„Himmel, Hölle, Fegefeuer?“
So wie es von Christus heißt, dass er für jeden einzelnen Menschen starb (um sie zu erlösen), so kann vom Buddha gesagt werden (und das trifft für jeden Erleuchteten zu), dass seine Erleuchtung alle Wesen einschloss und bis zum Ende aller Zeiten in allen Wesen zur Wirkung kommt. Dies muss dem Denken unbegreiflich bleiben, weil es über seine Dimension hinausgeht, aber aus dem mystischen, d. h. aus Zeit und Raum herausgelösten Erleben, wie es von den Großen des Geistes aller Zeiten bezeugt wird, können wir eine Ahnung von der Tiefe dieses Mysteriums in uns wachrufen.
Es ist das Mysterium von der über alle Zeiten und Räume wirkenden Kraft des erleuchteten Bewusstseins, das sich in der „alle Werke vollbringenden Weisheit“ Amoghasiddhis offenbart und im Symbol des Visvavajra dargestellt ist, dem Doppelvajra, der die Dimensionen der Zeit und des Raumes zur höheren Wirklichkeit einer „vierten“ Dimension zusammenfasst. Es ist diese Bewusstseinsdimension, in der die transzendenten Kräfte der Erleuchteten wirken und in der alle Bodhisattvas ihr Wesen haben. Und es ist hier, dass Avalokitesvara als Inbegriff tätiger Bodhisattvaschaft sich in unzähligen Formen verkörpert. Um jener Kräfte teilhaftig zu werden, bedarf es aber des eigenen Mitwirkens, der eigenen Anstrengung oder zumindest der eigenen Bereitschaft.
So wie die Blume sich der Sonne öffnet, so müssen wir uns diesen Kräften öffnen, uns ihrem Bereiche zuwenden, wenn wir an ihnen teilhaben wollen. Denn ebensowenig wie die Sonne die Macht hat, in eine Blume zu dringen, sofern diese sich nicht selbst ihr zuwendet und sich willig ihren Strahlen öffnet, so wenig kann die Erleuchtung eines Buddha auf uns wirken, wenn wir uns diesem Einfluss verschließen oder unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Befriedigung materieller Bedürfnisse und egozentrischer Wünsche und Begierden richten. In allen Bereichen des Daseins erscheinen somit die Gestalten der Erleuchteten: in den tiefsten Höllen sowohl wie in den höchsten Himmelswelten, im Bereich der Menschen und Tiere sowohl wie in den Bereichen nichtmenschlicher Wesen.
In fast jedem tibetischen Tempel befindet sich eine anschauliche Darstellung der sechs Daseinsbereiche der Wandelwelt.
Und entsprechend der Natur dieser Wandelwelt, in der sich der Kreislauf der Wiedergeburten vollzieht, wird sie dargestellt als ein Kreis, dessen sechs Segmente die sechs Haupttypen weltlichen, d. h. unerleuchteten Daseins darstellen. Diese Daseinsformen sind bedingt durch die Illusion getrennter Selbstheit, dem „Ich“-Wahn, (asmimana) der alles, was zur Befriedigung und Aufrechterhaltung seiner „Ichheit“ dient, begehrt und alles das, was sich ihm oder seinem Begehren entgegensetzt, verabscheut, als hassenswert, „hässlich“, betrachtet.
Diese drei Grundmotive oder Wurzelursachen (hetu) unerleuchteten Daseins bilden die Nabe des Rades der Wiedergeburten. Sie werden daher im Zentrum des Kreises dargestellt und zwar in Form dreier Tiere, in denen Gier, Hass und Wahn (Unwissenheit) veranschaulicht werden:
Ein roter Hahn, als Sinnbild leidenschaftlichen Verlangens und Verhaftetseins (raga, Tib.: ,hdodchags); eine grüne Schlange als Verkörperung des lebenvergiftenden Hasses, der Feindschaft und Aversion (dvesa, Tib.: ze-sdan); und ein schwarzer Eber, der den dunklen, wahnbetörten Daseinsdrang, den blinden Wahn der Ichsucht, verkörpert (moha, Tib.: gti-mug).
A. Verblendung (moha)
B. Begierde (raga)
C. Hass (dvesa)
Die drei Tiere sind ineinander verbissen und solcherart angeordnet, dass sie wiederum einen Kreis bilden; denn Gier, Hass und Wahn bedingen sich gegenseitig und sind unlöslich miteinander verbunden. Sie sind nichts anderes als die extremen, willensbedingten Ausdrucksformen jenes Nichtwissens (avidya, Tib.: ma-rig) um die wahre Natur der Dinge, demzufolge die Wesen Vergängliches als unvergänglich, Unwirkliches als wirklich und begehrenswert betrachten.
Im geistig unentwickelten triebbeherrschten Wesen wird dieser Mangel an Erkenntnis zur Verblendung (moha), oder, wie der Tibeter sagt, zur geistigen Verdunkelung, Umnachtung (gti-mug), die es tiefer und tiefer in den Kreislauf des Samsara verstrickt, im Jagen nach vergänglichem Glück, Flucht vor Leidvollem, Furcht vor dem Verlust des Ergriffenen, Kampf um den Besitz des Wünschenswerten oder die Erhaltung des Erworbenen.
Der Samsara ist die Welt des ewigen Zwiespaltes, unversöhnlicher Gegensätze, einer aus dem Gleichgewicht geratenen Dualität, in der die Wesen von einem Extrem ins andere fallen.
Zuständen himmlischer Freuden stehen Zustände höllischer Qualen gegenüber, dem Bereiche titanischer Macht und Kampfeslust, der Bereich tierischer Angst und Verfolgungsnot, dem Bereich menschlichen Tatendranges und Schaffensstolzes, der Bereich daseinshungriger Pretas (Tib.: yi-dvags), in denen die unbefriedigten Leidenschaften und unerfüllten Begierden weltverhafteter Wesen ein geisterhaftes, gespenstisches Dasein führen.
Vorstehende Reproduktion eines tibetischen „Lebensrades“ (Tib.: srid-pahi hkhor-lo, „der Zyklus weltlicher Daseinszustände“) zeigt im obersten Sektor den Bereich der Götter (deva, Tib.: Iha), deren sorgloses, ästhetischen Freuden hingegebenes Leben durch Musik und Tanz angedeutet wird. Durch diese einseitige Hingabe an ästhetischen Genuss vergessen sie die wahre Natur des Lebens, die Begrenztheit ihres Daseins, die Leiden anderer Wesen, sowie ihre eigene Vergänglichkeit. Sie wissen nicht, dass sie nur in einem Zustand zeitweiser Harmonie leben, der ein Ende nimmt, sobald die Ursachen (die moralischen Verdienste, nach buddhistischer Anschauung), die sie zu diesem Zustand führten, erschöpft sind.
Sie leben sozusagen vom Kapital vergangener guter Taten, ohne Neues hinzuzufügen. Sie sind mit Schönheit, Langlebigkeit und Schmerzfreiheit begabt, aber eben diese Schmerzfreiheit, dieser Mangel an Widerständen, beraubt die Harmonie dieses Daseins aller schöpferischen Impulse, geistiger Aktivität und des Strebens nach tieferer Erkenntnis und führt schließlich zu einem Absinken in niedere Daseinszustände. Wiedergeburt in himmlischen Welten gilt dem Buddhisten daher nicht als erstrebenswert. Es ist nur ein Aufschub aber keine Lösung des Daseinsproblems. Es führe zur Verstärkung der Ich-Illusion und zu tieferer Verstrickung in die Wandelwelt.
So sehen wir im untersten Sektor des Daseinsrades die Kehrseite jener himmlischen Freuden: den Bereich höllischer Qualen (niraya; Tib.: dmyal-ba) – Skalpa. Diese Qualen, die in Form drastischer Torturen dargestellt werden, sind nicht „Strafen“, die von einem allmächtigen Gott und Schöpfer über die Wesen verhängt werden, sondern die unvermeidlichen Rückwirkungen ihrer eigenen Taten. Der Totenrichter verdammt nicht, sondern hält nur den Spiegel empor, den Spiegel des Gewissens, in dem jedes Wesen sich selbst das Urteil spricht. Dies Urteil, das aus dem Munde des Totenrichters zu kommen scheint, ist jene innere Stimme, die in der Keimsilbe „HRIH“, die im Zentrum des Spiegels sichtbar ist, zum Ausdruck kommt.
Darum heißt es, dass Yama, der König des Gesetzes (Skt.: Dharma-raja; Tib.: gsin-rje-chos-rgyal), eine Emanation Amitabhas sei, in Form von Avalokitesvara, der in seiner Barmherzigkeit in die tiefsten Höllen hinabsteigt und kraft des Spiegels der Erkenntnis (durch den die Stimme des Gewissens erweckt wird) die Qualen der Wesen – Dämonen – in ein reinigendes Feuer verwandelt, aus dem sie geläutert zu besseren Daseinsformen aufsteigen. Um dies zu veranschaulichen ist Avalokitesvara in seiner Buddhagestalt nochmals neben der schreckenerregenden Form des Totengottes und Richters, Yama, dargestellt. Aus seiner Hand aber lodert die läuternde Flamme.
In ähnlicher Weise erscheint Avalokitesvara in allen anderen Daseinsbereichen, jeweils das Symbol seiner besonderen Sendung, das der Natur des betreffenden Daseinsbereiches entspricht, in Händen tragend.
Im Bereiche der Devas erscheint er mit der Laute, um durch die Klänge des Dharma die Götter aus ihrer Selbstzufriedenheit und aus den Illusionen vergänglicher Freuden zu höherer Wirklichkeit und zu einer tieferen, zeitlosen Harmonie zu erwecken.
Im Bereiche der Titanen, der „Gegengötter“ oder Asuras (Tib.: Iha-ma-yin), zur Rechten der Götterwelt aber erscheint er mit dem flammenden Schwert, denn die Wesen dieses Bereiches verstehen nur die Sprache des Kampfes. Statt um die Früchte des Wunschbaumes (Kalpataru), der zwischen dem Bereich der Götter und dem der Titanen steht, zu kämpfen, lehrt der Bodhisattva den edleren Kampf um die Früchte der Erkenntnis und Wunschbefreiung. Das flammende Schwert ist das Symbol der die Dunkelheit des Nichtwissens und die Knoten der Verstrickung durchschneidenden, aktiven „Unterscheidenden Erkenntnis“.
Als Kehrseite der Machttrunkenheit der Titanen, steht ihnen im linken unteren Sektor, der Bereich der Furcht gegenüber, des Verfolgtseins und Ausgeliefertseins an ein blindes Schicksal naturgegebener Notwendigkeiten und unkontrollierbarer Instinkte der Bereich der Tiere. Hier erscheint Avalokitesvara mit einem Buche in der Hand. Denn den Tieren gebricht es an der Fähigkeit artikulierter Sprache und reflexiven Denkens, das sie aus der triebgebundenen Umnachtung ihres Bewusstseins, der Trägheit und Dumpfheit eines noch unentwickelten Geistes, befreien könnte.
Zur Linken der Götterwelt sehen wir die Welt der Menschen den Bereich zielbewussten Strebens und Wirkens, in dem die Freiheit der Entscheidung eine wesentliche Rolle spielt, weil hier die Qualitäten aller Daseinsbereiche bewusst werden und alle ihre Möglichkeiten gleichermaßen offenstehen, und darüber hinaus die Möglichkeit endgültiger Befreiung vom Kreislauf der Geburten durch Erkenntnis der wahren Natur der Welt.
Hier erscheint daher Avalokitesvara als Buddha Sakyamuni mit Almosenschale und Asketenstab, um denjenigen, „deren Augen mit nur wenig Staub bedeckt sind“, den Weg zur Befreiung zu weisen. Aber nur Wenige sind bereit, den Weg zur endgültigen Erlösung zu beschreiten. Die Mehrzahl verstrickt sich in weltlicher Aktivität, im Jagen nach Besitz und Sinnenfreuden, Macht und Ruhm. Und so steht der Welt menschlichen Tatendranges und stolzer Selbstbehauptung der Bereich unbefriedigter Begierden und machtlosen Verlangens gegenüber. Dies ist im rechten unteren Sektor des Lebensrades dargestellt.
Hier zeigt sich die Kehrseite der Leidenschaften im impotenten Verhaftetsein an die Objekte des Begehrens ohne Möglichkeit der Befriedigung dieser Leidenschaften. Die Wesen dieses Bereiches, Pretas (Tib.: Yi-dvags) genannt, sind die ruhelosen Geister unbefriedigter Leidenschaften, bzw. Ieidenschaftsverhafteter Wesen, die in einer Welt imaginärer Wunschobjekte ein gespensterhaftes, ruheloses Dasein führen. Sie sind Wesen, die ihr inneres Gleichgewicht verloren haben und deren einseitig gerichteter Lebenswille eine dementsprechend unvollkommene, disharmonische Erscheinungsform hervorbringt, die weder die Kraft zu voller materieller Verkörperung noch zu irgendwelcher Art von „Vergeistigung“ haben.
Sie sind jene Wesen oder Bewusstseinskräfte, die mit den Gläubigen spiritistischer Sitzungen ihr Spiel treiben und die, nach volkstümlicher Vorstellung an die Stätten ihres früheren Daseins und ihrer unerfüllten Wünsche verhaftet (und darum der Gegenstand nekromantischer Beschwörungen) sind. Sie werden dargestellt als gespensterhafte Wesen mit spindeldürren Gliedern und aufgeschwollenen Leibern, die von unersättlichem Hunger und Durst geplagt sind, ohne imstande zu sein, genügend Speise und Trank zu sich zu nehmen.
Das Wenige aber, das sie durch die winzige Öffnung ihres dünnen Halses zu sich nehmen können, bereitet ihnen unsägliche Qualen, denn Speise ist ihnen unverdaulich und lässt ihre Leiber aufschwellen und Trank verwandelt sich ihnen in Feuer: ein drastisches Gleichnis für die Natur all“ leidenschaftlichen Begehrens (raga; Tib.: hdod-chags), deren Leiden durch Nachgeben nicht gestillt, sondern vermehrt werden. In anderen Worten: Leidenschaften sind das, was Leiden schafft, weil sie ihrer Natur nach unstillbar sind und jeder Versuch, sie zu befriedigen, zu tieferer Verhaftung und größeren Qualen führt.
Befreiung von solchen leidenschaftlichen Begehren ist nur möglich, wenn es gelingt ihre unheilsamen Objekte durch heilsame zu ersetzen (d. h. kama-chanda, sinnenweltliches Begehren, in dharma-chanda, in Verlangen nach Wahrheit und Erkenntnis zu verwandeln). Der Buddha, in dessen Form Avalokitesvara im Reiche der Pretas erscheint, trägt daher ein Behältnis mit himmlischen Kostbarkeiten (oder himmlischer Speise und himmlischem Trank, die sich nicht in Feuer und Qual verwandeln), welche die Objekte weltlichen Begehrens wertlos erscheinen lassen und die Leiden brennenden Verlangens stillen.
DIE FORMEL DES ABHÄNGIGEN ENTSTEHENS
Während in den „Sechs Bereichen“ die Entfaltung der Welt auf Grund der im Zentrum des Lebensrades symbolisierten Motive dargestellt wurde, zeigt der äußere Rand des Lebensrades die Entfaltung dieser Prinzipien im individuellen Leben. Unwissenheit (avidya; Tib.: ma-rig) ist hier durch ein blindes Weib (denn avidya ist weiblichen Geschlechtes), das sich mit einem Stock tastend fortbewegt, dargestellt. Auf Grund seiner geistigen Blindheit irrt der Mensch durchs Leben und macht sich eine illusorische Vorstellung von sich selbst und der Welt, derzufolge sein Wollen auf Unwirkliches gerichtet ist und seinen Charakter, diesem Wollen, Begehren und Vorstellen entsprechend gestaltet.
Diese Gestaltungstätigkeit (samskara; Tib.: hdu-byed) wird treffend veranschaulicht durch das Bild eines Töpfers. So wie der Töpfer die Formen der Töpfe gestaltet, so formen wir unseren Charakter und unser Schicksal, oder richtiger, unser Karma, durch unsere Taten in Werken, Worten und Gedanken. Samskara ist hier wollendes Wirken, gleichbedeutend mit Cetanā (Wille) und karma (wirkende Tat) zum Unterschied von Samskara-skandha, der Gruppe geistiger Gestaltungen, die als Resultat jener Willensakte zu neuem Wirken Anlass geben und zum aktiven Prinzip, zum richtunggebenden Charakter eines neuen Bewusstseins werden.
Denn Charakter ist nichts anderes, als die durch wiederholte Taten gebildete Tendenz unseres Wollens. Jedes Tun hinterlässt eine Spur, einen durch den Vorgang des Gehens entstandenen Pfad, und wo immer ein solcher einmal begangener Pfad besteht, dort finden wir, wenn eine ähnliche Situation eintritt, unseren natürlichen Ausweg, die Richtung, die wir spontan einschlagen. Dies ist das Gesetz der fortwirkenden Tat, das Karma, das nichts anderes ist als das Gesetz der Bewegung in der Richtung des geringsten Widerstandes, d. h. des bereits ein oder mehrere Male eingeschlagenen und daher leichteren Weges: das, was wir im menschlichen Leben die „Kraft der Gewohnheit“ nennen.
So wie der Töpfer aus dem gestaltlosen Lehm Gefäße formt, so schaffen wir durch Taten, Worte und Gedanken aus dem noch ungeformten Material unseres Lebens und unserer Sinneseindrücke die Gefäße unseres künftigen Bewusstseins, nämlich das, was diesem Bewusstsein Form und Richtung gibt.
Beim Abscheiden aus dem einen und dem Eintreten in ein anderes Leben ist es das so geformte Bewusstsein, das den Keim des neuen Wesens bildet. Dies, am Anfang eines neuen Lebens stehende Bewusstsein (vijnana; Tib.: rnam-ses), ist im dritten Bilde dargestellt und zwar in der Gestalt eines an einem Zweige sich festhaltenden Affen. Denn so wie der Affe rastlos von Zweig zu Zweig springt, so springt das Bewusstsein von Objekt zu Objekt.
1) Blindes Weib .Unwissenheit. (avidya)
2) Töpfer .karmische Bildekräfte. (samskara)
3) Affe „Bewußtsein“ (vijnana)
4) Zwei Menschen in einem Boot „Geistkörperlich}eit (nama-rupa)
5) Haus mit sechs Fenstern „Sechs Sinne“ (sadayatana)
6) Liebespaar „Berührung“ (sparsa)
7) Pfeil, der das Auge eines Mannes durchbohrt .Empfindung., .Gefühl.(vedana)
8) Trinker, der von einer Frau bedient wird „Begierde“, „Durst“ (trsna)
9) Mann, der Früchte sammelt „Haften“ (upadana)
10) Geschlechtsverkehr „Werden. (bhava)
11) Gebärende Frau „Geburt“ (jati)
12) Mann, der einen Leichnam auf dem Rücken trägt „Tod“ (marana)
Bewusstsein kann aber nicht für sich allein bestehen. Es hat nicht nur die Eigenschaft, unaufhörlich Vorstellungsobjekte zu ergreifen und das soeben Ergriffene um eines anderen willen zu lassen, sondern es hat auch die Fähigkeit, sich dauernd zu kristallisieren und sich in materielle Form und geistige Funktionen zu polarisieren. Daher heißt es, dass Bewusstsein die Quelle der „Geist-Körperlichkeit. (nama-rupa; Tib.: min-gzugs) ist, die Vorbedingung des geistigen und körperlichen Organismus, in dem die enge Beziehung zwischen Körperlichem und Geistigem, zwei im gleichen Boot fahrenden Menschen verglichen wird. Dies ist im vierten Bilde dargestellt, in dem wir einen Fährmann sehen, der zwei Leute in einem Boot übersetzt (der Fährmann gehört streng genommen nicht zum Bild).
Die Geist-Körperlichkeit differenziert sich weiterhin und wirkt sich aus durch die sechs Sinne: (sadayatana; Tib.: skye-mched) das Denken, das Sehen, das Hören, das Riechen, das Schmecken und das Fühlen (Tastsinn). Diese Fähigkeiten sind wie die Fenster eines Hauses, durch die wir in die Außenwelt blicken. Sie werden darum als ein Haus mit sechs Fenstern dargestellt. Der Künstler, der das hier wiedergegebene Lebensrad schuf, nahm sich jedoch die Freiheit, im fünften Bild die Front des Tempels abzubilden, in dessen Vorhalle sich dieses Fresko befindet.
Im sechsten Bilde wird der Kontakt der Sinne mit ihren Objekten (sparsa; Tib.: reg-pa) als das erste Erblicken und die erste gegenseitige Berührung Liebender dargestellt.
Die aus dem Kontakt der Sinne mit ihren Objekten sich ergebende Empfindung (vedana; Tib.: tshor-ba) wird im siebenten Bilde als ein Mann dargestellt, der von einem Pfeil ins Auge getroffen ist.
Das achte Bild zeigt einen Trinker, der von einer Frau bedient wird. Es symbolisiert den Lebensdurst (trsna; Tib.: sred-pa), das Begehren, das durch angenehme Empfindungen hervorgerufen wird. (Der Pfeil im Auge soll nicht die Annehmlichkeit, sondern nur die Stärke der Empfindung und vielleicht auch ihre schmerzhaften Folgen in der Zukunft andeuten, die denjenigen, der sich von ihr überwältigen lässt, erwarten.)
Aus dem Lebensdurst entsteht das Ergreifen und Haften (upadana; Tib.: len-pa) an den begehrten Objekten. Dies wird im neunten Bilde dargestellt durch einen Mann, der von einem Baum Früchte pflückt und in eine Kiepe sammelt.
Aus der Verhaftung entsteht neues Werden (bhava; Tib.: srid-pa), was durch die Vereinigung von Mann und Weib im zehnten Bilde veranschaulicht wird.
Das Werden führt zur Wiedergeburt (jati; Tib.: skye-ba) in einem neuen Leben. Das elfte Bild zeigt demgemäß ein gebärendes Weib. Der Tibeter, dessen Haltung gegenüber geschlechtlichen Dingen von entwaffnender Natürlichkeit und Sachlichkeit ist, scheut sich nicht, die Vorgänge des Zeugens und Gebärens unzweideutig und unverhüllt darzustellen. Er legt größeren Wert auf Lebensnähe als auf philosophische Abstraktionen. Dennoch gelingt es ihm in seiner Symbolik (des Sichtbaren sowohl wie der Worte) Nuancen des geistigen Erlebens mit erstaunlicher Feinheit und Präzision auszudrücken.
Seine Mystik ist nie lebensfremd, seine Philosophie nicht Ausdruck spekulativen Denkens, sondern Resultat praktischer Erfahrung. Aus der gleichen Haltung heraus bemüht er sich, auch dem einfachsten Geist religiöse Ideen zu veranschaulichen und durch Bild und Wort in den Bereich des konkreten Lebens einzubeziehen. Um allen Missdeutungen vorzubeugen, ist jedem der hier beschriebenen Symbolbilder eine kurze Inschrift beigegeben, wie „Affe: Bewusstsein“, „blindes Weib Nichtwissen. und dergleichen.
Das zwölfte Bild stellt einen Mann dar, der einen Toten (nach tibetischem Brauch in hockender Stellung in Tücher gewickelt) auf seinem Rücken zur Leichenstätte trägt und illustriert das letzte der zwölf Glieder der Formel des „abhängigen Entstehens. (pratstyasamutpdda), das da sagt, dass alles Geborenwerden zu Alter und Tod (Jara-marana, Tib.: rgas-si) führt.
Dank solcher bildlicher Darstellungen ist diese Formel, die zum ältesten Gedankengut des Buddhismus gehört, in Tibet volkstümlicher als in irgend einem anderen buddhistischen Lande.
Leseprobe aus dem Buch: „Grundlagen tibetischer Mystik“ von Lama Anagarika Govinda (S. 283 – 295)