Wir wissen: Das Selbst ist separat davon.

26. Tadâ hi viveka-nimnam kaivalya-prâgbhâram chittam

Tadâ = dann; hi = wahrlich; viveka-nimnam = geneigt zur Unterscheidung; kaivalya-prâgbhâram = der Befreiung zustrebend; chittam = der Geist, Verstand

Mit einer Neigung zur Unterscheidungskraft strebt er in Richtung der Befreiung.

Erste Voraussetzung ist, dass wir überhaupt erst einmal erkennen, dass wir gebunden sind. Und während wir um die Gebundenheit wissen, muss uns klar werden, dass wir eigentlich frei sein könnten. Wenn wir wissen, dass das Selbst etwas anderes ist als der Geist, dann wissen wir: Wir sind momentan gebunden. Wenn wir diese Unterscheidungskraft erworben haben, wollen wir natürlich nicht länger gebunden bleiben. Von diesem Moment an können wir nach Befreiung streben.

27. Tach-chhidreshu pratyayântarâni samskârebhyah

Tach-chidreshu = darin Unterbrechungen in ihm; pratyayântarâni = andere Pratyayas, Gedanken; samskârebhyah = aus der Stärke der Samskaras, der früheren Eindrücke im Geist

Gedanken, die als Unterbrechung der Unterscheidungskraft aufsteigen, rühren von vergangenen Samskaras her.

Deshalb geht es auf dem spirituellen Weg nicht so schnell. Wir können einen Augenblick lang eine wunderschöne Einsicht haben und wirklich erkannt haben: Ja, ich bin das unerschütterliche, unvergängliche Selbst, ich bin nicht der Geist. Und kurz danach identifizieren wir uns wieder mit unseren Gedanken und unserem Selbstbild und all dem. Das merkt man besonders an der eigenen Reaktion, wenn einen jemand kritisiert oder etwas schief geht oder man meint, man müsste etwas anderes tun als das, was jetzt gerade von einem verlangt wird. Dann merkt man, dass man sich wieder identifiziert

Diese Identifikation kommt von den vergangenen Samskaras (Eindrücken) aus früheren Leben. Samskara für Samskara muss ersetzt werden, wie im Beispiel von dem Baumwolltuch, das wir in ein goldenes Tuch umwandeln können, indem wir Faden für Faden auswechseln. Deshalb dauert es so lange, bis man die Selbstverwirklichung erreicht.

28. Hânam eshâm kleshavad uktam

Hânam = Beseitigung; eshâm = von diesen; kleshavat = wie das der Leiden; uktam = wurde beschrieben

Ihre Beseitigung wird auf dieselbe Art erreicht wie die Beseitigung der Leiden, wie früher beschrieben wurde.

Wir hatten von den Ursachen der Kleshas, der Leiden gesprochen, nämlich Avidya, Asmita, Raga, Dwesha, Abhinidwesha, also Unwissenheit, Ego, Mögen, Nichtmögen und Angst. Auch die Samskaras (Eindrücke) rühren letztlich vom Handeln aus den Kleshas (Leiden) her. Das hinterlässt Eindrücke im Unterbewusstsein, die dazu führen, dass die Unterscheidungskraft nicht dauerhaft ist.

29. Prasamkhyâne ¢py akusîdasya sarvathâ viveka-khyâter dharma-meghah samâdhih     

Prasamkhâne = in Kenntnis der höchsten Meditation; api = sogar; akusîdasya = kein Interesse haben, den Wunsch aufgeben; sarvathâ = auf jede Weise; viveka–khyâteh = Unterscheidungskraft; dharma–meghah = Herabströmen der Dharmas; Samâdhih = überbewusster Zustand

Wer selbst den Wunsch nach dem höchsten Bewusstseinszustand aufgegeben hat und Unterscheidungskraft übt, bekommt Dharma-Meghah-Samadhi.

Wenn man schließlich sogar den Wunsch nach Befreiung aufgegebenen hat, erreicht man nicht nur normalen Samadhi, sondern Meghah-Samadhi, ja sogar Dharma-Meghah-Samadhi.

Dharma-Meghah-Samadhi heißt eigentlich „Die Wolke“. Shri Karthikeyan hat mir mal gesagt, die Übersetzung von Swami Vishnu sei hier nicht ganz treffend. Aber Swami Vishnu hält sich sehr eng an Vivekanandas Interpretation der Yoga Sutras, daher scheint es zumindest eine verbreitete Übersetzung zu sein.

Das Hauptmittel zur Befreiung ist der Wunsch nach Befreiung. Aber er ist gleichzeitig auch das letzte Hindernis. Ganz zum Schluss, wenn wir sehr weit entwickelt sind, müssen wir auch den Wunsch nach Befreiung aufgeben. Dann sind wir befreit. Das mag paradox klingen.

Wenn wir zum Beispiel aufs Dach steigen wollen, was benutzen wir? – Eine Leiter. Das Mittel, um aufs Dach zu steigen, ist eine Leiter. Und was müssen wir als letztes tun, um wirklich auf das Dach zu kommen? – Die Leiter verlassen. Das letzte Hindernis vor der Berührung des Daches ist die letzte Stufe der Leiter und vielleicht auch die Sicherheit der Leiter.

30. Tatah klesha-karma-nivrittih

Tatah = daher; klesha = Leiden; karma = Handlung und ihre Folgen; nivrittih = Aufhören, Freiheit von

Daraus folgt Befreiung von allen Leiden und Karma.

31. Tadâ sarvâvarana-malâpetasya jnânasyâ-nantyâj jneyam alpam

Tadâ = dann; sarva = alle; âvarana = das, was verschleiert, verhüllt; mala = Unreinheiten; apetasya = ohne, nach Beseitigung von; jnânasya = vom Wissen; ânantyât = wegen der Unendlichkeit von; jneyam = das Erfahrbare; alpam = nur wenig

Dann, mit der Beseitigung aller Ablenkungen und Unreinheiten wird es ersichtlich, dass das, was vom Geist erkannt werden kann, winzig ist, verglichen mit dem unendlichen Wissen der Erleuchtung.

Dann erkennen wir: Alles, was vorher war, war eigentlich nichts im Vergleich zu dem, was wir jetzt erfahren.

32. Tatah kritârthânâm parinâma-krama-samâptir gunânâm

Tatah = dadurch; kritârthânâm = nachdem sie ihren Zweck erfüllt haben; parinâma = von den Veränderungen; krama = Vorgang; samâptih = das Ende; gunânâm = der drei Gunas, Grundeigenschaften

Die drei Gunas, die ihren Zweck, den Vorgang der Veränderung, erfüllt haben, hören auf zu existieren.

Haben wir die Selbstverwirklichung erreicht, dann verschwinden die drei Gunas für uns. Die Verbindung von Prakriti (Natur) und Purusha (Selbst) löst sich auf.

33. Kshana-pratiyogî parinâmâparânta-nigrâhyah kramah

Kshana = Augenblicke; pratiyogî = entsprechend; parinâma = Wechsel; aparânta = am Ende; nirgrâhyah = wahrnehmbar, ersichtlich; kramah = Vorgang, Aufeinanderfolge

Der Vorgang der Aufeinanderfolge von Augenblicken wird am Ende der Umwandlung der Gunas ersichtlich.

Das Leben besteht aus aufeinanderfolgenden Augenblicken. Es erscheint so, als hätten diese alle etwas miteinander zu tun, aber eigentlich läuft nur ein Film ab. Einige Verse weiter oben hat Patanjali uns ja schon die Illusion von einem freien Willen geraubt, indem er gesagt hat: Es existiert schon alles und wir gehen einfach irgendwie hindurch. Wenn wir ins Kino gehen, können wir uns entscheiden, welchen Film wir anschauen. Im Film entwickelt sich die Handlung schrittweise, so, als entstünde sie gerade eben. Alles verläuft meist sehr dramatisch, man bangt mit dem Helden und der Heldin, freut sich über das Happyend oder ist traurig, wenn es ausbleibt. Aber es ist alles vorher schon auf einem Zelluloidstreifen aufgezeichnet. So ist es mit dieser Welt.

Letzter Vers:

34. Purushârtha-shûnyânâm gunânâm pratiprasavah kaivalyam svarûpapratishthâ va chiti–shakter iti

Purushârtha = Ziel des Purusha, des Selbst; shûnyânâm = ohne; gunânâm = der Gunas, der Grundeigenschaften; pratiprasavah = Rückgang, Wiedereintauchen; Kaivalyam = Befreiung; svarûpa = in der eigenen Natur; pratishthâ = Niederlassung, Rückzug; vâ = oder; chiti–shakteh = von der Kraft des reinen Bewusstseins; iti = Ende

Kaivalya ist der Zustand, in dem die Gunas ins Gleichgewicht kommen und verschmelzen. Sie haben keinen Bezug mehr zu Purusha. Die Seele ruht in ihrer wahren Natur – reinem Bewusstsein.

Dann sind wir befreit: Nichts mehr zu tun, kein Leid, kein Vergnügen, kein Schmerz, keine Aufgaben, keine Mantras, keine Asanas, nichts.

Ist das nicht langweilig? Es gibt dann nicht mehr die Frage von Langeweile, weil es keine Zeit mehr gibt. Es gibt auch niemanden, dem es langweilig werden könnte, denn es gibt nur noch eine Bewusstheit, Sat Chid Ananda, reines Sein, Wissen und Glückseligkeit.


Anhang: Wichtige indische Schriften und Philosophiesysteme

Raja Yoga -Valmiki Ramayan Veda

Klassische indische Schriften
Klassische indische Theorie
Weitere Theorien

Einteilung der indischen Schriften

1. Die Veden
2. Die Smritis
3. Die Puranas und Itihasas
4. Die Sutras
5. Agamas und Tantras
6. Hatha Yoga Schriften

Die sechs indischen Philosophiesysteme

Dies sechs Darshanas heißen:
1. Purva Mimamsa
2. Vaisheshika
3. Nyaya
4. Samkhya
5. Yoga (bezogen auf Patanjali)
6. Uttara Mimamsa = Vedanta

Klassische indische Schriften – Theorien der westlichen Orientalistik

Die Ursprünge des Yoga selbst liegen im Dunkeln. Die ältesten archäologischen Zeugnisse der indischen Hochkultur stammen aus der sogenannten Induskultur, die ihre Blütezeit zwischen 3500 und 1500 v.Chr. hatte. Es existierte auch eine Schrift, die allerdings noch nicht entziffert ist, denn sie scheint nach einer anderen Logik aufgebaut zu sein als alle anderen bisher bekannten Schriften. Sie hat auch keine Ähnlichkeit mit Sanskrit. Archäologischen Ausgrabungen zufolge handelte es sich um eine großartige Hochkultur mit schachbrettartig angelegten blühenden Städten, die über Kanalisation und fließendes Wasser verfügten. Die größten heute bekannten Städte dieser Hochkultur sind Harapa und Mojendra.

Um 2000 v.Chr. herum werden die Ausgrabungsfunde geringer und schon um 1500 v.Chr. gibt es keine Zeugnisse mehr von der Induskultur. Aus unbekannten Gründen hat sie sich irgendwann aufgelöst, ohne Anzeichen größerer Schlachten oder sonstiger Katastrophen. Nach einer Theorie westlicher Orientalisten war der Landbau eventuell nicht sehr ökologisch, so dass das Land allmählich auslaugte und die Bewohner die Böden deshalb verlassen mussten.

Eine zweite Theorie beruht auf der Einwanderung der Indogermanen um 1500 v.Chr. Diese sogenannten Arier – der Ausdruck hat zwar in Deutschland einen eigenartigen Klang, aber er kommt auch in der Bhagavad Gita (ind. Nationalepos) vor; Arier heißt eigentlich stark, mutig – kamen aus der südrussischen Steppe, zwischen Kaspischen Meer und Baikalsee, und sollen von dort in mehreren Wellen ausgewandert sein. Ein Teil von ihnen zog nach Persien, das wurden dann die Iranoarier, ein anderer Teil nach Indien, die sogenannten Indoarier. Bis heute haben Sanskrit und Persisch eine enge Verbindung. Wenn man Sanskrit kann, versteht man auch die meisten persischen Ausdrücke und die Bedeutung persischer Namen, wenn sie nicht arabischen Ursprungs sind.

So wird angenommen, dass die Arier zwischen 1500 und 1200 v.Chr. erst das Industal eroberten, dann die Ganges-Tiefebene und schrittweise den nordindischen Subkontinent. In Südindien dagegen blieben die sogenannten Drawiden. Sie gelten als Ureinwohner und hatten auch eine eigene Kultur. Manche Wissenschaftler mutmaßen, die Drawiden könnten dasselbe Volk sein, das auch die Induskultur gegründet hatte. Bis heute gibt es in Indien zwei ethnische Hauptgruppen, eben die eher hellhäutigen Arier im Norden und die dunkelhäutigen Drawiden im Süden.

Die höheren Kasten sind auch im Süden oft mit hellhäutigen arischstämmigen Menschen besetzt. Daneben gibt es in Indien natürlich noch sehr viele anderen Völker, sogar mongoloide Völker, gerade in Nord- und Nordostindien, die ebenfalls nach Indien eingewandert sind. Dann gibt es die sogenannten Awinashis, die Stämme, die bis heute im Wald leben und nie seßhaft geworden sind. Früher hatten sie genügend Wald. Heutzutage wird der Wald immer mehr abgeholzt, weil die Bevölkerung im Vergleich zu vor 50 Jahren von etwa 200 bis 300 Millionen auf über eine Milliarde angewachsen ist.

Wenn man Pakistan und Bangladesh noch dazuzählt, gibt es auf dem indischen Kontinent 1,1 oder 1,2 Milliarde Menschen, also mindestens genauso viele Inder wie Chinesen. Die Inder haben ein höheres Bevölkerungswachstum. Man muss sich auch immer vor Augen halten, dass Indien doppelt so viel Einwohner hat wie Europa. Manchmal spricht man von der indischen Kultur oder dem indischen Volk. Das stimmt so wenig, wie man von einem europäischen Volk sprechen kann, obgleich es bis zu einem gewissen Grad in Europa eine einheitliche Kultur gibt. Aber man kann nicht unbedingt sagen, dass die Spanier, Italiener, Skandinavier, Russen, Griechen, Deutschen alle gleich seien. Genauso ist es auch mit der Völkervielfalt in Indien.

Indien war historisch auch ganz selten geeint. Es bestand, wie Europa, aus verschiedenen Reichen, die zwischendurch geeint wurden. Und da Indien immer ein reiches Land war, kamen auch stets von außen Einwanderer und Eroberer.

Um die Zeit der arischen Einwanderung sollen dieser Theorie zufolge auch die indischen Schriften entstanden sein. Es sollen ursprünglich rein arische Schriften gewesen sein, die die Indogermanen mitbrachten und die sich später allmählich mit dem drawidischen Gedankengut vermischten. Auf die indogermanische, abendländische Kultur gehen die Vorstellungen von Brahman, Atman und die vedischen Götter wie Indra, Varuna, Agni und so weiter, zurück. Von der drawidischen Religion nimmt man an, dass es sich ursprünglich mehr um eine Mutterreligion mit Verehrung der Göttin, eine tantrische Kultur, gehandelt hat, die sich im Gegenzug in den ersten Jahrhunderten nach Christus wieder über ganz Indien ausgebreitet hat und auch von der sogenannten brahmanischen Kultur absorbiert wurde.

In indologischen und zum Teil auch in Yogabüchern liest es sich immer so, als sei das historisch klar bewiesen. Es gibt aber in Wirklichkeit keine archäologische Beweisführung dafür, dass die Indogermanen tatsächlich die Indusbewohner besiegt haben. Man weiß nur, es gibt hellhäutige Inder, die aussehen wie Europäer und überwiegend in Nordindien leben, und es gibt eben die dunkelhäutigeren Drawiden in Südindien. Es bestehen auch zwei verschiedene Sprachfamilien in Indien: Die indogermanischen Sprachen, die vom Sanskrit abgeleitet sind und die drawidischen Sprachen. Die Theorie stützt sich hauptsächlich auf die Sprachwissenschaft und die Ethnologie.

Die zeitliche Bestimmung ist deshalb so schwierig, weil die Inder auf Palmblätter geschrieben haben, die nach ein paar hundert Jahren vollständig zerfallen waren und immer wieder kopiert, also abgeschrieben, wurden.  Man findet keine uralten Originale. Um 250 v.Chr. ließ Ashoka einige Schriften in große Steintafeln meißeln. Aber dabei handelt es sich um buddhistische Inschriften.

Klassische indische Theorie

Nach klassischer Chronologie sind die Schriften zu Beginn des Kali Yuga entstanden, also um 3500 v.Chr. Die mündliche Überlieferung geht noch erheblich weiter zurück.

Zu Beginn des Kali Yuga, des Eisernen Zeitalters, erkannte Vyasa, ein großer Yogi und Rishi (Seher), dass die Menschen sich nicht mehr so viel merken können, dass außerdem die Lebensspanne abnehmen und die ganze Zivilisation materialistischer werden wird. Er erhielt innerlich den Auftrag, das Wissen in den Veden festzuhalten. So hat er die Veden aufgeschrieben, unterteilt und anschließend auch die anderen Schriften gleich mitgeschrieben.

Nach der indischen Mythologie hat Vyasa den größten Teil aller indischen Schriften selbst geschrieben. Die Veden hat er wahrscheinlich persönlich geschrieben und die Puranas hat er gesammelt und seinem Sohn Sukadev weitergegeben, der ein fotografisches Gedächtnis hatte und sie seinerseits weitererzählte, so dass sie zum Teil erst etwas später niedergeschrieben wurden. Die Itihasas, zum Beispiel die Mahabharata, soll er selbst geschrieben haben. Die Smritis entstanden zum Teil etwas später.

Es gibt neuerdings auch einige Untersuchungen der Veden unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Die Inder sind ja sehr wissenschaftlich orientiert. Sie haben die Atombombe entwickelt, Satelliten im Weltraum und sind in der Computerwissenschaft, beim Programmieren, absolute Weltspitze. Aber es gibt eine ganze Reihe indischer Top-Wissenschaftler, die irgendwann erkennen, dass die westliche Wissenschaft auch nicht so weit führt, mit ihrem wissenschaftlichen Handwerkszeug die alten Schriften analysieren und dabei interessante Parallelen entdecken.

Beispielsweise gibt es eine Analyse des Sternenhimmels zur vedischen Zeit. Der in den Veden beschriebene Sternenhimmel war ein anderer als heute. Da die Erde leicht schief im Weltraum kreist, verschiebt sich der Sternenhimmel von der Erde aus gesehen etwa alle 2000 Jahre um 30 Grad. Darauf beruht das sogenannte platonische Jahr und darauf beruht auch, dass wir uns jetzt im Zeichen des Wassermanns befinden. Und aus den in den Veden beschriebenen Konstellationen der Hauptsterne, der Sternbilder, ihrem Verhältnis zueinander, lässt sich eindeutig nachweisen, dass es sich dabei um den Sternenhimmel der Zeit vor 3500 v.Chr. handelt – und nicht um den von 1500 v.Chr. Demnach wäre praktisch der ganzen westlichen Orientalistik der Boden entzogen, alle bisherigen Theorien in Frage gestellt und die Veden eindeutig um 3500 v.Chr. entstanden.

Dann hätten die Veden nämlich zur Zeit der Induskultur schon bestanden und die Indogermanen hätten sie nicht mitgebracht, sondern mehr oder weniger übernommen.

Weitere Theorien

Und es gibt noch eine andere interessante Theorie, die Swami Vishnu gelegentlich erzählt hat. Sie ist in den Schriften erwähnt, es gibt aber – wie für die der westlichen Orientalistik – keine archäologische Beweisführung dafür. Danach wären wir die Nachfahren der Induskultur.

Krishnas nordindischer Volksstamm der Yadavas war besonders heldenhaft. Krishna wollte aber nicht in die Politik und die Kämpfe seiner Zeit hineingezogen werden. Deshalb schuf er aus seiner Yoga Maya, seiner Yogakraft heraus, einen Kontinent namens Dvaraka vor Indien, auf den er mit seinem Volk auswanderte, um dort ein ideales Staatswesen zu gründen.

Aber selbst Krishna ist an den Menschen gescheitert. Er schuf ein gut funktionierendes Wirtschaftssystem, so dass es allen gut ging. Aber wie es so ist, wenn es einem sehr gut geht, man wird schnell korrupt und materialistisch. Daher bestimmte Krishna, dass der Kontinent nach seinem Tod untergehen sollte und beauftragte seinen Schüler Arjuna, nach seinem Tod die Yadavas nördlich der großen Schneeberge zu führen. Und so geschah es dann auch. Krishna starb, damit begann das Kali Yuga, Arjuna ging nach Dvaraka, erfüllte Krishnas Wunsch und zog mit den Yadavas, zumindest mit denen, die ihm glaubten, was nicht die Mehrheit war, nördlich des Himalaya, ließ sie dort zurück und kehrte selbst nach Indien zurück. Danach wären wir Nachfahren des Volksstammes der Yadavas.

Man könnte die Geschichte von Dvaraka auch deuten als Geschichte von einem untergegangenen Kontinent, von dem die Menschen ihre Zivilisation mitgebracht haben.

Und es gibt die Theorien, wonach die ganze irdische Zivilisation nicht hier begonnen hat, sondern auf anderen Planeten. Und wenn man die Bücher von Däniken liest oder die indischen Schriften oder die Bibel, dann spricht durchaus einiges dafür. Man findet sehr oft Hinweise auf fliegende Gefährte, zum Beispiel im Ramayana. Dort werden Flugzeuge beschrieben, die großen Lärm machen, Feuer speien und bei einer bestimmten Geschwindigkeit – also beim Durchbrechen der Schallmauer – gibt es einen furchtbaren Knall. Manche fliegen nur durch die Kraft der Gedanken und sind noch erheblich schneller. Sie fliegen zu anderen Planeten und kehren zurück. Da gibt es ganz wilde Aussagen. Von Däniken würde auch die Devas nicht als Engelswesen interpretieren sondern als Wesen von anderen Planeten, die hierher gekommen sind und die Kultur gebracht haben.

Swami Vishnu hat sich dazu nicht übermäßig geäußert, aber er meinte, wir seien nicht die erste Raumfahrtkultur und die Zivilisation habe nicht auf der Erde angefangen, denn die Zeit seit der Entstehung des Lebens auf der Erde sei zu kurz gewesen, um sich so schnell so weit zu verändern und zu entwickeln.

Es könnte genauso gewesen sein, dass die Menschen der Induskultur hellhäutig waren, zum großen Teil nach Zentralasien ausgewandert sind und dass die Drawiden in Südindien eine eigene Kultur hatten und sie sich Schritt für Schritt vermischt beziehungsweise eben nicht vermischt haben, so dass die hellhäutigen in Nordindien eine Kaste geblieben sind. Wenn sie nach Süden kamen, haben sie dort die höheren Kasten besetzt, und wenn Drawiden von Süd- nach Nordindien kamen, haben sie dort die niederen Kasten besetzt.

Über die Kastenentstehung gibt es noch eine andere Lehre, nämlich, dass die Kasteneinteilung nicht durch Religionszuhörigkeit, sondern aus inneren Motiven entsteht. Es gibt die vier Hauptwünsche des Menschen: Kama (Sinnesbefriedigung), Arta (Wunsch nach Reichtum), Dharma (Wunsch nach Gerechtigkeit und Selbstverwirklichung im modernen westlichen Sinn) und Moksha (Befreiung). Diejenigen, die hauptsächlich nach Sinnesbefriedigung, einem einfachen Leben streben, werden die Shudras. Sie verrichten ihre Arbeiten, haben nicht zu viele Pflichten, keine zu lange Arbeitszeit und können ihre Sinne auf einfache Weise befriedigen. Diejenigen, denen es hauptsächlich um Reichtum und Macht geht, werden die Vaishyas, die Bauern und Kaufleute.

Wenn Menschen, die reich werden wollen, die Wirtschaft beherrschen, dann floriert die Wirtschaft. Wenn gerechtigkeitsliebende Menschen versuchen, Unternehmen aufzubauen, klappt das meist nicht so ganz. Wer anderen helfen und dienen will, wem es um Gerechtigkeit und das Wohl der Gesellschaft geht, der soll die Regierung übernehmen. Das ist die Kaste der Kshatriyas. Kshatriyas sind nicht nur Krieger, sondern auch Beamte, diejenigen, die die Verwaltung organisieren. Und dann gibt es Menschen, denen es hauptsächlich um Moksha, Befreiung und Selbstverwirklichung geht. Das sind die Brahmanen, die Priester.

Manche Brahmanen nehmen auch Arbeiten an, damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können, vielleicht vier bis sechs Stunden am Tag,  so dass sie einen Teil des Tages arbeiten und den Rest der Zeit mit Studium und Sadhana verbringen können. Und anders als bei uns im Westen ist es nicht so, dass man mehr Rechte hat, je höher die Schicht, und umso weniger Rechte, je niedriger die Schicht, sondern umgekehrt.

Je höher die Schicht, umso mehr Restriktionen unterliegt man. Die Shudras können mehr oder weniger essen, was sie wollen und ihren Tag verbringen wie sie wollen. Die Brahmanen hingegen haben strikte Eßregeln, müssen früh zu einer bestimmten Zeit aufstehen, dreimal am Tag ein Bad nehmen, sich an hygienische und allgemeine Vorschriften und Rituale halten. Je höher die Schicht, desto schwieriger das Leben, je niedriger die Schicht, desto einfacher. Die eigene Natur, Swarupa, bestimmt die Kaste, Varna, und Swadharma, die eigenen Aufgaben. So steht es in den Schriften. Unabhängig davon lässt sich aber nicht leugnen, dass die Hellhäutigen die höheren Kasten stellen. Es könnte sein, dass man das ursprüngliche Kastensystem später modifiziert und die höheren Kasten den Herrschenden zuerkannt hat.

Einteilung der indischen Schriften

Als die Menschen ursprünglich die Schriften geschaffen haben, haben sie sich natürlich nicht an irgendwelchen Kriterien orientiert. Alle Einteilungen sind erst nachträglich entstanden, als man sich später überlegt hat, wie man die Schriften logisch aufgliedern könnte. Die Einteilungen sind auch in verschiedenen Schulen unterschiedlich.

Die indischen Hauptschriften gliedern sich in vier Teile:

1. Die Veden
2. Die Smritis
3. Die Puranas und Itihasas
4. Die Sutras

Agamas und Tantras
Hatha Yoga Schriften

Die Veden

Sie sind die ältesten, ursprünglichen indischen Schriften.

Die Veden werden auch als Shrutis bezeichnet. Shruti heißt wörtlich das Gehörte, wobei damit nicht gemeint ist, dass man es mit den Ohren gehört hat – sondern so, wie wir im Deutschen sagen würden, man hat Gott geschaut. Damit ist nicht gemeint, man hat ihn wirklich gesehen – er hatte zwei Augen und einen Bart -, sondern es bedeutet Schau im Sinne einer Enthüllung, Offenbarung. Shrutis sind das Gehörte, das man als Offenbarung empfangen hat. Von daher stimmt auch die Behauptung nicht, die man manchmal in der westlichen Theologie findet, wonach nur Judentum, Christentum und Islam die großen Offenbarungsreligionen sind, neben denen es nur noch die Primitivreligionen gibt.

Veda heißt Wissen – Wissen, das den Rishis, den Sehern, enthüllt, offenbart worden ist. Es heißt, das gesamte Wissen der Menschheit sei in den Veden enthalten. Brahma, der Schöpfer, soll vor der Erschaffung der Welt erst die Veden geschaffen haben. Natürlich hat er sie nicht zuerst aufgeschrieben – wo und wie hätte er sie auch aufschreiben sollen! – aber Veda als das Wissen um die Gesetze des Universums braucht man zuerst, um anschließend die Welt zu erschaffen. Und aus welchem Material hat er sie geschaffen? Er hat Tapas (Askese) geübt, daraus Energie gewonnen und mit dieser Energie und seinen Gedanken die Welt geschaffen. Das ist einer der vielen Schöpfungsmythen, die man in Indien findet.

Die Veden sind Sammlungen einzelner Enthüllungen, die verschiedenen Rishis gemacht wurden, von ihnen an seine Schüler weitergegeben und von Vyasa gesammelt und aufgeschrieben wurden. Zusammengefasst würden sie viele Bände ausmachen. Diese Schriftensammlung ist in vier Hauptteile gegliedert:

  1. Rigveda
  2. Samaveda
  3. Yajurveda
  4. Atharvaveda

Man kann nicht so genau sagen, was das Hauptthema jedes Veda ist. Man liest zwar manchmal, Rig behandle die Schöpfung, Sama die Musik, Yajur die Opferzeremonien und Atharva magische Praktiken, aber so ganz stimmt das nicht. Sie unterscheiden sich letztlich in der Melodie, mit der sie gesungen werden. Rigveda ist eine bestimmte Singweise, Samaveda ist eine ganz andere und Yajur und Atharva jeweils wieder eine andere.

Jeder dieser vier Hauptveden besteht wiederum aus vier Teilen:

  • Samhitas
  • Aranyakas – Karma Kanda
  • Brahmanas
  • Upanishaden – Jnana Kanda

Die Samhitas sind die Hymnen oder Mantras. Das ist der wichtigste Teil vom mythologischen Gesichtspunkt her. Bei einer Puja (Opferzeremonie) oder Yajna (Feuerritual) rezitiert man Samhitas. Die Aranyakas geben Erklärungen und Erläuterungen dazu. Die Brahmanas beschreiben die rituelle Anwendung und die genaue Ausführung der Rituale. Alle drei zusammen bilden den Karma Kanda-Teil der Veden, wobei Karma hier im Sinn von Ritual zu verstehen ist, nicht als Handlung. Karma Kanda ist der Teil der Veden, der sich mit Ritualen beschäftigt.

Die Upanishaden bilden den Jnana Kanda, den Teil, bei dem es um Wissen und Weisheit geht. Sie stellen den metaphysischen, philosophischen Abschnitt der Veden dar, in dem grundlegende Fragen behandelt werden wie „Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich, was ist der Sinn des Ganzen, wie erlange ich Befreiung?“. Sie sind der für den Yoga wichtigste Teil mit den Grundlagen des Jnana Yoga.

Die Smritis

Man nimmt an, dass die Smritis um 1200 v.Chr. bis 500 v.Chr. geschrieben wurden. Allerdings findet man auch andere Jahreszahlen. Die Zeitangaben differieren in Büchern und Artikeln über Orientalistik um ein paar Jahrhunderte.

Smriti heißt wörtlich Erinnerung. Die Smritis sind die Gesetzbücher, die Umsetzung der Shrutis, der Weisheit der Veden, in Regeln und Gesetze und deren Anwendung im täglichen Leben. Shrutis sind die ewige Wahrheit, das, was immer bleibt; Smritis sind veränderlich.

Es gibt sehr viele verschiedene Smritis. Sie ändern sich auch je nach den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Umständen der Zeit. Ursprünglich waren es sehr kluge gesellschaftliche Regeln für das Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen Kulturen, Religionen, Kasten, Generationen. Im Laufe der Zeit sind sie immer mehr verkrustet und es gab mehr und mehr Vorschriften. Das erleben wir ja auch bei uns. Jedes Jahr verdoppelt sich die Menge an Gesetzen.

Man kann praktisch nichts mehr machen, ohne irgendein Gesetz zu übertreten – vorausgesetzt, man kennt es überhaupt. Wenn man sich vorstellt, das geht noch zwei- oder dreihundert Jahre so weiter… Und so ähnlich haben sich auch die Smritis entwickelt. Die Verkrustungen wurden aber auch ab und zu wieder aufgerissen, sie wurden überarbeitet und neu geschrieben. Ein paar Jahrhunderte nach Christus hat das Aktualisieren und Anpassen der Smritis ausgesetzt. Daraus resultiert manche Unschönheit der hinduistischen Gesellschaft. Die großen Yogis der Gegenwart sagen, es müsste einen neuen Manu geben, also einen neuen Gesetzgeber, der Regeln vorgibt, wie man diese klassische Spiritualität in das praktische Leben integrieren kann, wie eine ideale Gesellschaft beschaffen sein müsste, die religiös, spirituell, orientiert ist und trotzdem auch den Nicht-Spirituellen gerecht wird. Das ist ja das große Kunststück dabei.

Die alten Smritis, in denen zum Beispiel die vier Ashramas (Lebensstadien) und die vier Varnas (Kasten) idealtypisch beschrieben sind, sind durchaus kunstvoll und faszinierend.

Im übertragenen, weiteren Sinne ist Shruti das Unveränderliche und Smriti allgemein die Anpassung an das tägliche Leben. Auch im Yoga muss man immer wieder überlegen, was ist das Unveränderliche, Ursprüngliche und was ist eher zeit- und kulturbedingt. Und da sind die indischen Yogalehrer, die in den Westen kommen, durchaus unterschiedlicher Meinung. Kein wirklich authentischer Yogi würde wohl behaupten, Yoga bestehe nur aus ein paar Entspannungsübungen. Aber manche sagen, es gehe im Yoga nur um die Transformation des Bewusstseins, mit dem Ziel, zur Einheit zu kommen. Wie wir das erreichen, sei unwesentlich und weder Mantrasingen noch Vegetarismus seien dafür notwendig. Bei Yoga Vidya haben wir einen eher klassischen Standpunkt. Mantrasingen, Vegetarismus und die Philosophie der Reinkarnation gehören bei uns zum ganzheitlichen Yoga dazu. Letztendlich muss jeder für sich zu einer Entscheidung kommen, wo er keine Kompromisse machen darf und wo Kompromisse nötig sind, um die Prinzipien im praktischen Leben überhaupt umsetzen zu können.

Also Shruti, die hohe Wahrheit und Smriti, die praktische Umsetzung.

Die Puranas und Itihasas

Die Puranas sind Göttergeschichten. Die Itihasas sind die sogenannten Heldenepen, wo zwar auch Götter eine Rolle spielen, es aber in der Hauptsache um Menschen geht, ähnlich wie in den griechischen Götter- und Heldensagen. Im ersten Teil spielen die Götter die Hauptrolle, im späteren Teil, in der Odyssee und Äneis, die Menschen.

Die bekannteste der Puranas ist die Bhagavatam, welche für die Hare Krishna-Bewegung eine besondere Bedeutung hat, aber nicht nur für sie. Swami Vishnu hat sie auch gerne gelesen. Sie erzählt Geschichten von Vishnu und Krishna. Die bekanntesten Itihasas sind das Ramayana und das Mahabharata.

Puranas und Itihasas waren für das „gemeine Volk“ bestimmt. Die Shrutis und Smritis waren den Brahmanen vorbehalten, die zwölf Jahre studiert hatten. Ähnlich wie auch das BGB (Bürgerliches-Gesetz-Buch) und das HGB (Handels-Gesetz-Buch) mehr für die Juristen ist, auch die Straßenverkehrsordnung, während das „gewöhnliche Volk“ im Theorieunterricht einen Teil davon lernt.

So ähnlich muss man es hier auch sehen. Puranas und Itihasas erklären die spirituellen Prinzipien auf einfache Weise. Denn die Menschen haben immer schon lieber Romane gelesen als philosophische Abhandlungen und sehen heute lieber Liebesfilme und Krimis als Videos über spirituelle Themen oder absolute Wahrheiten. Die zwei Dinge, die den Menschen schon immer am meisten fasziniert haben, sind Sex und Gewalt, Liebe und Krieg. Daher sind die Puranas und Itihasas voll von Liebesgeschichten, kriegerischen Eroberungen und menschlichen Dramen. Aber dazwischen ist die spirituelle Botschaft verpackt. Ab und zu trifft jemand einen Weisen, fragt ihn etwas und der Weise antwortet. Es darf dann zwar nicht zu lange dauern, sonst schalten die Menschen wieder ab, aber es kann wie in der Bhagavad Gita durchaus achthundert Verse umfassen. Die Bhagavad Gita ist ja Teil der Itihasas.

Nach der Theorie westlicher Orientalisten sollen die Puranas und Itihasas ein paar hundert Jahre vor Christus geschrieben worden sein, wobei schon das drawidische Gedankengut eingeflossen ist, so dass die alten vedischen Götter wie Indra, Varuna und Agni nicht mehr so vertreten waren. Man hat sie mehr als Engelswesen angesehen. Dafür wurden die neuen Götter wie Brahma, Vishnu, Shiva, Durga, Lakshmi, die noch älter waren, wieder bedeutender.

Seit dieser Zeit kann man in Indien drei hauptsächliche religiöse Strömungen unterscheiden. Wie im Christentum die Hauptströmungen Katholizismus, orthodoxe Christen und evangelische Christen, gibt es im Hinduismus mehrere religiöse Hauptrichtungen:

· Die Shaivas
· Die Vaishnavas
· Die Shaktas = Tantriker

Die Shaivas verehren besonders Shiva, die Vaishnavas Vishnu als höchsten Gott und die Shaktas Shakti Devi, die Göttin als kosmische Mutter. Sie werden auch als Tantriker bezeichnet.

Von diesen Richtungen gibt es jeweils noch zahlreiche Untergliederungen. Manche Shaktas verehren Durga besonders oder Lakshmi oder Kali. Aber mehr oder weniger werden alle miteinander gleichgesetzt; es sind einfach Manifestationen der gleichen Shakti.

Auch manche Puranas sind mehr auf einen Aspekt der Gottheit ausgerichtet. Es gibt zum Beispiel Shiva Puranas, Vishnu Puranas (die Bhagavatapurana, kurz Bhagavatam genannt) und die Shakti Puranas. Alle Unterströmungen haben ihre eigene Kultur, Riten, Religionen, Tempel und so weiter.

Letztlich kann man sagen, dem indischen Kastenwesen liegt eine multikulturelle Gesellschaft zugrunde, wobei jede Kaste ihre eigene Weise der Verehrung hat. Jede Kaste organisiert sich selbst, regiert sich selbst, und das in ganz unterschiedlicher Weise. Manche sind demokratisch, bei manchen ist die Herrschaft über die Gemeinschaft eher erblich, bei anderen durch Los bestimmt. Wir kennen im Westen oft nur die vier Hauptkasten: Brahmanen, Kshatriyas, Vaishyas und Shudras. Von größerer Bedeutung ist aber die Unterkaste in einer Gemeinschaft. Es gibt Tausende solcher Unterkasten. Damit das Zusammenleben klappt, muss alles geregelt sein und jede Unterkaste hat eine bestimmte Aufgabe in der gesamten Gesellschaft. Die Unterkaste ist oft mit einem oder einigen ausgewählten Berufen gekoppelt, die dann vererbt werden. Man heiratet normalerweise nur innerhalb seiner Kaste oder es gibt bestimmte Kasten, in die man auch noch hineinheiraten kann. Jede Kaste hat ihre religiösen Riten, die selbst oder von Priestern ausgeführt werden. Damit diese Selbstorganisation funktioniert, schuf man höhere und niedrige Kasten mit der zusätzlichen Zuteilung zu den vier Hauptkasten. Je nach Macht und Einfluss konnte sich die Rangordnung der Unterkasten auch wieder ändern.

Yoga war in Indien immer religionsübergreifend. Yoga ist die Mystik hinter der Religion, wenn man das Göttliche nicht nur glauben, sondern wirklich erfahren will. Man geht nicht nur einfach in den Tempel, nimmt das Prasad (gesegnete Nahrung) oder macht ein paar Riten, um etwas Bestimmtes zu bekommen, so wie Menschen in die Kirche gehen  und Kerzen opfern für einen besonderen Wunsch. Oder man macht eine Art Handel mit Gott, wie das zu meiner Kindheit üblich war:

Wenn ich in der Klassenarbeit eine Eins schreibe, opfere ich fünf Mark oder helfe meiner Mutter eine Woche beim Abwaschen oder so etwas Ähnliches. Heute kommt das wohl etwas aus der Mode. Leider, denn es ist eine frühkindliche Form von Glauben und Spiritualität, die gerade dann, wenn es auch tatsächlich klappt, einen Menschen irgendwie auf die erste Stufe des Glaubens setzt. Wenn es nicht funktioniert, kann man allerdings vielleicht schon als Kind zum Atheist werden… Jetzt hat man Gott schon fünf Mark versprochen und trotzdem hat man eine Sechs in der Klassenarbeit geschrieben – das verzeiht man Gott nicht so schnell! Solche Dinge sind auch in Indien üblich. Aber Yoga umfasst eben die Techniken in all diesen verschiedenen Traditionen, die dazu verhelfen wollen, das Göttliche selbst direkt zu erfahren und zu einer authentischen spirituellen Entwicklung zu kommen.

Die vier orthodoxen Hauptschriften – die Veden bzw. Shrutis, Smritis, Puranas und Itihasas – werden von allen Hindus als Autorität anerkannt.

Für den Yoga von besonderer Bedeutung sind die Upanishaden, die Quintessenz der Veden, und von den Itihasas die Bhagavad Gita als Teil des Mahabharata.

Sutras

Daneben gibt es zahlreiche spätere, nicht-orthodoxe Schriften, die sich jeweils nur auf ein Teilgebiet oder eine bestimmte Glaubensrichtung beziehen und nicht von allen Hindus anerkannt werden. Dazu gehören zum Beispiel die Sutras. Eine Sutra ist ein Leitfaden und die kürzeste Weise, etwas auszudrücken, während Puranas und Itihasas die längstmögliche Weise sind, etwas auszudrücken. Das Mahabharata ist bis heute das längste Epos der Weltliteratur. Alle deutschen oder englischen Ausgaben sind nur Zusammenfassungen. Das Original ist für unseren heutigen schnellebigen Geist auch etwas zu langatmig.

Für den Yoga von größter Bedeutung sind Yoga Sutras von Patanjali über den Raja Yoga und die Brahma Sutras über das Jnana Yoga. Daneben gibt es noch sehr viel mehr Sutras über verschiedenste Bereiche.

Agamas und Tantras

Das Wort Tantra hat eine vielfältige Bedeutung. Zum einen bezeichnet Tantra neben dem Shaivismus und dem Vaishnavismus eine der drei Hauptreligionsrichtungen Indiens. Zum zweiten ist Tantra ein bestimmtes Philosophiesystem, nämlich die Shiva-Shakti-Philosophie. Und zum dritten ist Tantra der Name für einen bestimmten Schrifttyp, die Agamas, die jeweils nur einer Tradition zugeordnet sind. Es gibt Vishnu Agamas, Shiva Agamas und Shakti Agamas, wobei die Shakti Agamas als Tantra bezeichnet werden.

Diese Tantras haben wieder eine besondere Bedeutung fürs Yoga, denn die Hatha Yoga-Schriften und auch die Mantra Shastras sind ein Teil davon.

Hatha Yoga Schriften

Es gibt vier Hauptschriften des Hatha Yoga:

  1. Hatha Yoga Pradipika
  2. Geranda Samhita
  3. Shiva Samhita
  4. Goraksha Sadhaka

In diesen Schriften sind die Mudras (Handstellungen) beschrieben, die Bandhas (Energieverschlüße) , die Asanas (Körperübungen), alle Konzentrationstechniken, die Kriyas (Reinigungen) und die Hatha Yoga-Meditationstechniken, zum Teil Theorie über Kundalini Yoga, über Chakras, Nadis (Energiekanäle).
Die sechs indischen Philosophiesysteme

Die sechs Philosophiesysteme werden auch als Darshanas bezeichnet. Darshan heißt wörtlich Sichtweise. Man könnte es auch durchaus mit Weltanschauung übersetzen. Aber es ist eine Sichtweise, es ist nicht die absolute Wahrheit.

Jedes Philosophiesystem ist nur ein Versuch, die Wahrheit zu beschreiben. Eigentlich kann man die Wahrheit nicht in Worte fassen. Sie kann nur direkt erfahren werden. Wenn man sie erfahren hat und anderen vermitteln will, muss man erneut Worte oder Bilder gebrauchen, was wiederum begrenzend ist. Daher gibt es auch sechs Darshanas mit unterschiedlichen Standpunkten, die jedoch aus indischer Sicht keine Widersprüche sind, sondern nur verschiedene Sichtweisen der gleichen Wirklichkeit.

Jedes Darshana ist ein Philosophiesystem, das versucht, Antworten zu geben auf die großen Fragen: Was ist die Welt? Woher kommt die Welt? Was ist der Mensch? Was ist Glück? Gibt es Gott? Was ist Gott? Was ist Leid? Was ist das Ziel des Lebens? Und wie kommt man dorthin? Wie kommt man zur Befreiung?

Dies sechs Darshanas

  1. Purva Mimamsa
  2. Vaisheshika
  3. Nyaya
  4. Samkhya
  5. Yoga (bezogen auf Patanjali)
  6. Uttara Mimamsa = Vedanta

Purva Mimamsa

Purva Mimamsa ist eine theistische Philosophie. Gott hat die Welt geschaffen. Das Ziel des Lebens ist es, in den Himmel zu kommen. Zu vermeiden gilt es, in die Hölle zu kommen. Um in den Himmel zu kommen, muss man Punyas ansammeln, Verdienste, und Papas, Sünden, vermeiden. Durch Papas zieht man erstens schlechtes Karma auf sich, zweitens kommt man in die Hölle und drittens wird man im nächsten Leben sehr schlecht wiedergeboren. Wenn man dagegen Punyas sammelt, erwirbt man künftiges Vergnügen, kommt in den Himmel und das nächste Leben ist umso besser. Diese Philosophie ist in Indien wohl am verbreitetsten.

Sie ist etwas differenzierter als die christliche Himmel- und Hölle-Philosophie, wo man auf ewig in die Hölle oder in den Himmel kommt, wobei es eigentlich keinen Sinn macht, dass ein Leben von durchschnittlich 70 oder oft auch weniger Jahren darüber bestimmen soll, dass man Trillionen von Jahren in der Hölle braten soll. Könnte so etwas ein liebender Gott wollen? – Das kann wohl nicht sein.

Man muss natürlich wissen, dass die Christen früher geglaubt haben, dass die Welt erst ein paar tausend Jahre existiert und bald untergehen würde.  So gesehen dauert die Ewigkeit auch gar nicht so lange.

Aber die Inder sind schon immer davon ausgegangen, dass es Trillionen von Trillionen von Trillionen von Leben gibt, und da ist die Ewigkeit schon sehr lange.

Purva Mimamsa beschreibt sowohl positive als auch negative Handlungen im täglichen Leben und beinhaltet auch ethische Gesichtspunkte. Wenn man anderen hilft, ist es Punya, wenn man andere schädigt, ist es Papa. Darüber hinaus gibt es alle möglichen Reinheitsvorschriften. Beachtet man sie, gibt es Punya, andernfalls Papa. Daneben gibt es einige Handlungen, die man unbedingt ausführen muss und die weder Punya noch Papa sind; unterlässt man sie jedoch, dann gibt es Papa. Führt man sie hingegen verstärkt aus, gibt es Punya.

Aber es bezieht sich auch noch auf etwas anderes. Wenn man etwas Bestimmtes erreichen will, kann man vorgeschriebene Rituale dafür machen. Angenommen, man will reich werden -, gut, eine Möglichkeit wäre, fleißig zu arbeiten -,  die andere, bestimmte Rituale dafür zu machen. Dabei würde man Lakshmi auf eine bestimmte Weise verehren, eine Yajna (Opferzeremonie), Tapas (Askeseübungen) und so weiter machen, dann wird Lakshmi einen segnen und man wird reich.

Oder angenommen man will ein Kind haben, dann muss man bestimmte Pilgerreisen machen, vorgeschriebene Mantras wiederholen, den Brahmanen eine gewisse Anzahl Kühe schenken, Almosen oder Hospitäler für Arme stiften. Wenn man das auf richtige Weise macht, bekommt man das Kind.

Oder man will heiraten und findet keinen passenden Partner oder der Mann, den man gerne haben will, ist schon vergeben oder möchte nicht oder die Familie weigert sich, dann gibt es bestimmte Rituale, den Mann in sich verliebt zu machen, alle Hindernisse verschwinden zu lassen und schließlich die Heirat herbeizuführen.

Wenn man schlechte Taten vollbracht hat und nach einiger Zeit von Gewissenskonflikten geplagt wird, gibt es bestimmte Bußübungen, die je nachdem, um welche Tat es sich handelt, ganz genau vorgeschrieben und auch recht drastisch sind. Es kann sein, dass man zwei Jahre in die Einöde gehen und 12 Stunden am Tag Askeseübungen machen muss. Oder man muss sein ganzes Vermögen den Armen zur Verfügung stellen oder sich vier Jahre als Diener im Tempel verdingen. In gewisser Hinsicht ist das durchaus eine kluge Weise, mit Schuld umzugehen, wenn man die Tat wirklich bereut.

Aber es kann auch zu Scheinheiligkeit und Berechnung führen, dann nämlich, wenn wir es bewusst in Kauf nehmen, etwas Unrichtiges zu tun, Nutzen davon haben und anschließend einfach ein paar Bußübungen machen, um kein schlechtes Karma zu bekommen.

Diese Praxis hat Ähnlichkeit mit bestimmten Formen des katholischen Christentums, wobei die Bußen dort relativ harmlos waren, und am Schluss werden einem die Sünden vergeben.

In der Bhagavad Gita liest man oft von Papa, Sünden. Gerade im ersten Kapitel spricht Arjuna davon, denn er hat große Angst, Sünden auf sich zu laden. Und Krishna sagt zum Schluss:

Sarvadarmam parityaja
Mam ekam sharanam vraja
Aham twa sarvapapebhyo
Mokshaishyami ma suksha

Papa ebhyo = ich befreie dich von allen Sünden, sorge dich nicht

Krishna wendet sich in der Bhagavad Gita anfangs noch recht diplomatisch, später ganz entschieden gegen diese Philosophie, während Arjuna ihr zunächst anhängt. Wörtlich sagt er: „Blumige Worte finden die Weisen, die an den rühmenden Worten der Veden Gefallen finden, oh Arjuna, und sagen, es gibt nichts anderes. Sie sind voller Wünsche. Der Himmel ist ihr Ziel und das Ergebnis ihres Tuns ist neuerliche Geburt. Sie schreiben verschiedene Methoden mit einer Überfülle von bestimmten Handlungen vor, um Vergnügen und Macht zu erlangen. In Menschen, die an Vergnügen und Macht hängen und deren Geist durch solche Lehren gelenkt wird, bildet sich nicht diese Bestimmtheit, die stets auf Meditation und Samadhi ausgerichtet ist.“

Letztlich mag es sein, dass die Mimamsa-Philosophie bestimmten Naturgesetzen folgt, aber laut Krishna geht es ihren Anhängern nicht wirklich darum, die Selbstverwirklichung zu erreichen. Sie kommen zwar in den Himmel, erreichen vielleicht Macht und Vergnügen, aber es führt nicht zur Befreiung, sondern in die Verhaftung hinein. Man hat ja nichts davon, wenn man reich wird. Ob wir nun reich werden, indem wir vierzehn Stunden am Tag arbeiten, sieben Tagen in der Woche ohne Pause oder ob wir dafür Rituale machen, das Ergebnis ist das gleiche, nämlich Bindung.

Trotzdem, das Purva Mimamsa-System hat durchaus auch seine Funktion. Es erklärt bestimmte Funktionsweisen von Karma wie Ursache und Wirkung und Kompensation. Und die verschiedenen Sühnerituale und Vorschriften können für die Mehrheit der Menschen, die sich unter Befreiung nichts vorstellen können, eine gute Motivation für ein ethisches Leben darstellen und helfen, mit schwierigen menschlichen Problemen wie Schuld und Sühne, Gerechtigkeit, Ärger, usw., besser umzugehen und fertig zu werden.

Ein paar Sachen könnte man auch durchaus in den Yoga integrieren. Es ist sicher sinnvoll, irgendwie Buße zu tun, wenn man eine schlechte Handlung begangen hat – am besten natürlich gegenüber dem betroffenen Menschen. Man kann sich entschuldigen und versuchen, die Sache wieder gut zu machen. Manchmal ist das nicht möglich, entweder weil der Mensch so böse ist, dass er einem nicht erlaubt, etwas zu tun oder weil er nicht in der Nähe ist und man nichts mehr mit ihm zu tun hat. Dann kann man stattdessen irgendeine Sühneübung dafür machen.

Und auch in Bezug auf das Karma können wir von der Mimamsa Philosophie lernen. Solange wir noch nicht so weit sind, vollständig egofrei zu handeln, können wir uns wenigstens zu guten Handlungen motivieren, indem wir uns sagen, Schlechtes kommt nur auf uns zurück. Und umgekehrt lernen wir auch, nicht an anderen Rache zu üben. Im Alten Testament heißt es: „Mein ist die Rache, spricht der Herr“. Jemand, der eine schlechte Handlung ausführt, richtet sich selbst zugrunde. So wie Jesus auch in einem der Evangelien sagt: „Es muss ja Übles kommen, aber wehe dem, durch den es kommt!“

Wir müssen unser Karma ernten. Wer uns gegenüber schlecht handelt, ist für uns zwar ein Diener des Karmas, aber er selbst wird darunter leiden müssen, wenn er es bewusst macht. Nicht umsonst sagt Jesus noch am Kreuz: „Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun“. Denn er wusste, für ihn war es vorbestimmt, so zu sterben und er hat es auf sich genommen. Aber für die anderen, die ihn ans Kreuz nageln, bringt es schlechtes Karma mit sich. Wir sollten Mitleid mit denjenigen haben, die uns bestehlen oder ungerecht behandeln. Sie richten sich selbst zugrunde und schaffen sich ihr eigenes Leiden. Uns geben sie Gelegenheit zu wachsen und sind das Werkzeug dafür, dass wir unser eigenes Karma ausarbeiten können. Wenn man das verstanden hat, gewinnt man auch eine gewisse Gelassenheit.

Ich muss zugeben, in meinem Leben gab es eigentlich nie Menschen, die sich mir gegenüber besonders bösartig benommen hätten. Aber es gab schon mal jemanden, der mich hinterrücks schlecht gemacht und angeschwärzt hat, was auch Konsequenzen für mich hatte. Im ersten Augenblick war ich natürlich schon ein bisschen ärgerlich, aber ich habe auch intuitiv geahnt, dass auf ihn nichts Gutes zukommen wird. Und es hat sich sehr schnell auf ihn ausgewirkt, ungefähr ein halbes Jahr später, und für ihn zu einer ernsthaften Krise geführt. Manchmal geht Karma sehr schnell. Manchmal braucht es auch ein, zwei oder drei Leben dazwischen. Dann sind eben die Wirkungszusammenhänge nicht so schnell zu erkennen. Auf dieser Ebene kann einem die Purva Mimamsa-Philosophie durchaus behilflich sein.

Aber vergessen wir nicht die Kritik, die Krishna übt: „Allein danach zu handeln, führt uns nicht weiter.“ Und erinnern wir uns auch daran, was Patanjali gesagt hat: Für den weltlichen Menschen ist Karma dreifach, weiß, schwarz und grau. Für den spirituellen Menschen ist es nichts davon. Für ihn gibt es einfach nur Aufgaben, die zu erledigen sind. Es gibt weder Gutes und noch Schlechtes, es gibt kein Karma, über das wir uns freuen oder über das wir uns zu ärgern brauchen und es gibt auch keine Handlung, die wir ausführen, damit es uns im späteren Leben gut geht, sondern wir tun alles für andere Menschen oder als Diener Gottes.

Vaisheshika

Vaisheshika ist ein materialistisches Philosophiesystem, welches das Universum als ein Zusammenspiel von Atomen, Kräften und Naturgesetzen ansieht und auf logischem, eindeutigem, naturwissenschaftlichem Denken beruht.  Danach besteht die Welt aus sogenannten Anus, Atomen, und verschiedenen Kräften, den Shaktis oder Energien.

Von dieser Philosophie gibt es mehrere Richtungen. Die extremste sagt, es gibt nur Materie. Auch die Seele ist ein Ausfluss der Materie. Lebensziel ist es, sich zu vergnügen, wobei man die Rechte der anderen achten und ihnen nicht schaden sollte, damit die Gesellschaft als Ganzes funktioniert. Höheres Ziel gibt es keines. Leiden ist, wenn man körperliche Schäden oder Krankheiten hat, seine Wünsche nicht befriedigen kann oder mit anderen Meinungsverschiedenheiten hat.

Auf dieser Ebene arbeiten weite Teile unserer materialistisch orientierten Wissenschaft, obgleich beispielsweise die Physik in letzter Zeit davon abgekommen ist, weil eben die physikalischen Gesetze letztendlich doch nicht so funktionieren. Trotzdem bleiben die meisten anderen Wissenschaftszweige weitgehend in diesem rein logischen Denken, insbesondere solche, bei denen es eigentlich nichts zu suchen hätte, wie die Medizin und Psychologie, die den Organismus rein materiell auffassen und alle anderen Gesichtspunkte vernachlässigen.

Dennoch hat die Vaisheshika-Philosophie durchaus auch ihren Platz, zum Beispiel in der Anatomie, beim praktischen Handeln im Alltagsleben oder bei den Hatha-Yoga-Übungen und ihren Wirkungen. Man darf die Naturwissenschaft nicht einfach außer Acht lassen. Auch als spiritueller Mensch sollte man das logische Denken nicht nur auf die Unterscheidungskraft zwischen dem Wirklichen und Unwirklichen beschränken, sondern sie auch im täglichen Leben einsetzen, zum Beispiel, um eine Leiter zum Dachboden zu bauen oder den Computer zu reparieren. Jemand hat mir mal gesagt, mit logischem Denken könne man fast alle handwerklichen und technischen Probleme lösen. Das war irgendwie ein Augenöffner für mich. Früher hatte ich nämlich immer großen Respekt vor solchen Sachen.

Zum Beispiel stellte ich in Frankfurt fest, dass in Deutschland keine Lampen installiert sind, wenn man eine Wohnung bezieht und da saß ich nun: Von den Decken hingen immer drei Drähte herunter – warum eigentlich drei? In der Schule hatte ich immer nur von Plus- und Minuspol oder Phase und Null gehört, aber was mit dem dritten sein sollte … – gut, aber mit Versuch und Irrtum und logischem Schluss habe ich dann tatsächlich alle Lampen installiert gebracht. Also Vaisheshika, logisches Denken, ist auch hilfreich, sowohl für die Gesundheit als auch im praktischen und beruflichen Leben. Wenn man Erfolg im Beruf haben will, sollte man sich nicht nur darauf beschränken, Lakshmi zu verehren, sondern auch lernen, mit den notwendigen Instrumenten umzugehen, um seine Arbeit gut ausführen zu können.

 Nyaya

Unter dem Begriff Nyaya sind zwei Philosophiesysteme zusammengefasst, so dass es eigentlich sinnvoller wäre, von sieben statt von sechs Philosophiesystemen zu sprechen.

Eine Variante von Nyaya ist das Philosophiesystem der Logik mit bestimmten logischen Sätzen wie Schlussfolgerungen, Dialektik, usw., ähnlich der Logik des Aristoteles. Man könnte sie auch als eine Unterphilosophie der Vaisheshika-Philosophie bezeichnen, eine materialistisch-rationale Philosophie.

Die zweite Variante von Nyaya ist eine stark Bhakti-orientierte, ausgesprochen dualistische Philosophie der Hingabe. Gott hat die Welt geschaffen, durchdringt sie ganz und macht alles. Gott und Mensch sind auf ewig getrennt. Der Mensch ist in seinem wahren Wesen eine Seele, die niemals eins werden kann mit Gott. Ursache des Leidens ist die Entfernung und Trennung von Gott. Ziel des Lebens ist es, Gott möglichst nahe zu kommen. Der Weg dazu ist bedingungslose Hingabe. Um diese Hingabe zu erzeugen, gibt es zahlreiche spirituelle Praktiken.

Das entspricht durchaus einer auch im Christentum verbreiteten Sichtweise.

Die Hare-Krishna-Bewegung, die auch im Westen recht bekannt geworden ist, beruht auf dieser Philosophie.

Bhakti hat im Yoga natürlich auch einen großen Stellenwert, gerade um das Ego zu überwinden und Hingabe zu üben. Man kann öfter versuchen zu spüren, oh Gott, dein Wille geschehe, du machst alles, ich allein kann nichts bewirken.

Samkhya

Samkhya ist eine dualistische und atheistische Philosophie, in der eine ewige Dualität zwischen Purusha (dem höchsten Wesen) und Prakriti (Natur) postuliert wird und Gott nicht vorkommt.
Purusha verhält sich zwar wie Gott, wird aber einfach als Bewusstsein bezeichnet.
Purusha ist das Bewusstsein, die Seele, Prakriti ist die Welt. Purusha im Samkhya entspricht Brahman im Vedanta oder Shiva im Tantra. Prakriti entspricht Maya im Vedanta und Shakti im Tantra.

Purusha und Prakriti waren von Anfang an und sind auf ewig getrennt, aber ursprünglich war Purusha in sich selbst zufrieden. Es gab nur eine allumfassende, undifferenzierte Prakriti, eine homogene unmanifestierte Mischung aus Sattwa, Rajas und Tamas in vollkommenem Gleichgewicht. Solange die drei Gunas (Grundeigenschaften der Natur) in vollkommenem Gleichgewicht sind, gibt es keine Schöpfung.

Nun ist Purusha aus unerfindlichen Gründen nicht mehr in sich selbst zufrieden, sondern sendet die Strahlen seines Bewusstseins in die Prakriti hinein, um die Welt zu erleben. Und in dem Moment fängt Prakriti an, sich zu verändern, aktiv zu werden, und der Schöpfungsprozess kommt in Gang:

  • Purusha

* Sattwa (Kausalwelt)

  • Prakriti * Rajas (höhere, mittlere, untere Astralwelt)

* Tamas (Physische Welt)

  • Spandana
  • Parinama

Das ganze Universum besteht nur aus Sattwa, Rajas und Tamas. Die erste Vibration ist Spandana, die Urschwingung, durch die Sattwa, Rajas und Tamas durcheinandergebracht werden und es entsteht Parinama, ständige Veränderung. Obgleich Prakriti ewig von Purusha getrennt ist, ist sie Purusha untergeordnet. Nur weil Purusha Prakriti erfahren will, bewegt sich Prakriti. Aber wenn sie einmal in Bewegung versetzt ist, entspricht es ihrer Natur, sich ständig zu bewegen. Dann entstehen die drei Grundwelten aus Sattwa, Rajas und Tamas. Das kosmische Satttwa wird zum Mahat, zum kosmischen Geist, zum kosmischen Ego, aus dem zahlreiche kleine Chittas (Gemüter) entstehen. Rajas ist die Aufsplitterung der Welt und das kosmische Tamas wird zur physischen Welt.

Die sattwigste Welt ist die Kausalwelt, die rajasigste die Astralwelt, die tamasigste die physische Welt. Alles in dieser Welt ist nur eine unterschiedliche Zusammensetzung von Sattwa, Rajas und Tamas. Überall sind immer alle drei Gunas vorhanden, allerdings in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen.

Samkhya heißt wörtlich Aufzählung, Klassifikation. Die Samkhyas klassifizieren alles auf jeder Ebene nach Sattwa, Rajas und Tamas.

Die Astralwelt, die insgesamt relativ rajasig ist, kann man wieder unterteilen in drei Welten: die höhere Astralwelt, die der Vijnanamaya Kosha im Vedanta entspricht, die mittlere Astralwelt, Manomaya Kosha, und die niedere Astralwelt, Pranamaya Kosha. Die höhere Astralwelt hat einen höheren Anteil an Sattwa, die mittlere mehr Rajas und die niederste, welche die Verbindung zur physischen Welt darstellt, die Prana-Ebene, ist die tamasigste davon.

Die mittlere Welt, die rajasige, ist die emotionell-geistige Welt. Und hier unterscheidet man wieder sattwige, rajasige und tamasige Emotionen. Tamasige Emotionen wären zum Beispiel Angst, Traurigkeit, Depression, rajasige Ärger, Wut, Unruhe. Sattwige Gefühle sind Liebe, Mitgefühl, usw.

Nehmen wir zum Beispiel das rajasige Gefühl Ärger. Nun kann man Ärger wieder unterteilen in sattwigen Ärger, rajasigen Ärger und tamasigen Ärger. Tamasiger Ärger ist, wenn man sich über etwas aufregt, das in Wirklichkeit gar nicht so ist, also aus Täuschung heraus. Rajasiger Ärger ist, wenn man sich ärgert, weil man etwas nicht bekommen hat. Sattwiger Ärger wäre gerechter Zorn. Man sieht zum Beispiel, dass jemand ungerecht behandelt wird, ärgert sich darüber und versucht, diesen Missstand abzustellen.

So hilft Samkhya, alle Dinge immer weiter zu klassifizieren.

Samkhya umfasst auch eine Theorie der Wahrnehmung, eine Theorie des Geistes und differenzierte Beschreibungen, wie die Welt und die individuelle Seele entstanden sind. Der philosophisch-theoretische Teil der Yoga Sutras von Patanjali stammt überwiegend aus dem Samkhya-System.

Sehr wichtig im Samkhya ist, alles befindet sich in Veränderung, in Parinama.

Aus Prakriti (Natur) entwickeln sich im Zuge der Aufspaltung lauter individuelle Chittas (Gemüter). Um die Welt wirklich sehen zu können, nimmt Purusha ein individuelles Chitta als Instrument an, denn mit einem kosmischen Gemüt würde er sie nicht ausreichend erleben. Das ist genauso, wie wenn man einen Film anschaut. Man identifiziert sich nie mit dem ganzen Film, sondern mit einer oder zwei Rollen besonders. Und man bangt mit seinem Helden und freut sich, wenn er am Schluss gewinnt. Wenn wir einen Film erleben wollen, müssen wir ihn aus einer bestimmten Perspektive anschauen. Und so macht es auch Purusha. Er identifiziert sich mit jedem dieser individuellen Gemüter und manifestiert sich durch die einzelnen Chittas.  Das Problem ist, dass er dabei in Verhaftung und Identifikation gerät. Das individuelle Asmita, Ich-Gefühl, beginnt, das Mögen und Nichtmögen, die Verstrickung in Verhaftungen. Das ist die Ursache des Leidens.

Das, was er eigentlich in sich selbst hat, nämlich Sein, Wissen und Glückseligkeit, Sat-Chid-Ananda, sucht Purusha nun in der äußeren Welt. Er glaubt, die Dinge in der Welt würden ihm Vergnügen, Ananda schenken, er könne über seinen Geist Erkenntnis, Chid, gewinnen und auf der physischen Ebene Dauerhaftigkeit, Sat, erlangen.

Aber all das ist auf der physischen Ebene nicht möglich, weil sie in ständiger Veränderung ist und nichts gleich bleibt. Das ist ein großes Problem, denn Purusha ist ewig, und deshalb erwartet er auch Beständigkeit auf der physischen Ebene. Wenn der Mensch etwas erreicht hat, will er, dass es auch so bleibt. Aber es ist das Gesetz der Veränderung, Parinama, dass nichts beständig bleibt.

Auch dass die Welt Glück schenkt, ist ein Irrtum. Sie kann höchstens ablenken, aber wirklich Glück schenken tut sie nicht.

Wie kommen wir nun wieder aus diesem Leiden heraus? – Durch Nicht-Identifikation. Wodurch erreichen wir das? – Durch Unterscheidungskraft, Viveka. Wir lernen, Purusha von Prakriti und Sattwa von Purusha zu unterscheiden. Durch immerwährende Unterscheidungskraft, Viveka Kyati, lernen wir, uns nicht mehr mit Prakriti zu identifizieren. Dazu hat Samkhya auch bestimmte Meditationstechniken entwickelt, zum Beispiel Sakshi Bhav: Wir nehmen die Einstellung eines Zeugen an und beobachten alles, was kommt. In dem Masse, in dem wir beobachten, können wir uns auch von der Identifikation lösen. Wir beobachten nur, verändern nichts und stellen fest, ich bin es nicht. Das ist Sakshi Bhav.

Weitere Methoden im Samkhya sind natürlich auch die intellektuelle Unterscheidung und Vairagya, Entsagung, Verzicht auf das Weltliche. Denn je mehr wir in die Welt hineingehen, umso mehr verhaften wir uns.

Eine schöne Darstellung des Samkhya findet man im 2. Kapitel der Raja Yoga Sutras ab dem 18. Vers:

„Das Universum, das durch die Wechselwirkung zwischen den Elementen und den Wahrnehmungen der Sinnesorgane erfahren wird, wird aus Sattwa, Rajas und Tamas zusammengesetzt und existiert einzig zum Zweck der Erfahrung und der Befreiung des Menschen.“

Wir nehmen das Weltall nicht so wahr, wie es wirklich ist, sondern wir nehmen es so wahr, wie es unsere Sinne ins Chitta (Gempüt) geben. Purusha wird sich dann dessen bewusst, was im Chitta ist. Das Chitta ist wie ein Kristall, der die Form und Farbe der äußeren Objekte annimmt.

Purusha will Erfahrungen machen, will die Früchte der Handlungen genießen und will auch wieder zurückkehren. Prakriti hat die Aufgabe, den Menschen – und auch Tieren und allen Wesen – alles zu geben, was sie erfahren wollen. Sie muss dem Menschen alle Wünsche erfüllen, aber die Welt hat auch die Aufgabe, uns wieder zurückzuführen zur Befreiung. Prakriti hilft uns also, die Erfahrungen zu machen, die wir machen wollen und brauchen, aber sie hilft auch, dass wir irgendwann die Zusammenhänge erkennen und uns aus der Verhaftung in die Prakriti lösen.

Denken wir an die Geschichte, wo Indra sich als Schwein inkarniert hat, um einmal volle Sinnesfreuden zu genießen, denn ein Schwein ist nicht durch Ethik oder Moral gebunden.  Anschließend wollte er nicht mehr befreit werden, weil er sich in dieser Identifikation so wohlfühlte. Vorher hat er allerdings seine Untertanen instruiert, dass sie ihn zurückholen sollen, wenn er nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zurück ist. Als die Untertanen dann kamen, wollte er aber nicht zurück, sondern sagte, sie sollen ihn in Ruhe lassen. Da haben sie ihn dann so lange gequält, bis er schließlich doch den Schweinekörper verlassen hat.

So ist es mit dieser Welt. Sie erfüllt uns unsere Wünsche, aber nicht alle und auch nicht dauerhaft und zwischendurch schüttelt sie uns durch. Das ist die zweifache Funktion der Prakriti.

„Die Zustände der drei Gunas sind grob, fein, manifest und unmanifest. Der Sehende, Purusha oder Drashtu, ist reines Bewusstsein. Und obwohl er rein ist, scheint er durch Chitta zu sehen, also durch das Gemüt. Die tatsächliche Existenz des Gesehenen ist für den Sehenden da.“

Das Universum ist für den Purusha da.

„Auch wenn sie, Prakriti, für den, der seinen Zweck erfüllt hat, unwirklich wird, fährt sie fort, für andere zu existieren, denn sie ist allen gemein.“

Also, angenommen, wir würden jetzt die Selbstverwirklichung erreichen, dann wäre für uns die Prakriti zu Ende. Auch die Teile der Prakriti, mit denen wir uns besonders identifizieren, der physische Körper, Chitta, das Gemüt mit Prana, lösen sich auf, aber für die anderen existiert die Welt weiter. Solange Purusha noch irgendein Chitta hat, durch das er sich die Welt betrachtet, mit dem er sich identifiziert, solange gibt es die Welt. Erst dann, wenn Purusha sich durch kein Chitta hindurch mehr manifestiert, hört sie auf. Dann existiert Prakriti zwar weiter, aber in unmanifestiertem Zustand, im Gleichgewicht.

Zweck der Verbindung (Samyoga) von Purusha und Prakriti ist, dass Purusha das Bewusstsein seiner wahren Natur erlangt und die Kräfte erkennt, die latent in ihm und in Prakriti liegen. Das ist gemäß der Samkhya-Philosophie der Sinn der Schöpfung.  Wenn wir also nach vielen Äonen von Leiden und Vergnügen, von spirituellen Praktiken, Kopfständen und Mantrasingen schließlich die Verwirklichung erreichen, sind wir zum Schluss irgendwie klüger als vorher. Es ist zwar nicht sehr logisch, aber irgendwie emotionell befriedigend, zu wissen, dass das Ganze einen gewissen Sinn hat. Aber hier setzt natürlich die Kritik der Vedantins (Vedante Schüler) an. Wenn Purusha reines Bewusstsein ist, kann er auch nichts dazulernen. Samkhya macht hier ein paar Abstriche von der Absolutheit des Vedanta, weshalb viele Menschen mit der Samkhya-Philosophie besser zu Rande kommen als mit dem Vedanta.

Dass Prakriti und Purusha zusammenkommen, mag zwar den Sinn haben, dass es Purusha ermöglicht, die Welt zu erfahren. Aber die Ursache dieser Vereinigung ist Avidya, Unwissenheit.

„Durch das Ausmerzen der Unwissenheit schwindet die Verbindung von Purusha und Prakriti und der Sehende ist befreit.“

Also wir müssen die Unwissenheit ausmerzen. Und wie merzen wir die Unwissenheit aus? Durch Viveka Kyati. Das Mittel, Avidya zu zerstören, ist ungebrochenes Unterscheidungsvermögen.

Daher beschränkt sich die Samkhya-Praxis auch auf drei Grundprinzipien: Unterscheidungskraft, Beobachtung, Entsagung.

Auch Krishna nimmt in der Bhagavad Gita relativ häufig Bezug auf den Samkhya.

Yoga

Im Rahmen der Darshanas (Philosophiesysteme) versteht man unter Yoga das durch Patanjali bekannt gewordene Yogasystem, das an sich natürlich weiter zurückgeht. Wenn eine Sutra geschrieben wurde, ist das immer ein Zeichen dafür, dass es das System schon Jahrhunderte lang gegeben hat. Es war schon ausgefeilt genug, um es in diese prägnante Form bringen zu können.

Yoga basiert auf der Samkhya-Philosophie, mit ein paar einschneidenden Unterschieden.

Der erste Unterschied ist rein praktischer Art. Laut Samkhya kommen wir über Viveka, Unterscheidungskraft, zur Ruhe des Geistes und zur Befreiung.

Patanjali hat einen etwas anderen Ansatz. Er beginnt gleich am Anfang mit: „Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Gedanken im Geist. Dann ruht der Sehende in seinem wahren Wesen.“ Patanjali empfiehlt zwar unter anderem auch, Viveka kyati zu üben, aber es ist nicht seine einzige Methode. Wir müssen irgendwie unseren Geist zur Ruhe bringen. Ist unser Geist ruhig, dann ruht Purusha in sich selbst. Und alles, was uns dazu hilft, den Geist zur Ruhe zu bringen, ist Yoga. Und so übernimmt Patanjali aus den Schriften, den Upanishaden, den Veden, der Mahabharata und anderen Traditionen umfangreiche Übungspraktiken, Abhyasa, die es im Samkhya nicht gibt. Er integriert zusätzlich zu den psychischen auch physische Hatha-Yoga-Praktiken.

Manchmal bezieht sich das Wort Yoga aber auch nicht nur auf das Raja-Yoga-System von Patanjali. Krishna gebraucht den Ausdruck Yoga in der Bhagavad Gita im Sinn von Karma Yoga, dem Yoga des selbstlosen Handelns, in bewusstem Gegensatz zum Samkhya als reinem Jnana Yoga. Anstatt allem zu entsagen wie im Samkhya oder zu handeln, um etwas Konkretes zu erreichen wie im Purva Mimamsa-System, handeln wir im Karma Yoga ohne Wünsche und Verhaftungen und kommen so zur Befreiung. Krishna sagt aber auch, nur die Unweisen sprechen von Samkhya und Yoga als getrennt. Im Grunde genommen führt beides zum Ziel und es hat beides seinen Sinn. Auch im Yoga gibt es Entsagung und auch ein Samkhya-Anhänger muss Handlungen tun ohne Verhaftung. Denn selbst die Aufrechterhaltung des physischen Körpers bedingt Handlung.

Eigentlich wird jedes Kapitel der Bhagavad Gita als Yoga bezeichnet. Es gibt 18 Kapitel, die zum Beispiel „Yoga der Mutlosigkeit und Verzweiflung Arjunas“ (1. Kapitel) heißen oder „Yoga der unsterblichen Seele“ (2. Kapitel), usw.

Der zweite Unterschied zum Samkhya ist, dass es im Yoga Ishwara gibt, einen persönlichen Gott. Patanjali lässt sich zwar nicht zu sehr auf genaue Details ein; auf diese Weise vermeidet er es, jemandem auf die Füße zu treten, denn bekanntlich entsteht bezüglich religiöser Themen am schnellsten Streit. Patanjali spricht von Ishwara als einer besonderen Manifestation von Purusha, die frei ist von Verhaftungen, Karma, Kleshas (Leiden), Unwissenheit und Wünschen. Ishwara ist der ursprüngliche Lehrer.

Wenn man sich Ishwara hingibt, ist die Verwirklichung schnell. Man muss allerdings zugeben, es passt nicht ganz in die Logik des Yogasystems hinein. Aber Patanjali war ein Praktiker. Er hat festgestellt, Menschen, die Gott hingegeben sind, erreichen die Selbstverwirklichung schneller als andere. Wer es allein versucht, ohne Zuflucht zu Gott zu nehmen, verwickelt sich in alle möglichen Schwierigkeiten. Irgendwann kommt das Ego ins Spiel, man kommt nicht mehr weiter, Versuchungen, Prüfungen stellen sich ein – ohne Glauben an Gott ist alles schwierig. Glaubt man dagegen an Gott, dann hilft er einem über das Ego hinweg, hilft einem durch Prüfungen, wenn man verzweifelt ist, weint man zu Gott, dann kommt er und hilft einem – es klappt eigentlich alles viel besser.

In Kanada im Ashram von Swami Vishnu ist mir zum erstenmal richtig klargeworden, was eigentlich Ego ist. Und zwar so klar geworden, dass ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, mich je vom Ego zu befreien. Denn das Ego kann sich überall manifestieren. Man kann zum Beispiel stolz auf seine Asana-Praxis oder auf seine Meditation sein, man kann sogar stolz darauf sein, dass es einem nichts ausmacht, die Toilette zu putzen, notfalls auch um Mitternacht, wenn es niemand anders macht und sogar, ohne dass es jemand merkt, einfach weil es getan werden muss. Man kann stolz darauf sein, dass man einfach nachgibt.

Das Ego kann sich tatsächlich überall hineinsetzen. Nachdem ich also ein paar Wochen lang – in meiner damaligen Naivität dachte ich, das sei schon sehr lange – wirklich systematisch versucht hatte, das Ego zu überwinden und es mir nicht gelungen war, eine einzige wirklich egolose Handlung auszuführen – und wenn ich fast dran war, dann war ich stolz darauf, dass sie egolos war und dann war das Ego wieder drin! -, habe ich einem indischen Gastlehrer, der gerade da war, das Problem geschildert.

Und er hat gesagt, ich soll mir nicht so viel Sorgen machen. Jeder müsse seine Aufgabe erfüllen. Meine Aufgabe sei Sadhana, spirituelle Praxis und Seva, Dienen. Gottes Aufgabe sei es, mich vom Ego zu befreien. Und vielleicht bin ich dadurch etwas egoloser geworden als durch den ständigen Versuch, mein Ego zu reduzieren, denn das war letztlich nur Egospiel. Es ist sehr wichtig und hilfreich, einfach diese Demut zu entwickeln, sich einzugestehen, ich tue zwar mein Bestes, ich mache Sadhana, Asanas, Pranayama, Meditation, Mantrasingen, Pujas (Verehrungsrituale) und was auch immer, aber letztlich weiß ich, das, was wesentlich ist auf dem spirituellen Weg, das kann ich nicht selbst machen, dazu brauche ich die Gnade Gottes. Man verehrt Gott, betet zu Gott, versucht, anderen zu dienen, seinen Geist zu schulen und dann wird Gott einen ausreichend durchschütteln, so dass das Ego schrittweise nachgibt. Wenn man Vertrauen hat und darum betet, geschieht es auch irgendwie.

Eine Ausprägung von Samkhya besagt, dass jeder Mensch ein eigener Purusha ist, es also nicht nur einen einzigen Purusha gibt, sondern Tausende, Millionen und Milliarden von Einzelpurushas. Und das Ziel ist, zu unserem eigenen Purusha zurückzukehren. Im Yoga hingegen gibt es nur einen Purusha und die einzelnen Seelen sind Auswirkungen des Rajas-Prinzips, wo das eine Kosmische in Splittern eines großen Spiegels gespiegelt wird. Das ist der dritte Unterschied zwischen Samkhya und Yoga.

Uttara Mimamsa = Vedanta

Uttara Mimamsa, Vedanta, ist das großartigste aller Philosophiesysteme. Sie beginnen also mit Purva Mimamsa und hören mit Uttara Mimamsa auf.

Vedanta, die höchste aller Philosophien, bedeutet das Ende allen Wissens. Antar = Ende, Veda = Wissen. Die Vedanta-Philosophie kommt dem Wissen, das man aus der Verwirklichung gewinnt, am nächsten. Sie ist am schwierigsten zu verstehen und für viele Menschen am schwersten zu akzeptieren.

Vedanta hat durchaus Ähnlichkeit mit dem Samkhya-System. Im Vedanta gibt es die beiden Hauptpole Brahman und Maya. Nur, der Vedanta sagt, Brahman und Maya sind nichts Unterschiedliches, sondern Maya ist nur eine scheinbare Kraft der Illusion aus Brahman heraus. In Wahrheit gibt es nur Brahman. Nichts existiert, nichts ist geschaffen, ich bin weder Körper noch Geist, ich bin das unsterbliche Selbst.

Das ist in den drei Hauptsätzen postuliert: Brahma satyam = Brahman allein ist wirklich; Jagat mithya = die Welt ist unwirklich; Jivo brahmaiva napara = die individuelle Seele ist nichts anderes als Brahman. Das geht sogar so weit, dass Uttara Mimamsa sagt, die Welt ist nicht geschaffen worden. Es gibt gar keine Welt. Die Welt ist eine Illusion, sie scheint nur so. Sie ist nur ein Traum. Woraus besteht die Traumwelt? Woraus bestehen die Berge, Flüsse und andere Menschen im Traum? Sie bestehen nur aus dem Geist, der träumt. Woraus besteht diese Welt? Sie besteht eigentlich nur aus Brahman.

Es gibt nur Brahman. Und die Welt bleibt immer Brahman. Es gibt keine geschaffene Welt. Es erscheint nur so, als ob sie geschaffen sei. Aber es erscheint nur so lange so, wie unser Bewusstsein es so erfasst. Genauso wie die Traumwelt nur so lange vorhanden ist, wie wir im Traum sind. Wenn wir in den Tiefschlaf abgleiten, sind sowohl Traumwelt als auch Wachwelt verschwunden. Wenn wir in die Wachwelt kommen, verschwindet die Traumwelt und die Tiefschlaferfahrung wird ebenfalls unwirklich für uns. Und wenn wir in Turiya, den vierten Bewusstseinszustand kommen, wachen wir auf und erkennen, es war alles nur ein langer Traum. Das ist der Hauptunterschied zwischen Samkhya und Uttara Mimamsa.

Auf der relativen Ebene kann das Uttara Mimamsa-System mit allen in den vorherigen Systemen beschriebenen Aspekten arbeiten. Die Gesetze des Karmas im engeren Sinne werden nicht abgestritten. Dass die materielle Welt ihre Gesetzmäßigkeiten hat, an die man sich halten kann, mag auch sein. Dass es einen Ishwara gibt, der auch ein Produkt der Maya ist, zu dem man beten kann, in dessen Händen man sein kann, wird akzeptiert. Es wird sogar empfohlen, diese Praktiken zu üben, Hingabe, Liebe zu entfalten, um uns überhaupt bereit zu machen, Jnana Yoga zu verstehen.

Das hilft, den Geist zu reinigen. Auch Viveka, die Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und Unwirklichen, spielt im Jnana Yoga natürlich eine wichtige Rolle, ebenso wie Vairagya, die Entsagung. Zu einer Ausprägung von Vedanta gehört auch das Mönchtum dazu, zwar nicht notwendigerweise, aber die Hauptbefürworter der Vedanta-Philosophie waren alle Mönche.

Man kann natürlich auch Vedanta-Anhänger sein und im Berufs- und Familienleben stehen, aber eine konsequente Vedanta-Philosophie führt durchaus zu einer Abkehr von der Welt. Wenn die Welt unwirklich ist, warum soll man sich hineinverstricken? Aber Uttara Mimamsa Vedanta als praktisches System sagt eben auch, der Yoga-Weg ist eine Vorbereitung, ein Mittel, um uns überhaupt erst in die Lage zu versetzen, unseren Geist kennen zu lernen, zu kontrollieren, fähig zu machen zur Unterscheidung.

Die verschiedenen Darshanas, so unterschiedlich ihr Ansatz auch ist und so widersprüchlich sie scheinen, ergänzen sich und haben jedes für sich je nach Situation ihre Berechtigung.

Krishna selbst macht übrigens diesen Standpunktwechsel. Er widerspricht sich ja öfter. Er argumentiert an verschiedenen Stellen aus unterschiedlichen Gesichtspunkten.

So wie das Licht gleichzeitig Welle und Teilchen ist – obgleich ein physikalisches Phänomen eigentlich niemals gleichzeitig Welle und Teilchen sein kann -, so können verschiedene sich augenscheinlich widersprechende Gesichtspunkte trotzdem ihre Gültigkeit haben. Man hat die Gesetze der Welle und die Gesetze der Teilchen analysiert. Anhand der Teilchenphysik kann man Licht zum Beispiel als Laserstrahlen oder Photonentechnologie nutzen. Andere Anwendungsmöglichkeiten ergeben sich, wenn man Licht als Welle sieht.

Genauso verhält es sich mit unserem spirituellen Sadhana. Für unser spirituelles Leben hilft es manchmal, einen bestimmten Standpunkt einzunehmen, ein anderes Mal einen anderen und in einer neuen Situation einen dritten. Scheinbar widersprechen sie sich, aber sie sind praktisch, man kann sich danach richten und dadurch Fortschritte machen.

Man kann auf dem spirituellen Weg keine lineare Logik erwarten. Es ist aber auch nicht unlogisch. Alles hat irgendwo seinen Platz und seinen Sinn. Und es ist nicht beliebig, sondern zu bestimmten Momenten muss man das eine oder das andere anwenden. Manchmal muss man diesen Standortwechsel recht schnell vollziehen.

Krishna widerspricht sich ja in der Bhagavad Gita auch ununterbrochen. Im 11. Kapitel zum Beispiel nimmt er den Standpunkt des Bhakti ein. Arjuna stellt fest, ich bin nur ein Instrument, ich tue gar nichts, Gott macht alles. Krishna sagt ja sogar, selbst wenn du nichts tun willst, ich werde dich zwingen. Der Mensch hat keinen freien Willen. Man hat im Grunde genommen keine Wahl. Im 18. Kapitel sagt er, die Natur wird dich zwingen. Und kurz danach: „Und jetzt tue, was du willst!“

An den Anfang scrollen