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Carlos Castaneda - Die Kraft der StilleAuszug aus Carlos Castaneda – „Die Kraft der Stille

»Es gibt keine Stufen, und es gibt kein Streben. Das einzige, was zählt, ist die Bewegung des Montagepunkts.
Und diese erreicht man durch keine Methoden. Sie ist ein Effekt, der von selbst geschieht.«

Die Voraussetzungen der Absicht

Den Spiegel der Selbstbetrachtung zerbrechen

Gegen Mittag setzten wir unseren Weg in die Berge fort. Schweigend wanderten wir bis in den späten Nachmittag. Während wir einen mäßig steilen Bergkamm erklommen, fing Don Juan plötzlich an zu sprechen. Ich verstand nichts von dem, was er sagte. Er wiederholte seine Worte, bis ich begriff, dass er auf einem breiten Felsband Rast machen wollte. Wir konnten das Band von unten erkennen. Dort oben, meinte er, wären wir durch Felsbrocken und Büsche vor dem Wind geschützt.

»Welche Stelle auf dem Felsband, glaubst du, eignet sich am besten als Rastplatz für die Nacht«, fragte er.

Während des Aufstiegs hatte ich das kaum erkennbare Felsband von weitem erspäht. Es war ein dunkler Fleck an der Bergflanke, den ich mit flüchtigem Blick wahrgenommen hatte. Jetzt, als Don Juan mich fragte, entdeckte ich eine noch dunklere – beinah schwarze Stelle am südlichen Ende des Bandes. Das dunkle Felsband und die beinah schwarze Stelle weckten bei mir keinerlei Angst oder Besorgnis. Irgendwie war mir dieses Band sympathisch. Und noch sympathischer war mir diese dunkle Stelle.

»Diese Stelle ist sehr dunkel, aber sie gefällt mir«, sagte ich, als wir das Felsband erreicht hatten. Er stimmte zu, dies sei tatsächlich der beste Rastplatz, um eine Nacht im Freien zu verbringen. Es sei ein Ort mit besonderer Energie, sagte er. Und auch ihm gefiele diese schwarze Stelle.

Wir näherten uns einigen hochragenden Felsblöcken. Don Juan glättete einen Platz vor dem Felsen, und wir setzten uns, den Rücken gegen die Felsen gelehnt. Ich sagte zu Don Juan, dass ich mich freute, unseren Rastplatz aufs Geratewohl gefunden zu haben. Andererseits konnte ich nicht leugnen, dass ich ihn mit den Augen entdeckt hatte.

»Ich glaube nicht, dass du diesen Platz ausschließlich mit den Augen entdeckt hast«, sagte er. »Ich glaube, die Sache war komplizierter. «
»Was meinst du damit, Don Juan?« fragte ich.

»Ich meine, dass du Möglichkeiten der Wahrnehmung hast, die dir noch gar nicht bewusst sind«, antwortete er. »Weil du leichtsinnig bist, könntest du glauben, dass alles, was du wahrnimmst, gewöhnliche Sinneswahrnehmungen sind. «

Falls ich an seinen Worten zweifelte, sagte er, sollte ich zum Fuß des Berges absteigen und mich selbst überzeugen. Er prophezeite mir, ich würde das Felsband nicht erkennen, wenn ich nur einfach hinaufschaute.

Ich beteuerte, dass ich keinen Grund hätte, an seinen Worten zu zweifeln. Ich hatte keine Lust, noch einmal den ganzen Berg hinunterzustapfen. Doch er beharrte darauf, wir müssten noch einmal absteigen. Ich dachte, er wolle mich nur hänseln. Aber dann merkte ich, dass es ihm ernst sein könnte, und ich wurde nervös. Er kugelte sich vor Lachen.

Viele Tiere, sagte er, könnten Plätze mit einer besonderen Energie in ihrer Umwelt entdecken. Die meisten Tiere fürchteten solche Plätze und mieden sie. Mit Ausnahme der Berglöwen und Koyoten, die sich, wie Don Juan sagte, vorzugsweise an solchen Stellen zum Schlafen legten. Die Zauberer aber suchten bewusst solche Plätze auf – und zwar wegen ihrer Wirkung.

Ich fragte Don Juan, was dies für eine Wirkung sei. Er sagte, dass solche Plätze eine kräftigende Energie verströmen – in der Art unmerklicher Stromstöße. Auch der Durchschnittsmensch, falls er ein natürliches Leben führe, könne solche Plätze entdecken. Er mache sich deren Wirkung allerdings nicht bewusst; auch nicht die Tatsache, sie entdeckt zu haben.

»Woher weiß er denn, ob er solch einen Platz gefunden hat‘?« fragte ich.
»Er weiß es nicht!« antwortete Don Juan. »Ein Zauberer, der Menschen auf einer Wanderung beobachtet, kann feststellen, dass diese Menschen an einem Platz mit positiver Energie leicht ermüden und gerne dort rasten. Überqueren sie einen Ort mit schädlicher Energie, dann werden sie nervös und laufen schneller.

Fragt man sie anschließend, dann sagen sie, dass sie an diesem Ort schneller gelaufen sind, weil sie sich durch eine neue Energie gestärkt fühlten. Doch das Gegenteil ist der Fall. Energie gibt ihnen nur der Platz, wo sie sich müde fühlen.«

Die Zauberer, sagte er, könnten solche Plätze aufspüren, weil sie winzige Energiewellen aus der Umwelt mit ihrem Körper wahrnähmen. Weil die Zauberer sich nicht der Selbstbetrachtung hingäben, hätten sie mehr Energie – und darum auch ein größeres Spektrum der Sinneswahrnehmungen.

»Ich erkläre dir immer wieder, wie ein Zauberer – und auch ein Durchschnittsmensch – seine Beschäftigung mit dem eigenen Selbstbild einschränken sollte«, fuhr er fort. »Ein Nagual hilft seinen Lehrlingen, den Spiegel der Selbstbetrachtung zu zerbrechen.«

Jeder Lehrling, fügte er hinzu, sei aber ein besonderer Einzelfall; der Nagual müsse den Geist über die jeweiligen Bedingungen entscheiden lassen.

»Wir alle haben unterschiedlich starke Bindungen an unser Selbstbild«, fuhr er fort. »Und wir empfinden diese Bindungen als Mangel. Bevor ich den Weg des Wissens beschritt, war mein Leben nichts als Mangel. Und noch Jahre später, nachdem der Nagual Julian sich meiner angenommen hatte, empfand ich genauso viel Mangel – wenn nicht mehr.

Es gibt aber auch Menschen, sowohl Zauberer wie Durchschnittsmenschen, die nichts und niemanden brauchen. Sie beziehen Harmonie, Freude und Wissen direkt vom Geist. Sie brauchen keinen Vermittler. Wir beide sind anders. Ich bin dein Vermittler, und der Nagual Julian war meiner. Ein Vermittler bietet dem Schüler eine minimale Chance – nämlich das Bewusstsein der Absicht. Er hilft ihm auch, den Spiegel der Selbstbetrachtung zu zerbrechen.

Die einzige konkrete Hilfe, die ich dir wirklich leiste, ist, dass ich dein Selbstbild erschüttere. Täte ich dies nicht, dann würdest du mit mir deine Zeit verschwenden. Es ist die einzige Hilfe, die du je von mir erfahren hast. «

»Oh, Don Juan, du hast mich mehr gelehrt als sonst jemand.«
»Ich habe dich alles mögliche gelehrt, um deine Aufmerksamkeit zu fesseln«, sagte er. »Wahrscheinlich würdest du schwören, dass diese Lehren das Wichtigste waren. Sie waren es nicht. Das einzig Wichtige ist die Bewegung des Montagepunktes, wie die Zauberer glauben. Und du weißt, daß diese Bewegung durch gesteigerte Energie erreicht wird, und nicht durch irgendwelche Lehren. «

Und dann stellte er eine – wie ich fand – widersinnige Behauptung auf. Er sagte nämlich, dass jeder lernen könne, seinen Montagepunkt zu bewegen, wenn er nur eine einfache Kette von Handlungen einhalte.

Ich machte ihn auf seinen Widerspruch aufmerksam. Eine Handlungskette, sagte ich, bedeute für mich Unterweisung und Lehrmethode.
»In der Welt der Zauberer gibt es nur begriffliche Widersprüche«, antwortete er. »Die Praxis kennt keine Widersprüche. Die Handlungskette entsteht dadurch, dass wir uns unserer Handlungen bewusst werden.

Um sie uns bewusst zu machen, brauchen wir einen Nagual. Aus diesem Grund habe ich dir gesagt, dass der Nagual eine minimale Chance bereitstellen soll. Diese minimale Chance ist aber keine Unterweisung in dem Sinn, wie man Unterweisung braucht, um den Umgang mit einer Maschine zu lernen. Die minimale Chance besteht darin, dass wir uns den Geist bewusst machen. «

Und zwar müssten wir uns bewusst machen, sagte Don Juan, dass nur die Selbstüberschätzung unseren Montagepunkt an seinem Platz fixiere. Wenn wir unsere Selbstüberschätzung einschränkten, dann sparten wir die dafür erforderliche Energie. Und diese Energie könne uns als Sprungbrett dienen, um den Montagepunkt sofort und ohne Vorbereitung auf eine unvorstellbare Reise zu schicken.

Sobald der Montagepunkt sich bewegt habe, sagte Don Juan, bewirke diese Bewegung als solche bereits eine Abkehr von unserer Selbstbetrachtung, und dies wiederum gewähre uns eine klare Verbindung zum Geist. Immerhin sei der Mensch erst durch Selbstbetrachtung vom Geiste getrennt worden.

»Die Zauberei«, wiederholte Don Juan, »ist eine Reise ohne Wiederkehr. Wir steigen hinab in die Hölle und kehren siegreich zum Geist zurück. Wir bringen Trophäen mit aus der Hölle. Eine dieser Trophäen ist das Verstehen. «

Ich wandte ein, dass die Handlungskette, von der er gesprochen hatte, mir ganz unkompliziert erschienen sei, solange er sie mir erklärte. Bei meinem Versuch, sie in die Praxis umzusetzen, hätte ich sie aber mitnichten so leicht und unkompliziert gefunden.

»Die Handlungskette selbst ist einfach«, beharrte er. »Unser Problem ist, dass wir nicht akzeptieren wollen, wie leicht sie zu verwirklichen ist. Wir sind darauf gedrillt, an Lehrer, Führer und Meister zu glauben. Wenn jemand kommt und uns sagt, dass wir nichts dergleichen brauchen, dann wollen wir ihm nicht glauben. Wir werden nervös und misstrauisch, wir sind wütend und enttäuscht. Falls wir überhaupt Hilfe brauchen, so nicht in Form von Lehrmethoden, sondern in Form von Ermutigung. Wenn jemand uns bewusst macht, dass wir unsere Selbstüberschätzung aufgeben müssen, so ist dies eine echte Hilfe.

Die Zauberer sind davon überzeugt«, fuhr Don Juan fort, »dass wir niemanden brauchen, der uns erzählt, dass die Welt viel komplizierter ist als unsere wildesten Phantasien. Warum fühlen wir uns so abhängig? Warum sehnen wir uns nach einem Führer, wo wir doch selbst unser Ziel erreichen könnten? Na, große Frage!«

Don Juan schwieg. Anscheinend wollte er mir Zeit lassen, über die letzte Frage nachzudenken. Mich aber quälten andere Sorgen. Meine Rückbesinnung hatte einige meiner tiefsten Überzeugungen erschüttert. Und jetzt erwartete ich mir von Don Juan ein paar neue Definitionen. Endlich brach ich das Schweigen und erzählte ihm von meinen Befürchtungen.

Ich müsse es akzeptieren, sagte ich, dass man ganze Reihen von Ereignissen vergessen könnte, solange sie im Zustand gesteigerter Bewusstheit stattfänden. Dagegen glaubte ich, eine vollständige Erinnerung an alles zu haben, was ich – in meinem normalen Bewusstseinszustand – unter seiner Führung getan hatte. Dennoch hatte jenes Frühstück in Nogales in meiner Erinnerung nicht existiert, bevor ich mich zurückbesann. Dieses Ereignis hatte aber, davon war ich überzeugt, in der Welt meines Alltagslebens stattgefunden.

»Du vergißt eine wichtige Tatsache«, antwortete er. »Die Gegenwart des Nagual genügt, um den Montagepunkt zu bewegen. Weißt du, die Sache mit dem Nagualschlag – das habe ich nur dir zuliebe getan. Dieser Schlag zwischen die Schulterblätter ist nur ein Beruhigungsmittel für die Zweifler. Er soll helfen, die Zweifel zu beseitigen. Die Zauberer nutzen den physischen Kontakt, um dem Lehrling, der manipuliert werden soll, Vertrauen einzuflößen.«

»Aber wer bewegt den Montagepunkt, Don Juan?«
»Der Geist bewegt ihn«, antwortete er – in einem Ton, als sei er am Ende seiner Geduld. Dann lächelte er und schüttelte resigniert den Kopf.
»Ich kann es einfach nicht akzeptieren«, sagte ich. »Mein Kopf gehorcht der Regel von Ursache und Wirkung. «

Wieder bekam er einen seiner unerklärlichen Lachanfälle – unerklärlich aus meiner Sicht. Wahrscheinlich hatte mein ärgerliches Gesicht ihn belustigt. Er legte mir begütigend die Hand auf die Schulter.

»Verzeih«, sagte er. »Manchmal muss ich lachen, weil du so dumm bist. Die Antwort auf alle deine Fragen liegt direkt vor deiner Nase – und du siehst sie nicht. Vielleicht bist du wirklich zu dumm. «
Seine Augen funkelten mit so fröhlicher Bosheit, dass ich selbst lachen musste. »Ich erkläre dir immer wieder, dass es bei deiner Zauberei keine Methoden gibt«, fuhr er fort. »Es gibt keine Stufen, und es gibt kein Streben. Das einzige, was zählt, ist die Bewegung des Montagepunkts. Und diese erreicht man durch keine Methoden. Sie ist ein Effekt, der von selbst geschieht. «

Er legte mir die Hände auf beide Schultern und sah mir in die Augen. Ich hing aufmerksam an seinen Worten.
»Prüfen wir mal, ob du mich verstanden hast«, sagte er.

»Ich habe dir erklärt, dass der Montagepunkt sich von selbst bewegt. Aber ich habe dir auch erklärt, dass nur die Gegenwart des Nagual den Montagepunkt eines Lehrlings bewegen kann. Und dass diese Bewegung abhängig ist von der Art und Weise, wie der Nagual seine Rücksichtslosigkeit maskiert. Wie würdest du diesen Widerspruch auflösen?«

Ich musste ihm gestehen, dass mir dieser Widerspruch schon selbst aufgefallen war. Ich könne ihn aber nicht lösen, denn ich sei kein Praktiker der Zauberei.
»Was bist du sonst?« fragte er.
»Ich bin ein Anthropologe, der herausfinden will, was die Zauberer tun«, sagte ich.
Diese Antwort war nicht ganz korrekt – aber sie war nicht gelogen.
Don Juan lachte schallend. »Dafür ist es zu spät«, sagte er. »Dein Montagepunkt hat sich bewegt. Und genau diese Bewegung ist es, die dich zum Zauberer macht. «

Dann kam Don Juan auf jenen Widerspruch zurück und meinte, es handele sich eigentlich um zwei Seiten ein und derselben Medaille. Wohl könne der Nagual den Montagepunkt in Bewegung bringen, indem er mithelfe, den Spiegel der Selbstbetrachtung zu zerbrechen. Mehr aber könne der Nagual nicht tun. Der tatsächliche Beweger des Montagepunkts sei der Geist – das Abstrakte. Also etwas, was wir nicht sehen noch fühlen können. Etwas, das nicht zu existieren scheint – und doch existiert es. Darum behaupteten die Zauberer, dass der Montagepunkt sich von selbst bewege. Oder sie behaupteten, dass der Nagual ihn bewege. Denn der Nagual, als Vermittler des Abstrakten, könne durch seine Taten dieses Abstrakte verwirklichen.

Ich schaute Don Juan fragend an.

»Ja, der Nagual bewegt den Montagepunkt«, sagte er. »Und doch ist es nicht er selbst, der die Bewegung vollbringt. Vielleicht sollten wir sagen- Der Geist verwirklicht sich in Übereinstimmung mit der Makellosigkeit des Nagual. Durch die bloße Gegenwart eines makellosen Nagual bewegt der Geist den Montagepunkt.«

Diesen Sachverhalt, sagte Don Juan, habe er mir mit aller Deutlichkeit erklären müssen. Ein Missverständnis hierin könne den Nagual zur Selbstüberschätzung verleiten – und damit zum Untergang.

Don Juan wechselte das Thema. Weil der Geist keine fühlbare Substanz habe, so sagte er, interessierten die Zauberer sich lieber für Mittel und Wege, den Spiegel der Selbstbetrachtung zu zerbrechen.

In diesem Zusammenhang müsse man auch über die Art und Weise sprechen, wie die verschiedenen Naguals ihre Rücksichtslosigkeit maskierten. Eine Maske der Großzügigkeit, meinte er, eigne sich zum Beispiel für den oberflächlichen Umgang mit Menschen. Sie sei aber nutzlos, sobald man dem anderen helfen wolle, sein Selbstbild zu erschüttern. Denn durch gespielte Großzügigkeit fordere man dem anderen unmögliche Entscheidungen ab. Ich zum Beispiel, sagte er, forderte von den Menschen, ohne Vorbereitung in die Welt der Zauberer zu springen.

»Eine Entscheidung wie dieser Sprung muss vorbereitet werden«, sagte er. »Für eine solche Vorbereitung ist jede Maske geeignet, mit der ein Nagual seine Rücksichtslosigkeit tarnt – jede, außer der Maske der Großzügigkeit. «

Vielleicht deshalb, weil ich wahnsinnig gerne großzügig gewesen wäre, bereiteten Don Juans Bemerkungen über mein Verhalten mir schreckliche Schuldgefühle. Er versicherte aber, ich hätte keinen Grund, mich zu schämen. Der einzige Nachteil gespielter Großzügigkeit sei, dass sie keine positiven Täuschungen bewirke.

Don Juan erklärte, dass ich in vieler Hinsicht seinem Wohltäter ähnelte. Aber meine Maske der Großzügigkeit sei zu plump, um einen guten Lehrer aus mir zu machen. Eine Maske der Besonnenheit, wie seine eigene, sei eher geeignet, eine für die Bewegung des Montagepunkts förderliche Atmosphäre zu schaffen. Don Juans Schüler, so sagte er, glaubten absolut an seine Besonnenheit. Er könne sie durch positive Tricks zu jeder Anstrengung motivieren.

»Dein Erlebnis, damals in Guaymas, ist ein Beispiel für die Art, wie die maskierte Rücksichtslosigkeit eines Nagual das Selbstbild des Schülers erschüttern kann«, fuhr er fort. »Meine Maske wurde dir zum Verhängnis. Wie alle, die mit mir zu tun haben, hast du an meine Vernunft geglaubt. Und du hast dich auf die Kontinuität meiner Vernunft verlassen.

Aber als ich dir nicht nur die Senilität eines schwachen Greises vorspielte, sondern selbst dieser Greis war, versuchte dein Verstand mit allen Mitteln, sowohl meine Kontinuität als auch dein Spiegelbild wieder herzustellen. Darum dachtest du, ich hätte einen Schlaganfall erlitten.

Aber als du nicht mehr an die Kontinuität meiner Vernunft glauben konntest, begann dein Spiegel der Selbstbetrachtung zu zerbrechen. Von da an war die Verschiebung deines Montagepunkts nur noch eine Frage der Zeit. Das einzige Problem war, ob er den Platz ohne Erbarmen erreichen würde. «

Vielleicht glaubte Don Juan, ich sei skeptisch geblieben. Denn er erklärte mir ausführlich, dass die Welt unserer Selbstbetrachtung, also unseres Verstandes – sehr brüchig sei, zusammengehalten nur durch einige Ideen, die ihre grundlegende Ordnung bildeten. Wenn diese Ideen versagten, meinte Don Juan, funktioniere auch die grundlegende Ordnung nicht mehr.

»Welche Ideen sind das, Don Juan?« fragte ich.
»In deinem Fall, wie auch im Falle der Zuschauer jener Trance-Heilerin, von der wir sprachen, war Kontinuität die Schlüssel-Idee«, antwortete er.

»Und was ist Kontinuität?«
»Die Vorstellung, als wären wir Menschen massiv, wie aus einem Guß«, sagte er. »Was die Welt für unseren Verstand zusammenhält, ist die Gewißheit, wir seien unveränderlich. Wir können wohl akzeptieren, dass unser Verhalten sich ändern kann, dass unsere Reaktionen und unsere Überzeugungen sich ändern können. Aber die Vorstellung, wir wären formbar genug, um unsere äußere Erscheinung zu ändern – sogar ein anderer Mensch zu werden -, ist unvereinbar mit der grundlegenden Ordnung unseres Selbstbildes. Sobald ein Zauberer diese Ordnung stört, kommt die Welt der Vernunft zum Stillstand. «

Mir lag die Frage auf der Zunge, ob ein Zauberer nur die Kontinuität unterbrechen müsse, um seinen Montagepunkt zu bewegen. Don Juan schien meine Frage zu erraten. Das Unterbrechen der Kontinuität sei nur ein Hilfsmittel, sagte er. Was den Montagepunkt eigentlich bewege, sei die Rücksichtslosigkeit des Nagual.

Er verglich seine Handlungsweise an jenem Nachmittag in Guaymas mit der Handlungsweise der Heilerin, über die wir gesprochen hatten. Diese Heilerin, sagte er, habe das Selbstbild ihrer Zuschauer durch eine Reihe von Taten erschüttert, für die es im Leben dieser Menschen kein Beispiel gab: die aufregende Besessenheit vom Geist, die veränderte Stimme, die Öffnung der Leibeshöhle des Patienten. Kaum war die Kontinuität des Selbstbildes dieser Menschen unterbrochen, da waren auch ihre Montagepunkte bereit, sich zu bewegen.

Don Juan rief mir ins Gedächtnis, wie er mir früher einmal die Idee eines »Anhaltens der Welt« erklärt habe. Das Anhalten der Welt sagte er, sei für den Zauberer so bedeutsam wie Lesen und schreiben für mich. Der Zauberer könne die Welt anhalten, indem er ein widersprüchliches Element in die Struktur der alltäglichen Verhaltensweisen einführte, um den glatten Ablauf der alltäglichen Vorgänge zu unterbrechen – Vorgänge, die wir mit dem Verstand zu registrieren pflegten.

Dieses widersprüchliche Element sagte Don Juan, sei das »Nicht Tun« – oder das Gegenteil von Tun. Als »Tun« bezeichnete er jeden kognitiv erklärbaren Bestandteil eines Ganzen. Nicht-Tun war also das Element, das nicht in dieses verstandesmäßig registrierte Ganze hineinpasste.

»Als Pirscher verstehen die Zauberer das menschliche Verhalt bis in die tiefsten Verästelungen«, sagte er. »Zum Beispiel wissen sie, dass der Mensch immer auf ein geistiges Inventar angewies ist. Die Kenntnis der Zu- und Abgänge bei einem bestimmten Inventar – das ist’s, was einen Menschen zum Schüler oder zum Meister in seinem Fach macht.

Wenn das Inventar eines Durchschnittsmenschen zusammenbricht, erweitert er einfach sein Inventar, sonst bliebe die Welt seiner Selbstbetrachtung bestehen. Der Durchschnittsmensch ist zwar bereit, neue Artikel in sein Inventar aufzunehmen, solange sie nicht die grundlegende Ordnung des Inventars stören. Wenn aber die neuen Artikel diese Ordnung stören, versagt das Denken des Durchschnittsmenschen. Denn das Inventar – das ist das Denken. Auf diese Tatsache zählen die Zauberer, wenn sie den Spiegel der Selbstbetrachtung zerbrechen. «

Damals in Guaymas, sagte er, habe er alle Akte des kleinen Dramas, mit dem er meine Kontinuität unterbrach, sorgfältig geplant. Er habe sich allmählich verwandelt, bis er ein gebrechlicher Greis war. Dann habe er mich, um den Bruch meiner Kontinuität zu vertiefen, in ein Lokal geführt, wo man ihn als alten Mann kannte.

Ich fiel Don Juan ins Wort, weil mir ein Widerspruch aufgefallen war. Er hatte mir erzählt, dass er sich damals verwandelt habe, weil er wissen wollte, wie es denn sei, alt zu sein. Die Gelegenheit dazu sei einmalig günstig gewesen. Ich hatte ihn so verstanden, als sei er nie vorher ein alter Mann gewesen. Und doch kannte man ihn in diesem Lokal als gebrechlichen Greis, der an Schlaganfällen litt.

»Oh, die Rücksichtslosigkeit eines Nagual ist vielseitig. Sie ist wie ein Allzweck-Werkzeug. Die Rücksichtslosigkeit ist ein Daseinszustand des Nagual. Sie ist die Stufe der Absicht, die er erreicht hat.

Der Nagual benutzt seine Rücksichtslosigkeit, um seinen Montagepunkt oder den seiner Lehrlinge zu bewegen. Oder er benutzt sie zum Pirschen. Damals in Guaymas fing ich als Pirscher an. Ich tat so, als sei ich alt, und schließlich war ich tatsächlich ein schwacher Greis. Meine Rücksichtslosigkeit, die ich mit meinen Augen kontrollierte, setzte meinen Montagepunkt in Bewegung.
Ich war schon früher als kränklicher Greis in diesem Lokal gewesen. Aber ich pirschte nur und tat so, als sei ich alt. Niemals hatte mein Montagepunkt, wie an diesem Tag, die exakte Position von Alter und Senilität erreicht. «

Als Don Juan beabsichtigte, ein Greis zu sein, so erklärte er mir, hätten seine Augen ihr Leuchten verloren – was mir denn auch gleich aufgefallen sei. Ich hätte meine Unruhe nicht verbergen können. Warum hatten seine Augen ihr Leuchten verloren? fragte ich. Und er antwortete, dass sie aufhörten zu leuchten, weil er mit den Augen die Position eines Greises beabsichtigte. Und nachdem sein Montagepunkt diese Position erreichte, sei es ihm möglich gewesen, in seiner Erscheinung, in seinem Verhalten und in seinen Gefühlen ein Greis zu sein.

Ich fragte ihn, wie ich mir dieses Beabsichtigen mit den Augen vorstellen sollte? Ich glaubte es irgendwie zu verstehen, und trotzdem konnte ich mein Wissen nicht in Worte fassen – nicht einmal für mich selbst.
»Man kann es nicht mit Worten ausdrücken«, sagte er. »Allenfalls könnte man sagen, dass die Absicht mit den Augen beabsichtigt wird. Ich weiß, dass es sich so verhält. Und doch kann ich mein Wissen nicht formulieren – ebenso wenig wie du. Die Zauberer akzeptieren diese Schwierigkeit, denn sie wissen, der Mensch ist unendlich viel komplizierter und geheimnisvoller als unsere mächtigsten Phantasien. «

Ich klagte, seine Erklärung habe mich nicht überzeugt. »Die Augen bewirken es, mehr kann ich nicht sagen«, erwiderte er ungehalten. »Ich weiß nicht, wie sie es machen, aber sie machen es. Sie winken die Absicht herbei – durch etwas Undefinierbares, etwas in ihrem Leuchten. Die Zauberer wissen, dass wir die Absicht mit den Augen erleben, und nicht mit dem Verstand. «

Er wollte nicht weiter über dieses Thema sprechen. Statt dessen kam er noch einmal auf meine Erinnerung an jenen Tag in Guaymas zurück. Nachdem sein Montagepunkt in jene Position eingerückt war, die ihn tatsächlich zum Greise machte, hätten alle meine Zweifel beseitigt sein müssen, sagte er. Aber ich, stolz auf meine Rationalität, hätte versucht, seine Verwandlung real zu erklären.

»Ich habe dir oft gesagt, dass die Rationalität uns behindern kann«, sagte er. »Wir Menschen haben ein stark ausgeprägtes Gefühl für Magie. Denn wir sind Teil dieses Mysteriums. Die Rationalität ist nur äußerlicher Firnis. Kratzen wir an dieser Oberfläche, kommt ein Zauberer zum Vorschein. Manchen Menschen fällt es aber sehr schwer, unter die Oberfläche einzudringen. Andere tun es ganz leicht. Wir beide sind uns in dieser Hinsicht ähnlich. Wir schwitzen Blut und Wasser, bis wir unser Selbstbild aufgeben können.«

Ich protestierte und sagte, mein Festhalten an der Rationalität sei für mich stets eine Überlebensfrage gewesen. Vor allem hinsichtlich meiner Erfahrungen in seiner Welt der Zauberer.

Meine Rationalität, sagte er, sei damals in Guaymas sehr anstrengend für ihn gewesen. Er habe alle Mittel einsetzen müssen, um sie zu erschüttern. Zum Beispiel, als er mich an den Schultern packte und sich mit seinem ganzen Gewicht an mich hängte. Dieser plumpe physische Trick habe meinem Körper einen ersten Schock versetzt. Dieser Schock und meine – durch die Unterbrechung seiner Kontinuität ausgelöste – Angst hätten damals das gewünschte Ziel erreicht und meine Rationalität untergraben.

»Aber ich durfte mich nicht damit begnügen, deine Rationalität zu untergraben«, fuhr Don Juan fort. »Damit dein Montagepunkt zum Platz ohne Erbarmen vorstoßen konnte, musste ich auch den letzten Rest meiner Kontinuität unterbrechen. Dies war der Moment, als ich wirklich senil wurde, als ich mit dir durch die Stadt lief und dich schließlich empört ohrfeigte.

Du warst schockiert, aber du erholtest dich schon wieder – als ich deinem Spiegel der Selbstbetrachtung den, wie ich glaubte, letzten Schlag versetzte. Nämlich, als ich zeternd um Hilfe schrie. Aber ich hatte nicht erwartet, dass du fortlaufen würdest. Ich rechnete nicht mit deiner Neigung zu gewalttätigen Ausbrüchen. «

Und er erklärte mir, dass mein Montagepunkt – trotz meiner Taktik sofortiger Erholung – tatsächlich den Platz ohne Erbarmen erreichte, als ich auf sein seniles Verhalten wütend wurde. Oder vielleicht sei ich wütend geworden, weil mein Montagepunkt den Platz ohne Erbarmen erreicht hatte. Die Reihenfolge sei unwichtig, sagte er. Das einzig Wichtige sei, dass mein Montagepunkt den Platz ohne Erbarmen tatsächlich erreichte.

Gleich darauf habe mein Verhalten sich merklich verändert. Ich sei kalt und berechnend geworden; und gleichgültig gegen meine persönliche Sicherheit.

Ich fragte Don Juan, ob er all dies gesehen habe. Ich erinnerte mich nicht daran, es ihm erzählt zu haben. Aber er meinte, er brauche sich nur an seine eigenen Erlebnisse zu erinnern, um zu wissen, was ich empfunden hatte.

Und Don Juan erklärte, dass mein Montagepunkt in seiner neuen Lage fixiert worden sei, nachdem er – Don Juan – wieder er selbst war. Mein Glaube an Don Juans Kontinuität sei bereits so erschüttert gewesen, dass Kontinuität für mich keine bindende Kraft mehr hatte. Und jetzt habe mein Montagepunkt – in seiner neuen Position – mir erlaubt, eine andere Art der Kontinuität herzustellen, die sich bei mir als seltsame, gleichgültige Härte äußerte. Eine Härte, die seit damals ein normales Merkmal meines Verhaltens geworden sei.

»Kontinuität spielt in unserem Leben eine so wichtige Rolle, dass wir die Tendenz haben, sie sofort wiederherzustellen, falls sie einmal unterbrochen ist«, fuhr er fort. »Für einen Zauberer ist Kontinuität nie mehr dieselbe, sobald sein Montagepunkt den Platz ohne Erbarmen erreicht hat.

Weil du schwerfällig bist«, sagte Don Juan zu mir, »ist dir noch nicht aufgefallen, dass du seit jenem Tag in Guaymas jegliche Art von Diskontinuität zu akzeptieren vermagst – natürlich erst nach einem scheinbaren Rückzugsgefecht deiner Rationalität.«

Seine Augen leuchteten vor Lachen.

»An diesem Tag hast du die Maske für deine Rücksichtslosigkeit erworben«, fuhr er fort. »Deine Maske war natürlich nicht so weit entwickelt, wie sie es heute ist. Aber damals fing etwas an, was mittlerweile deine Maske der Großzügigkeit geworden ist.«

Ich protestierte. Die Vorstellung einer maskierten Rücksichtslosigkeit gefiel mir gar nicht – egal, wie er die Sache auslegte.

»Verschwende deine Maske nicht an mich«, sagte er lachend.

»Spare sie dir für eine bessere Zielscheibe – für jemand, der dich nicht so gut kennt. «

Er verlangte, ich solle mich genau auf den Augenblick besinnen, als diese neue Maske entstand.
»Als die kalte Wut dich überfiel«, fuhr er fort, »hattest du das Bedürfnis, sie zu maskieren. Aber was machtest du? Du machtest keine Späße über deine Wut, wie mein Wohltäter es getan hätte. Du diskutiertest nicht vernünftig darüber, wie ich es getan hätte. Du gabst dir nicht den Anschein, als wärst du von deiner Wut fasziniert, wie der Nagual Elias es getan hätte. Das sind die drei Nagual-Masken, die ich kenne. Was machtest du also? Du gingst ruhig zu deinem Auto und verschenktest – großzügig – die Hälfte deiner Pakete an den Kerl, der sie dir tragen half.«

Bis zu diesem Augenblick hatte ich mich gar nicht daran erinnert, dass jemand mir die Pakete zum Wagen tragen half! Ich erzählte Don Juan, damals hätte ich Lichter vor meinen Augen tanzen sehen und geglaubt, dies sei ein Zeichen dafür, dass ich nahe daran war, vor Wut in Ohnmacht zu fallen.

»Du warst nicht nah daran, in Ohnmacht zu fallen«, sagte Don Juan. »Du warst nah daran, in einen Traumzustand zu geraten und aus eigener Kraft den Geist zu sehen – genau wie Talia und mein Wohltäter.« Ich beteuerte Don Juan, ich hätte die Päckchen nicht aus Großzügigkeit verschenkt, sondern aus kalter Wut. Ich hätte irgend etwas tun müssen, um mich zu beruhigen. Und dies sei mir als Erstbestes eingefallen.

»Da haben wir’s, wie ich dir sage: Deine Großzügigkeit ist nicht echt«, antwortete er – und lachte über mein verblüfftes Gesicht.

Die Kraft der Stille, Neue Lehren des Don Juan, Carlos Castaneda, S. 153 – 166


Carlos Castaneda – Das Feuer von innen

Carlos Castaneda – Das Wirken der Unendlichkeit

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